Kapitel 2
Sylt, Anfang August
Fenja Gregorius schüttete den feinen Nordseesand aus dem Eimer auf die Ablage innen vor dem Schaufenster, ebnete per Hand die Fläche und formte den Sand zu kleinen Hügeln und Tälern. Darauf verteilte sie ihre Funde, die sie am Strand gesammelt hatte: Muscheln, angeschwemmte Hölzer und Schneckengehäuse. Zuletzt blickte sie zufrieden auf ihr Werk. Dafür, dass sie keine professionelle Dekorateurin war, fand sie, hatte sie es gut gemacht. Allerdings tat ihr Rücken schon wieder höllisch weh. Sie reckte und streckte sich, spannte und entspannte ihre Muskeln, beugte sich nach vorn und versuchte, ihre Zehenspitzen zu erreichen. Doch das war einmal; obwohl sie schlank war und sportlich wirkte, war ihr vierzigjähriger Körper hoffnungslos außer Form. Seit mindestens zehn Jahren hatte sie keinen Sport mehr gemacht, höchstens hin und wieder ein paar halbherzige Turnübungen. Das musste sich rächen, wie ihr erneut bewusst geworden war, als sie vier Eimer mit Sand gefüllt – heimlich, spätabends, an einem stillen Fleckchen des Strandes, denn dass man Sand wegkarrte, wurde auf Sylt nicht gern gesehen – und ihn mittels eines Plattformwagens bis zu ihrer Galerie gekarrt hatte.
Harald war ja wieder anderweitig beschäftigt gewesen!
Nun mussten noch die Bilder einigermaßen gefällig auf und über dem Sand drapiert werden, aber da hatte sie noch keine rechte Vorstellung, wie sie das machen sollte. Seit sie sich keinen professionellen Schauwerbegestalter mehr leisten konnten, mussten sie selbst die beiden Schaufenster ihrer Galerie in Westerland dekorieren. Was zugegebenermaßen schwierig war. Schließlich sollten sich die im Fenster aufgehängten Bilder ja nicht wie ein Mobile drehen, wenn ein Kunde reinkam und ein Windhauch sie traf. Nicht, dass sie noch viele Kunden gehabt hätten!
Sie lauschte hinüber zu ihrem kleinen Büro hinter dem Geschäftsraum, wo Harald noch immer mit dem Rechtsanwalt telefonierte. Dass das Gespräch so lange dauerte, gab ihr ein wenig Hoffnung.
Als sie den nächsten Eimer Sand vor dem zweiten Schaufenster ausschüttete, wurde sie von einer Kundin unterbrochen. Mittelalt, die schlaffe Haut am Dekolleté dunkelbraun gebrannt und mit Goldschmuck behangen. Eine Touristin kurz vor der Abfahrt, die ein billiges, aber wertig aussehendes Mitbringsel für die Putzfrau oder die Katzenbetreuerin suchte, überlegte Fenja, die sich gern einen Spaß daraus machte, ihre Kundschaft einzuschätzen.
Auch diesmal lag sie richtig. Die Dame kaufte zielstrebig eine Holzmöwe für 7,99 Euro und wollte sie als Geschenk eingepackt haben. Mit zusammengebissenen Zähnen machte sich Fenja, nachdem die Kundin den Laden verlassen hatte, wieder an die Arbeit, verteilte den Sand, Steine, Muscheln und, angeregt durch den Kauf der Kundin, auch noch ein paar Holzmöwen in dem dünenähnlichen Gebilde. Dabei wurde ihr warm, und Fenja schob eine hartnäckige Haarlocke, die ihr immer wieder ins Gesicht fiel, aus der verschwitzten Stirn.
Als Harald endlich aus dem Büro kam, bat sie ihn, die Ladentüre zu öffnen. »Hier kommt man ja um vor Hitze!« Sie warf ihrem Lebensgefährten einen unwirschen Blick zu. »Und könntest du mir dann netterweise mit dem Schaufenster helfen, wenn du mal deine Telefonate erledigt hast? «
»Ich habe mit unserem Anwalt gesprochen! Interessiert dich gar nicht, was er gesagt hat?« Haralds Hilfestellung sah so aus, dass er unbeholfen eine hölzerne, ziemlich kitschige Badenixe ins Schaufenster setzen wollte, doch Fenja nahm sie ihm aus der Hand.
