Kapitel 25
Mittwochmittag
Da sie Hunger hatten, fuhren sie zum Hörnumer Hafen, kauften sich Fischbrötchen und setzten sich an den Strand, wo einige Tische und Bänke aufgestellt waren. Obwohl es bereits September war, ging es hier immer noch quirlig zu, Ausflugsschiffe kamen an und fuhren ab, Menschen drängelten ungeduldig, um auf den Schiffen einen möglichst guten Platz zu bekommen, Rundfahrtbusse warteten auf Neuankömmlinge, ein Leierkastenmann spielte Lieder von Hans Albers, und Möwen trippelten zwischen den vielen Beinen einher und versuchten, so viele Häppchen wie möglich zu ergattern.
Benthien musste eine niedliche junge Lachmöwe verscheuchen, die offenbar dachte, seine vom Brötchen auf den Teller gefallenen Krabben seien extra für sie gedacht. Enttäuscht flog sie davon.
»Jetzt erzählt mal«, forderte Benthien Mikke und Leon auf, nachdem sie ihre Brötchen verzehrt hatten, »was weiß Doro Jannsen denn so alles?«
»Sie ist eine wirklich liebe Frau«, schwärmte Mikke, »erinnert mich ein bisschen an meine Oma. Ein Mensch, der nur Gutes über andere sagt und denkt. Solche Menschen müsste es viel mehr geben.«
»Fakten, Mikke!«, drängte Fitzen.
»Sie ist seit Sonntag auf Sylt, wohnt in einer Pension, zurückgekommen aus Namibia ist sie letzten Dienstag, also vier Tage vor Brigitte Wilkens’ Ermordung.« Leon ergriff mal wieder die Gelegenheit, sich als eifriger und kompetenter Mitarbeiter in Szene zu setzen. »Sie war insgesamt nur vier Wochen bei ihren Kindern statt der geplanten sechs Monate. Wieso? Da druckste sie ein bisschen herum, meinte, im Haus wäre es doch sehr beengt gewesen, die Eltern ließen der kleinen Enkelin ziemlich viel durchgehen, statt ihr auch mal Grenzen zu setzen, ihre Tochter wäre sehr nervös gewesen, und sie hätte den Eindruck gehabt, auf die Dauer doch zu stören.«
»Es gab also Knatsch«, fasste Fitzen zusammen und angelte eine Krabbe von Benthiens Teller.
»Ja, aber ich hatte den Eindruck, da war noch etwas, worüber sie nicht reden wollte«, meinte Leon. »Sie wirkte irgendwie verängstigt, fast panisch, als sie von ihrer Familie sprach.«
»Sie wirkte sehr bedrückt«, sagte Mikke, »kein Wunder, nach dem plötzlichen Tod von Brigitte Wilkens. Immer wieder kullerten die Tränen, wenn die Rede darauf kam. So elend und ganz allein in einer Düne zu sterben, davon fing sie immer wieder an, das konnte sie einfach nicht fassen. Sie meinte, wäre sie am Samstag schon hier gewesen, wäre Brigitte mit Sicherheit noch am Leben.«
»Das kann durchaus sein«, meinte Lilly. »Dann wäre der Zeitplan ein anderer gewesen. Wie äußerte sie sich denn über Brigitte als Mensch?«
»Sie war kompliziert, schwierig, manchmal launisch, aber auch lustig und ein kleiner Kobold mit vielen verrückten Ideen. Aber sie soll auch eifersüchtig auf ihre Schwester gewesen sein, weil diese angeblich der Liebling des Vaters war. Und manchmal hat sie versucht, ihrer Schwester die Freunde auszuspannen, sagt Frau Jannsen. Ihr selbst übrigens auch. Sie erzählte, sie hätte den Typen wirklich geliebt und schrecklichen Liebeskummer gehabt, aber Brigitte hat ihn sich gekapert, nur so, zum Spaß. – Später hat sie, also Doro Jannsen, Brigitte dann doch noch verziehen«, fügte Mikke hinzu, »weil sie gemerkt hat, dass der Typ eine taube Nuss gewesen sei.«
»Passt zu dem, was Frau Landsberg uns über ihre Schwester sagte«, meinte Lilly. Sie und Benthien erzählten abwechselnd, was sie von Hannah Landsberg erfahren hatten, während Fitzen für alle noch eine Runde knuspriger Fischbrötchen holte. Auf dem Rückweg musste er sich gegen eine Möwe wehren, die mit einem seiner Brötchen liebäugelte.
»Rotzfreche Viecher«, schimpfte er, als er das Essen verteilte. Mikke öffnete zischend eine Coladose.
