Kapitel 68
Dienstagabend
Als Lilly aus Hörnum zurückkam, war Mikke bereits im Feierabend, und John hatte im Ofen ein kleines Feuer angezündet, denn draußen war es zu kühl geworden, um gemütlich auf der Terrasse zu sitzen. Sie setzte sich zu ihm aufs Sofa, und John bewirtete sie mit einem Glas Cola. »Vorhin kam das Ergebnis von Ingo Domos’ Taschenlampe, du weißt schon, der Fleck, der wie Blut aussah. Leider ist es kein Blut, sondern Schokoladensoße. Weiß der Himmel, wie die da drankam.«
Lilly zog die Füße unter sich. »Wir haben also nicht wirklich was gegen Domos in der Hand?«
»Nein. Ich neige inzwischen dazu, ihn als möglichen Täter auszuschließen. Er ist ein Dummschwätzer, ein Wichtigtuer, sonst nichts.«
Fitzen fragte, ob Doro Jannsen noch etwas Interessantes erzählt hätte, doch Lilly schüttelte den Kopf. »Sie war nicht in Redelaune«, sagte sie, legte die Füße auf Johns Knie und kuschelte sich in die Sofakissen. »Angeblich war sie müde, was ja auch sein kann, nach einem langen Tag in der Bahn. Ein bisschen was hat sie über ihre Tochter erzählt, wie niedlich und klug sie als kleines Kind gewesen war. Ich glaube, Frau Jannsen hat wirklich Angst, dass ihr Schwiegersohn zurückkommt und ihrer Tochter etwas antut. Allein schon aus Rache, meinte sie.«
»Hast du auch mit Hannah gesprochen?«, wollte John wissen.
»Nur kurz, sie schien ebenfalls erschöpft zu sein, nachdem sie den halben Nachmittag beim Bestatter war. Ist ja auch nicht gerade eine schöne Aufgabe. Ich habe sie aber nach dieser Aussage gefragt, die die Putzhilfe Nelly Giese gehört hat. Erinnert ihr euch? Ihr wolltet mich nie dabeihaben, ich war immer überflüssig, deshalb habt ihr eiskalt … Eine von den beiden Schwestern sollte das ja gesagt haben. Erst konnte sich Hannah nicht daran erinnern, aber dann musste sie lachen. Es ging um Kinderspiele mit den Nachbarskindern, sagte sie. Als sie kleiner waren und noch in Ostberlin wohnten, haben sie den Sommer oft in der Nähe von Wismar verbracht, bei den Großeltern. Und einmal haben sie Brigitte, weil sie so nervte und immer was anderes wollte als die anderen Kinder, an einem sehr kühlen Tag zum Meer gelockt und sie dann ein paarmal im Wasser untergetaucht, sozusagen zur Strafe. Sie sagt, das hätte Brigitte ihr zeit ihres Lebens übel genommen, obwohl Hannah ihre Schwester durch ihr Einschreiten und ihren Einfluss gerettet hat. Sie meinte, sie hätten sich oft gezofft, aber das sei nie zu einem Streit ausgeartet. Brigitte liebte solche Kabbeleien, sie hätte sich gern an ihr, also an Hannah, ›abgearbeitet‹. Frau Giese hätte das nicht so ernst nehmen dürfen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Sagt Hannah Landsberg.«
»So was kenne ich«, brummte Fitzen. »Mich haben sie auch immer geärgert.« Er warf Benthien einen vielsagenden Blick zu. »Erinnerst du dich? Einmal habt ihr mich …«
»Und du hattest es verdient, du Kobold«, sagte Benthien trocken. »Jedes einzelne Mal!«
»Sie hat auch erzählt«, sagte Lilly, »dass dein Vater sie angerufen hat. Sie wollen sich morgen treffen! Ich glaube, sie war ziemlich aufgeregt deswegen.«
Benthien war so überrascht, dass er Lillys Füße ein bisschen zu fest knetete und sie leise aufschrie.
»Ich wundere mich«, sagte John. »Bisher hatte ich den Eindruck, dass mein Vater diesem Thema – und damit auch Hannah – eher aus dem Weg gehen wollte. «
»Warum sollte ich das tun?«, erklang Bens Stimme von der Tür her. Er war zurückgekommen, ohne dass sie es gemerkt hatten. Langsam ging er zum Sofa und schenkte sich ein Bier ein. »Natürlich bin ich aufgeregt, Hannah nach so langer Zeit wiederzusehen. Aber ich finde es auch spannend zu sehen, was aus ihr geworden ist. Das lasse ich mir doch nicht entgehen. Beinahe hätten wir ja damals geheiratet.«
»Möchtest du noch etwas essen?«, fragte Lilly.