»Natürlich interessiert mich das!«, fuhr sie ihn an. »Lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen!«
»Der Anwalt sagt, wir haben im Grunde nur eine Möglichkeit: Wir könnten Frau Landsberg einen Zahlungsausgleich anbieten. Dafür gibt sie ihren Anspruch auf lebenslanges Wohnrecht auf, und wir verkaufen das Haus in Hörnum.«
»Und wie hoch soll dieser Zahlungsausgleich sein?«
»Zwanzigtausend Euro, schlägt er vor. Eventuell hochgehen auf fünfzigtausend.«
»Das ist doch der Wahnsinn!«, rief Fenja entsetzt. »Wo sollen wir denn zwanzigtausend Euro hernehmen?«
»Liebes, denk doch mal nach! Sie bekommt das Geld natürlich erst, wenn das Haus verkauft ist. Und das ist ganz schön was wert. Wir sollten es wirklich mal schätzen lassen. Kürzlich wurde ein Haus in der Nachbarschaft für 1,4 Millionen verkauft.«
»Das weiß ich auch«, schnauzte Fenja. »Aber was ist, wenn sie nicht mitmacht?«
»Wir müssen eben dafür sorgen, dass sie mitmacht! – Mir ist aber noch was eingefallen.« Harald kratzte sich an seinem immer kahler werdenden Schädel, der übersät war mit braunen Sonnenflecken. »Wir könnten ihr weismachen, dass sie kein Recht hat, eine Untermieterin bei sich aufzunehmen. Sie will ja wohl mit ihrer Schwester zusammenziehen. Wenn man ihr versichert, dass das rechtlich nicht möglich ist, wird sie wohl kaum zum Rechtsanwalt gehen. Du sagtest doch, sie ist nicht gerade wohlhabend?«
Fenja zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, was Vater ihr vor seinem Tod alles vermacht oder geschenkt hat. Er besaß ja einige Goldbarren, davon sind, meine ich, etliche nicht mehr da. Aber vielleicht hast du recht … sie ist eine alte Frau, und geistig vielleicht nicht mehr ganz auf der Höhe. Man könnte es immerhin versuchen. Am besten mit einem Schreiben des Anwalts.«
Harald starrte sie an. »Du verstehst es nicht … Wir haben leider einen seriösen Anwalt, der vermittelt auch gegnerischen Mandanten keine Unwahrheiten! Nein, das müssen wir schon selbst machen. Wir …«
Fenja baute sich vor ihm auf. »Du kriegst aber auch gar nichts auf die Reihe! Wieso findest du keinen Anwalt, der genau das schreibt, was wir wollen und was in unserem Interesse ist? Wenn wir das Schreiben selbst verfassen, wirkt das einfach nur dilettantisch. Da lachen ja die Hühner! Ich glaube wirklich …«
»Fenja«, flüsterte Harald Russo und deutete in Richtung Ladentür, »wir haben Kundschaft!«
Er verschwand eilig wieder im Büro, denn für die Bedienung der Kunden war Fenja zuständig.
Fenja war rot geworden, sie hoffte, dass die neuen Kunden, ein erholt aussehendes Paar in gepflegter Freizeitkleidung, nichts von ihrem Streit mitbekommen hatten. Sie schätzte, dass auch sie kurz vor der Heimreise standen, die Kinder hatten sie irgendwo geparkt und suchten nun nach einem hochwertigen Souvenir, das die maritime Atmosphäre von Sylt in ihr Heim bringen würde. Mit einer Holzmöwe würde sich dieses Paar sicherlich nicht zufriedengeben.
Hoffnung keimte in ihr auf.
Die beiden sahen sich im Laden um. Die junge Frau, eine attraktive Dunkelblonde mit goldenen Strähnchen, die echt aussahen, schien sich für die große, blau-grüne Murano-Vase zu interessieren, die nicht ganz billig war; der Mann hingegen ging zielgerichtet auf das Ölbild eines dänischen Malers zu und betrachtete es aus verschiedenen Perspektiven. Beide schienen ernsthaft interessiert zu sein. Wäre schön, dachte Fenja sehnsüchtig, wenn wir tatsächlich mal wieder eine größere Summe in die Kasse bekämen. Sie trat auf den Kunden zu und begann, über das Bild zu reden.