»Tja, wer kommt denn jetzt als Täter infrage?«, überlegte Fitzen und biss in sein Brötchen. »Am ehesten doch wohl Fenja Gregorius und ihr kleines Gartenhundchen, was meint ihr? Die haben am meisten zu gewinnen, wenn sie das Haus verkaufen.«
»Und du meinst, sie denken, wenn sie Brigitte ermorden, hat Hannah keine Lust mehr, noch weiter allein auf Sylt zu bleiben?«, fragte Lilly. »Klingt nicht sehr überzeugend.«
»Oder«, sagte Mikke, »sie haben Brigitte Wilkens mit Hannah Landsberg verwechselt, die Ähnlichkeit ist doch schon ziemlich groß. Zeigst du mir noch mal das Foto, Boss?«
Benthien warf Mikke einen schrägen Blick zu. »Du weißt genau, dass du mich nicht Boss nennen sollst, Mikke!«
»Die Ähnlichkeit ist groß, aber doch nicht so, dass man die beiden verwechselt«, sagte Leon, der Mikke das Foto aus der Hand nahm. »Obwohl … wenn man die beiden nur flüchtig kennt und kein Gedächtnis für Gesichter hat, dann vielleicht schon …«
»Zumal das auffällige gehäkelte Tuch Hannah gehörte«, warf Lilly ein. »Brigitte, erzählte sie uns, hat sich oft ihre Sachen ausgeliehen, Schuhe, Handtaschen, Jacken, und eben auch dieses Tuch.«
Fitzen ließ die Faust auf den Tisch knallen, dass Leons Coladose ein Stück in die Luft sprang. »Was wäre«, rief er, »wenn Hannah Landsberg diejenige war, die der Täter umbringen wollte, und nicht ihre harmlose Schwester? Vielleicht ermitteln wir die ganze Zeit in die falsche Richtung? Wir sollten die Landsberg mal genauer unter die Lupe nehmen. Was wissen wir denn über sie? Doch eigentlich gar nichts!«
»Habe ich das nicht eben gesagt?«, fragte Mikke. »Dass man sie verwechselt hat?«
»Das könnte zwar möglich sein«, meinte Benthien, »aber wie passt der Anschlag auf Brigitte Wilkens in Wuppertal dazu? Da sie zu dieser Zeit noch im Rollstuhl saß, konnte man sie wohl schwerlich mit ihrer Schwester verwechseln.«
»Kann doch sein, dass niemand dahintersteckt«, sagte Mikke eifrig. »Sie hat nicht aufgepasst, die Bremsen waren nicht angezogen, der Rollstuhl rollte los. Später hat Brigitte dann behauptet, sie sei gestoßen worden, weil sie nicht dumm dastehen wollte wie jemand, der mit seinem Rollstuhl nicht umgehen kann. Oder weil sie sich wichtigmachen wollte.«
»Hmmm«, machte Benthien. »Ich glaube, einer von uns muss tatsächlich nach Wuppertal fahren, mit dem Nachbarn reden – wie hieß der noch mal, Ingo Domos? – und mit der Polizistin, die an dem Fall dran war. Zuerst dachte ich, ein Telefonat reicht aus, aber es ist wohl doch besser, sich das alles vor Ort anzusehen.«
»Das könnte ich machen!«, sagte Leon, bevor sich jemand anderer melden konnte, und sprang auf. »Heute gegen Abend geht noch ein Zug. Wenn ich mich beeile, krieg ich den noch.«
Benthien musste lächeln über Leons Eifer, aber er ließ ihn ziehen. Je eher sie Antworten bekamen, desto besser.
Fitzen sah auf die Uhr. »Sollte Ilka Haller uns nicht anrufen, um einen Termin auszumachen, und dann mit ihrem Freund vorbeikommen? Ich möchte mir gern ein Bild von dem Typen machen. «
»Glaubst du immer noch, die beiden sind in den Fall verwickelt?«, fragte Lilly und nahm eine Haarsträhne aus dem Mund, die der Wind hineingeweht hatte.
Fitzen grinste sie an. »Der Ring ist verschwunden. Vielleicht haben sie sie nicht umgebracht, aber beklaut? Von irgendwas müssen sie ja leben!«
»Und sie dann in der Düne verbrannt? Das kommt mir reichlich unwahrscheinlich vor!«
»Wenn du in Panik bist, machst du eben Dummheiten.«
»Sehen wir doch mal nach, ob ihr Zelt noch da ist, das ist ja nicht weit von hier«, sagte Benthien, packte die Servietten und Pappteller zusammen und entsorgte sie im Abfallbehälter.
Das Zelt war nicht mehr da. Doch von dem Platz unter den Bäumen, an dem es bis vor Kurzem noch gewesen war, hatte man einen recht guten Blick auf das Haus Nis Puk.
Lilly bog einen wippenden Zweig beiseite, um besser sehen zu können. »Komisch«, meinte sie, »dass die beiden ihr Zelt gerade dort aufgeschlagen haben, von wo sie das Haus sehen können. Zufall?«
»Vielleicht haben sie die Schwestern beobachtet?«, überlegte Mikke.
Sie versuchte noch einmal, Ilka Haller zu erreichen, doch das Handy war ausgestellt.
Auf dem Rückweg zum Auto kamen sie in der Nähe des Hauses Nis Puk vorbei und hatten sogar die Terrasse im Blick, wo Hannah Landsberg und Doro Jannsen saßen und offensichtlich Kaffee oder Tee tranken. Ein heiteres Beisammensein war es jedoch nicht. Doro Jannsen machte ein sehr ernstes Gesicht, und Hannah Landsberg schlug kurz darauf die Hände vors Gesicht und wiegte sich hin und her .