»Danke, aber ich habe ja gerade gegessen, eine Lachsquiche. Könnte ich eigentlich auch für meinen Foodblog machen.«
»Vater, willst du uns nicht mal die komplette Geschichte von dir und Hannah erzählen?«, schlug John vor.
Sein Vater schwieg eine Weile, doch dann schien er zu einem Entschluss gekommen zu sein.
»Ich habe sie kennengelernt, als ich mit zwei Schulfreunden Ferien am Plattensee gemacht habe«, begann er seinen Bericht. »Hannah fiel mir sofort auf, und ich lernte sie kennen, als sie praktisch im See vor meiner Nase von der Luftmatratze fiel und im Wasser untertauchte. Ich hab sie natürlich gerettet.« Er lachte leise. »Erst später habe ich begriffen, dass dieses Manöver Absicht war, denn sie war eine ausgezeichnete Schwimmerin.«
»War auch ihre Schwester Brigitte dabei?«, fragte Mikke.
»Natürlich, die ganze Familie machte in Ungarn Urlaub. Ich habe mich zuerst ein bisschen in beide Schwestern verknallt, aber dann war doch Hannah die Auserwählte. Brigitte mochte das gar nicht, anscheinend war auch sie an mir interessiert. Aber ich habe das gar nicht kapiert, ich hatte nur Augen für Hannah.«
Er habe Hannah und ihre Familie ein-, zweimal in Ostberlin besucht, erzählte Ben, was vor dem Mauerbau noch kein großes Problem war, einmal hatten sie sich sogar in Westberlin getroffen. Nach zwei Jahren war ihnen klar, dass sie für immer zusammenbleiben wollten .
»Wir wollten heiraten, nachdem Hannah mit der Schule und ich mit meinem Studium fertig war, was ungefähr zur selben Zeit passierte«, erklärte Ben mit rauer Stimme.
Lilly spürte, wie schwer es Ben fiel, wieder in diese alte Geschichte einzutauchen. Er erzählte nüchtern und sachlich, doch sie hatte den Eindruck, dass er innerlich ziemlich aufgewühlt war.
»Irgendwann kam bei Hannah der Gedanke auf, in den Westen zu fliehen«, fuhr Ben fort. »Inzwischen war in Berlin die Mauer gebaut worden, und man fing an, überall die Grenzen zu verbarrikadieren, sogar Minen wurden gelegt und Wachtürme gebaut. Niemand wusste, wie die Zukunft aussehen würde, und wir hatten natürlich Angst, dass wir uns nie mehr wiedersehen würden. Hannah war mit ihrer Familie inzwischen nach Wismar gezogen, wo Hannahs Vater, der in der Partei eine gewisse Rolle spielte, die 6. Grenzbrigade Ostsee unter sich hatte und auch selbst neue Grenzsoldaten ausbildete. Die Eltern erfuhren natürlich nichts von den Fluchtplänen, aber Brigitte wollte dabei sein und auch ein alter Freund der beiden, ein gewisser Sascha Schulte.«
»Balabine!«, sagten Benthien und Fitzen wie aus einem Mund.
»Er schien sehr an Hannah interessiert zu sein, was mir natürlich gar nicht gefiel, aber andererseits beruhigte es mich, dass Hannah bei ihrer geplanten Flucht über die Ostsee nicht allein war«, sagte Ben und nahm einen Schluck von seinem Bier. »Sie hatten alle drei ihren Rettungsschwimmer gemacht und trainierten im Meer, wann immer es ging. Sie mussten auf der Flucht ja etliche Seemeilen zurücklegen und brauchten eine entsprechende Kondition.«
»Ist es nicht lebensgefährlich, mitten in der Ostsee zu schwimmen?«, fragte Mikke.
»Natürlich«, sagte Fitzen, »aber die Leute haben es immer wieder versucht. Und niemand weiß genau, wie viele dabei umgekommen sind.«
»Für mich war es eine schreckliche Zeit«, erzählte Ben weiter. »Ich konnte ja kaum etwas anderes tun als abwarten. Die Verbindung zwischen uns war problematisch. Telefonieren ging gar nicht, und ob alle unsere Briefe ankamen, war ungewiss. So war die Verständigung sehr schwierig, und oft wusste ich gar nicht, wie weit die Vorbereitungen gediehen waren. Am Schluss trafen wir uns noch einmal heimlich – Hannahs Eltern durften nichts davon wissen – unter schwierigsten Umständen in Ostberlin, wo wir die letzten Einzelheiten der Flucht besprachen, ohne zu wissen, ob wir uns je wiedersehen würden.«
»Aber es ist doch alles gut gegangen?«, fragte Mikke.