»Es soll ein Geschenk für meinen Vater sein«, sagte der Mann und lächelte sie freundlich an. Fenja registrierte seine große Charakternase, die leuchtend blauen Augen, deren Farbe von seiner Bräune noch unterstrichen wurde, die lässige Haltung. Flüchtig dachte sie daran, wie sehr Harald sich vernachlässigt hatte, seitdem sie zusammen waren. Fett war er geworden. Warum hatte sie nie Glück mit Männern? Die junge Frau kam hinzu, auch sie gut gekleidet in Jeans und einer bunten Bluse, die nur vorne lässig in den Bund gesteckt war.
»Glaubst du, es würde ihm gefallen?«, fragte der Typ und strich seiner Frau oder Freundin über den Rücken.
»Dein Vater liebt Gewitterstimmungen über dem Meer, dazu die dunkle Steilküste mit der kleinen Kirche im Hintergrund – ich finde es schön. Eine leere Landschaft mit beeindruckender Natur.«
»Wir nehmen es«, sagte der Mann, und Fenja traute ihren Ohren kaum. Solch ein kurzes, erfolgreiches Verkaufsgespräch hatte sie lange nicht mehr gehabt. Männer waren oft unkompliziert, im Gegensatz zu Frauen … sie fackelten nicht lange, wenn sie sich erst mal entschieden hatten.
Die junge Frau ging noch einmal zu der Murano-Vase mit den aquarellartigen Farben und berührte vorsichtig, fast zärtlich die glatte, glänzende Oberfläche. Doch mit über dreihundert Euro war sie nicht gerade billig, und Fenja wunderte es daher nicht, dass das Paar die Galerie nur mit dem Ölbild verließ. Aber immerhin! Sie hatte heute Vormittag schon mehr eingenommen als an so manchen Tagen zuvor .
Beschwingt ging sie wieder an die Arbeit, als Harald wie ein Schachtelmännchen aus dem Büro auftauchte, diesmal mit einem DIN-A4-Blatt in der Hand. Er hielt es ihr unter die Nase. »Lies!«
Es war ein Schreiben an Hannah Landsberg. Fenja überflog den Entwurf. Immer noch war sie der Meinung, dass das Schreiben eines Rechtsanwaltes mehr hermachen und überzeugender wirken würde. Sie begannen wieder zu streiten, als der Mann von eben den Laden erneut betrat, diesmal ohne seine Frau. Er kaufte ohne Zögern die Murano-Vase. Fenja konnte ihr Glück kaum fassen.
»Könnten Sie die Vase vielleicht für ein, zwei Tage bei sich im Laden behalten?«, fragte der Mann freundlich. »Es soll eine Überraschung sein. Ich hole sie morgen oder übermorgen ab.« Er reichte ihr eine Visitenkarte.
Fenja erwiderte das Lächeln, das ihr irgendwie ans Herz ging. Insgeheim dachte sie, dass Harald nie im Leben auf die Idee gekommen wäre, sie auf diese Weise zu überraschen. Das höchste der Gefühle war, dass er ihr einen Gutschein schenkte, der allerdings selten mehr als fünfzig Euro betrug. Manche Leute hatten einfach Glück mit ihren Männern.
Diesmal bezahlte der Mann mit Karte. Sie packte die Vase sorgfältig in Luftpolsterfolie und in einen Karton. Später wollte sie sie im Büro unterbringen.
»Benthien«, sagte sie nachdenklich zu ihrem Lebensgefährten, als sie die Visitenkarte des Kunden betrachtete. »Aus Flensburg. Kommt dir der Name nicht bekannt vor? Von irgendwoher kenne ich ihn …«
»Sicher wieder so ein Promi«, sagte Harald gelangweilt. »Was hältst du von meinem Brief? Klingt der glaubwürdig oder nicht?«
»Mir wäre es lieber, ein Rechtsanwalt würde dahinterstehen«, wiederholte Fenja unzufrieden. »Die Landsberg ist alt, aber nicht blöd. Es sei denn, sie hätte sich in den letzten Jahren sehr verändert, ich habe sie ja ewig nicht gesehen.«
»Du mochtest sie nie«, sagte ihr Lebensgefährte. »Warum eigentlich nicht?«
»Das weißt du doch – sie ist schuld am Tod meiner Mutter!«