Kapitel 31
Donnerstagvormittag
Und wieder stand ein schöner Septembermorgen über der Insel, leuchtend blau wölbte er sich über Dünen und Meer. Altweibersommer auf Sylt, eine von Benthiens liebsten Jahreszeiten. In der Nacht hatte es geregnet, aber jetzt zeigte sich die Sonne, und zarte Spinnweben hingen zwischen den Dünengräsern. Benthien streckte den Kopf aus dem geöffneten Fenster seines Schlafzimmers und atmete tief die frische, salzgeschwängerte Luft ein, die vom Wattenmeer herüberwehte. Im Badezimmer hörte er die Dusche rauschen, von unten waberte Kaffeeduft die Treppe hinauf. Offenbar war Tommy schon früh auf den Beinen und machte sich in der Küche nützlich.
Benthien ließ sich den neuesten Fall durch den Kopf gehen. Noch waren viele Fragen offen. Sie wussten zu wenig über das Opfer, Brigitte Wilkens. Wann hatte sie sich diesen Hass zugezogen, der dazu führte, dass man sie mit ihrem Rucksack ersticken wollte? Wer hatte ihr diese bedrohliche Karte geschrieben, und warum bewahrte sie sie als Lesezeichen in ihrem Buch auf? Oder war die Karte an jemand anderen gerichtet gewesen und hatte mit Brigitte gar nichts zu tun? Hatte es den Angriff auf ihren Rollstuhl tatsächlich gegeben, oder hatte Brigitte ihn erfunden?
Eine andere Möglichkeit war, dass eigentlich Hannah Landsberg ermordet werden sollte. Hatte man die beiden Schwestern verwechselt? Wenn ja, war Hannah noch immer in Gefahr. Konnte es sein, dass sie eine Ahnung hatte, ihnen aber wesentliche Dinge verschwieg? Warum, zum Beispiel, hatte sie nie ihren Sohn erwähnt? Es war dringend notwendig, dass er so bald wie möglich mit ihr sprach. Ebenso musste er den ehemaligen Nachbarn, Ingo Domos, befragen. Gestern Abend hatte er ihn noch durchgecheckt. Domos war kein unbeschriebenes Blatt. Vor zwanzig Jahren hatte er gegen die Castortransporte demonstriert, er war gewalttätig geworden gegen Polizisten, war wegen Landfriedensbruch verhaftet worden. Krawall kennzeichnete seinen Weg. Und warum befand er sich jetzt in einer psychiatrischen Anstalt? Auch das musste geklärt werden. Hatte er, warum auch immer, Brigitte Wilkens hier auf Sylt aufgesucht und war wieder mit ihr in Streit geraten? Benthien war überzeugt davon, dass die Attacke gegen Brigitte Wilkens keine lang vorbereitete Tat, sondern im Affekt begangen worden war. Erst danach hatte der Täter angefangen nachzudenken und das Feuer gelegt, um Spuren zu verwischen.
Lilly kam aus dem Bad, gehüllt in ein Badelaken. Ein paar Wassertropfen glitzerten wie Diamanten auf ihrer noch vom Sommer gebräunten Haut. Dünne Wasserrinnsale tropften aus ihren Haaren. John nahm ein Handtuch aus dem Schrank und knetete die Haarspitzen, bis sie annähernd trocken waren. Dann gab er ihr einen zärtlichen Klaps.
»Ich geh nach unten. Tommy hat sich anscheinend dazu entschlossen, für uns alle Frühstück zu machen. Kommst du bald?«
Lilly tupfte ihm einen Kuss auf die Nase. »Sobald ich vorzeigefähig bin.«
Nach dem Frühstück, bei dem auch Mikke anwesend war, entschied Benthien, dass er und Lilly umgehend nach Husum fahren würden, um mit Ingo Domos zu reden. Fitzen protestierte zwar, er wollte natürlich auch mit, doch Benthien meinte, er sei ihm für diese delikate Aufgabe zu »rustikal«.