»Das muss nervenaufreibend für dich gewesen sein«, meinte Lilly.
Ben, der sich weiter um Sachlichkeit bemühte, schien nicht weiter darauf eingehen zu wollen. »Die drei haben jedenfalls alles getan, um dieses Abenteuer lebend zu überstehen«, sagte Ben nach einer längeren Pause. »Zum Beispiel haben sie alle drei ein langes Seil an ihren Körpern befestigt. Hannah schwamm an der Spitze, ungefähr drei Meter hinter ihr kam Sascha, als Letzte Brigitte. So waren sie alle gesichert, keiner konnte verloren gehen, und wenn jemand Hilfe brauchte, waren die anderen schnell zur Stelle. Jeder hat ein, zwei Gegenstände mitgenommen, die ihm wichtig waren, wasserfest verpackt, nur schwer durften sie natürlich nicht sein. Ab und zu ruhten sie sich an einem Seezeichen aus, etwa einer Tonne oder Boje.«
Wieder hielt er inne. Offenbar fiel es ihm nicht leicht, diese Erinnerungen, die so lange verschüttet gewesen waren, so unvorbereitet wieder ans Tageslicht zu holen.
Ben räusperte sich ein paarmal. »Damit der Weg über die Ostsee für die drei nicht so lang wurde, hatten wir – also meine beiden Freunde, die damals mit am Plattensee gewesen waren, und ich – ein Boot gemietet, um ihnen entgegenzufahren, so weit es eben möglich war. Natürlich musste das unauffällig geschehen, und unser Boot musste außerhalb der Hoheitsgewässer der DDR bleiben.
Der Onkel einer meiner Freunde war zudem beim deutschen Bundesgrenzschutz. Wir haben ihn in letzter Minute über den Fluchtversuch informiert, und eines ihrer Schiffe kreuzte in der Zone, in der die drei eintreffen sollten, nicht weit von unserem Boot entfernt.«
»Trotzdem war es ein gewagtes Manöver«, sagte John, »sich nachts auf der Ostsee zu orientieren ist nicht ganz einfach, besonders für Schwimmer. Sie hätten vom Kurs abkommen können.«
»Sie wollten so weit wie möglich in der Nähe der Küste bleiben. Orientiert haben sie sich an den Lichtern der großen Fährschiffe, die nach Travemünde fuhren, und an den Fahrwassertonnen. Außerdem hatte Hannah einen Kompass am Arm und richtete sich, wann immer es ging, nach den Sternen. Es war eine relativ helle Nacht mit Meeresleuchten, was zwar sehr schön aussieht, für Flüchtlinge aber gefährlich werden kann, weil durch die Schwimmbewegungen verraten wird, wo im Wasser sich ein Mensch aufhält.« Ben griff wieder nach seinem Bierglas, als wollte er sich daran festhalten.
»Ich finde, sie haben das alles recht gut geplant«, fuhr er fort. »Alle drei hatten sich schon Monate vorher Flossen, Brillen und sogenannte Nassanzüge besorgt … die waren natürlich von ganz anderer Qualität als die heutigen, aber zusätzlich hatten sie sich auch noch von Kopf bis Fuß mit Vaseline eingerieben. Außerdem kam es ihnen zugute, dass Hannahs und Brigittes Vater Ausbilder bei den Grenztruppen war. Er besaß ein Segelboot und die beiden notwendigen Scheine, mit denen er bei Regatten mi tmachen und sogar nachts mit dem Boot unterwegs sein durfte. Er war ja auch ein angesehenes Parteimitglied. Lange nicht jeder Bootseigner bekam diese Scheine. Ein Boot, hatte Hannah erzählt, war immer sein Traum gewesen, deswegen hatte er überhaupt um eine Versetzung nach Wismar gebeten.«
»Wusste der Vater von den Fluchtplänen?«, fragte Benthien.
»Nein. Das wollte Hannah ihm und der Familie nicht antun. – Hannah und auch Brigitte teilten seine Leidenschaft für Boote, und er nahm sie oft zum Segeln mit, auch mal Freunde oder Kollegen, sodass der Anblick seines Schiffes, der Mistral , kein ungewohnter Anblick in den Gewässern um Wismar war. Sogar bis Boltenhagen konnte er segeln, ohne Argwohn zu erregen …«
»Boltenhagen?«, fragte Mikke.