Auf dem Campingplatz in Hörnum stand zwar noch das Zelt von Ilka Haller und ihrem Freund, doch die beiden waren nicht da. Der Betreiber des Platzes sagte Benthien, sie wären schon am frühen Morgen zum Festland aufgebrochen, wollten aber wohl laut ihrer Aussage am Abend zurückkommen. Auf dem Handy konnte er sie nicht erreichen, auch die Mailbox meldete sich nicht. Er steckte daher eine Notiz an ihr Zelt. Sehr freundlich klang sie nicht. Ihr Inhalt besagte, dass nach Ilka Haller gefahndet werden würde, wenn sie sich nicht spätestens am nächsten Morgen melden und mit ihrem Freund auf der Polizeiwache erscheinen würde.
»Ich bin es jetzt langsam leid, der Dame ständig hinterherzurennen«, kommentierte er wütend.
Auf der Rückfahrt besprachen sie ihr weiteres Vorgehen. Fitzen war schon ganz heiß darauf, Hannah Landsberg per Internet zu durchleuchten, ebenso Doro Jannsen.
»Ihr plötzliches Auftauchen hier auf Sylt bedarf einer besseren Erklärung als die, die sie geliefert hat«, meinte er.
Mikke würde weiterhin die Fotos und Videoaufnahmen von letztem Samstag sichten, die immer noch eingingen, und sich die Aufnahmen der Bahnsteige des Westerländer Bahnhofs ansehen müssen.
Mikke stöhnte. »Warum ist denn das nötig? Wir wissen doch, dass Frau Landsberg gegen zwei Uhr abgefahren ist.«
»Mikke, es war ein Regionalzug. Der hält noch mal in Keitum und Morsum. Theoretisch könnte sie an einer der nächsten Haltestellen ausgestiegen und wieder zurückgefahren sein. Und am Nachmittag den Brand inszeniert haben. Leon hat mich darauf gebracht, als er sagte, auch später am Tag könne man noch nach Wuppertal oder zumindest bis Hamburg kommen.«
»Aber ihre Fahrkarte war doch abgestempelt?«
»Die müssen wir uns noch mal ansehen. Sie könnte später eine neue gekauft haben. Erkundige dich am Bahnhof. Oder sie hat sonstwie getrickst.«
»Verdächtigst du wirklich Hannah Landsberg, ihre Schwester getötet zu haben?«, fragte Lilly, während sie einen doppelstöckigen Sightseeing-Bus überholte.
»Eher nicht, aber kann es schaden, ihre Angaben noch genauer zu überprüfen?«
»Der Teufel ist die Mutter der Porzellankiste«, bemerkte Mikke, ohne sich bewusst zu werden, dass er falsch zitierte.
Fitzen lachte und boxte Mikke in die Seite. »Gut gebrüllt, du Feldhamster!«
»Und was machen wir beide?«, fragte Lilly.
Ehe Benthien antworten konnte, klingelte sein Privathandy. Es war eine Nummer, die er nicht kannte, doch zu seinem Erstaunen meldete sich Waltraud, eine der langjährigen Freundinnen seines Vaters, die mit auf der Törggelen-Tour gewesen war. Er erschrak. Warum rief Waltraud ihn an? War seinem Vater etwas passiert?
Ihr erster Satz, der lautete, er solle sich nicht aufregen, es sei nichts passiert, beruhigte ihn nicht gerade. Dann erfuhr er, dass Ben im Hotelzimmer vor dem Abendessen kurz ohnmächtig geworden sei, aber wirklich nur ganz kurz.
»Warum?«, bellte John ins Telefon.
»Wir haben natürlich einen Arzt gerufen, obwohl Ben das nicht wollte, und der meinte, sein Blutdruck sei viel zu niedrig. Er sagte, Ben solle seine Medikamente, die er bisher für einen zu hohen Blutdruck nahm, reduzieren, nur noch morgens eine nehmen. Du siehst also, es ist alles in Ordnung. Jetzt muss man das eben mal beobachten. Ich habe ein Blutdruckmessgerät dabei, damit werden wir Bens Blutdruck überprüfen. Ich wollte dich nur darüber informieren, John.«
Sie verabschiedete sich, und John blieb reichlich verwirrt zurück. Warum hatte sie ihn angerufen? Weil sie doch beunruhigter war, als sie vorgab zu sein? Und warum hatte sein Vater sein eigenes Blutdruckmessgerät nicht mitgenommen? Das war unverzichtbar für ihn. Er würde wohl mal ein ernstes Wörtchen mit Ben sprechen müssen!
»John, was ist los?«, fragte Lilly und nahm etwas Gas weg.
Er erzählte es ihr. »Ich werde ihn überwachen müssen«, sagte er wütend. »Mein Vater ist einfach bodenlos leichtsinnig!«
»So wird man im Alter«, sagte Fitzen tiefsinnig. »Manche denken, sie sind unsterblich, weil sie ja schon so alt geworden sind.«
»Blödsinn!«, brummte Benthien.