»Domos scheint mir ein schwieriger Typ zu sein. Er ist vorbestraft, unter anderem wegen Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten, wegen Beleidigung und Rufschädigung in den sozialen Netzwerken und ähnlichen Dingen mehr. Leon, mit dem ich vorhin telefoniert habe, erzählte außerdem ein paar Döntjes aus der Nachbarschaft. Domos war wohl schon einmal in der Psychiatrie, weil er junge Frauen mit langen Haaren auf der Straße verfolgt und ihnen Pferdeschwanz oder Zopf abgeschnitten hat. Das Besondere: Er hat es mit einer netten kleinen Kettensäge getan! Allgemein ist man der Meinung, er sei vollkommen asozial, schlecht sozialisiert und außerdem schizophren. Na ja, eben Volkes Stimme! Inwieweit das seine Richtigkeit hat, weiß natürlich niemand …«
»Und du wirst es auch in Husum nicht erfahren«, prophezeite Fitzen. »Zumindest nicht von den Ärzten.«
»Mal sehen. Vielleicht können wir ihn ja auch selbst zum Reden bringen.«
»Dann muss sich Lilly aber einen Pferdeschwanz binden, das sollte ihm gefallen. Eine Kettensäge wird er ja nicht gerade zur Hand haben. Und wenn doch, musst du dich dazwischenwerfen, Johnny-Boy!«
Benthien genoss die Überfahrt auf dem Autoshuttle über den Hindenburgdamm, zumal sie das Glück hatten, auf der oberen Plattform zu stehen, mit nichts als dem freien Himmel über ihnen und um sie herum. Blau, so weit man sehen konnte. Sooft er schon über diesen Damm gefahren war, er liebte immer wieder die Sicht über das blau, grün, silbrig, nebelgrau, rot oder schwärzlich schimmernde Watt, dessen Farbe so unstet war wie das Wetter, ganz egal, ob das Wasser da war oder nicht. Hier, an diesem Punkt der Hinfahrt nach Sylt, begann für ihn die Erholung, selbst wenn er zu einem Fall gerufen wurde. Andererseits endete hier auf der Rückfahrt auch meist wieder das Gefühl von Freiheit, das so sehr geprägt wurde vom lichttrunkenen Meer, das diese Insel umspülte.
Auf dem Weg nach Husum berichtete Benthien Lilly noch weitere Informationen, die er von Leon heute Morgen bei einem Telefongespräch über Ingo Domos erfahren hatte. So zum Beispiel die, dass er als Facebook-User eine Zeitlang jeden oder fast jeden Tag ein Foto seiner Exkremente gepostet hatte samt einer ausführlichen Beschreibung. »Da er noch ein Flachspüler-WC hat – wo der Stuhl nicht gleich hinten ins Rohr fällt –, konnte er das auch anschaulich demonstrieren«, erzählte er.
Lilly, die gerade in ein Brötchen beißen wollte, tat, als ob sie würgen musste, und Benthien lächelte maliziös. »Komm, tu nicht so, ich weiß, dass du da völlig abgebrüht bist. Man hat ihn aber als User gesperrt; nicht etwa wegen der Fotos, sondern weil er sich gern als Troll betätigte und Leute beleidigte oder sogar bedrohte. Im Übrigen ist er geschieden. Er soll zwar schon immer schwierig gewesen sein, aber nach dem Auszug von Frau und Sohn war er wohl völlig von der Rolle. Seinen Job hat er vor ein paar Monaten verloren. Er war Vertreter für Küchen und ist offenbar aggressiv auf Kunden losgegangen, die nicht so wollten wie er.«
»Na, da freue ich mich aber schon auf die Begegnung«, sagte Lilly. »Willst du einen Fischhappen? Er schmeckt unglaublich frisch, wie gerade gefangen.«
Benthien machte den Mund auf, und Lilly schob ihm das letzte Stück eines saftigen Herings zwischen die Zähne.