»Der westlichste Küstenort der DDR, alles, was noch weiter westlich war und damit nahe der Lübecker Bucht, wurde zum Sperrgebiet erklärt; da durfte sich außer den Grenzern niemand anderer aufhalten«, erklärte Ben. »Und die Mistral hat denn auch bei der Flucht eine nicht unwesentliche Rolle gespielt.«
»Aber sie sind doch nicht mit dem Boot geflohen?«, fragte Fitzen.
»Nein, das wäre viel zu auffällig gewesen. Hannah und Brigitte sorgten nur dafür, dass das Boot in diesem Sommer möglichst oft vor Boltenhagen gesehen wurde. Manchmal auch ohne ihren Vater, denn Hannah kannte sich mit dem Segeln inzwischen ganz gut aus. Brigitte hatte einen Verehrer unter den jungen Grenzsoldaten, den sie oft zu ihren Ausflügen einluden, um später jeden Argwohn zu zerstreuen, wenn das Boot bei Boltenhagen gesichtet wurde.«
Ben nahm ein paar Schlucke von seinem Bier. Sein Mund war trocken geworden vom vielen Reden. Es war ihm anzusehen, dass ihn diese Geschichte immer noch sehr mitnahm, selbst nach so langer Zeit .
»Am Tag der geplanten Flucht waren Hannah und Brigitte zusammen mit Sascha im Boot ein Stück vor die Küste gefahren, da, wo sie schon oft gewesen waren«, fuhr er fort. »Sie haben den Anker geworfen und waren kurz vor Anbruch der Dämmerung ins Wasser gesprungen, wobei das Schiff ihnen zur Küste hin Deckung gab. Sie bemühten sich, so tief wie möglich ins Wasser abzutauchen. Es war ein Montag, den sie sich für ihre Flucht ausgesucht hatten. Einmal, weil das Wetter gut war, aber auch, weil die meisten Fluchtversuche üblicherweise am Wochenende stattfanden, sodass die Grenzer montags etwas entspannter waren. Hoffte Hannah jedenfalls. Damals war es in der DDR üblich, dass die Strände abends gegen acht Uhr geräumt werden mussten, das heißt, die Leute hatten nach Hause zu gehen, sodass späte Badegäste auffielen wie bunte Hunde. Deswegen das Boot, von dem aus sie in die Freiheit schwimmen wollten.«
»Unglaublich, dass Hannah uns kein Wort von dieser Flucht erzählt hat«, bemerkte Fitzen.
»Das ist fast sechzig Jahre her«, wandte Ben ein. »Spielt das heute noch eine Rolle?«
»Anscheinend hat ja auch alles reibungslos geklappt«, bemerkte John.
»Fast«, sagte Ben. »Als sie es tatsächlich geschafft hatten, stellte sich nämlich heraus, dass Brigitte verschwunden war. Das Seil, das sie mit Sascha verbunden hatte, war gekappt worden. Das fiel aber erst auf, als die beiden an unserem Boot angekommen waren. Sie hatten wirklich unendlich viel Glück gehabt, dass die Grenzer sie nicht entdeckt hatten. Hannah hatte gleich den Verdacht, dass Sascha das Seil durchtrennt hatte, aber es wirkte ausgefranst, so als hätte es sich irgendwo aufgeribbelt, vielleicht an einer der Bojen, an denen sie sich hin und wieder ausgeruht hatten.«
»Brigitte ist auf der Flucht verloren gegangen?«, fragte Lilly fassungslos. »Hat man denn nach ihr gesucht? «
»In den bundesdeutschen Gewässern schon, aber die Grenzbeamten konnten natürlich nicht in DDR-Gebiet vordringen. Wir mussten annehmen, dass Brigitte es nicht geschafft hatte … dass sie ertrunken war … oder dass die DDR-Grenzer sie geschnappt hatten. Sascha war schon am nächsten Tag abgetaucht, und wenig später war auch noch Hannah weg.«
Ben schwieg. Lilly hatte den Verdacht, dass er diese Geschichte lange Zeit nicht verwunden hatte, auch wenn er heute ganz nüchtern darüber sprach. Und jetzt war Hannah plötzlich wieder aufgetaucht, und Brigitte war tot! Sie wusste, dass John sich Sorgen um seinen Vater machte. Einmal wegen seiner Gesundheit, aber auch, dass ihn das Wiederaufleben alter Gefühle zu sehr belasten könnte. Doch was konnten sie tun? Trotz allem war es Bens Leben, er hatte zu entscheiden, was er tun wollte.