Kapitel 71
Mittwochnachmittag
In der Gregorius-Galerie erfuhren Benthien und Fitzen von Frau Russo, dass sich ihr Sohn am Brandenburger Strand befand, wahrscheinlich im Strandkorb Nr. 1724, der seit Jahren der Familie Gregorius gehörte.
»Da geht er immer hin, wenn er nachdenken muss«, erklärte ihnen Haralds Mutter.
»Und warum muss er das gerade jetzt so viel?«, fragte Fitzen.
»Er hat Liebeskummer. Er weiß nicht, wie es mit ihm und Fenja weitergeht, sie hat keine Zeit mehr für ihn und weicht ihm aus, jetzt, wo ihr Bruder so plötzlich aufgetaucht ist! Da ist mein Sohn ja nur noch Staffage.«
Nach einiger Suche fanden sie Russo tatsächlich in dem genannten Strandkorb. Er saß da und blickte aufs Meer, das flaschengrün, in hohen Wellen und mit Schaumkämmen daherkam. Heute war ein typisch friesischer Spätsommertag. Ein kühler Wind trieb blitzweiße Wolken am blauen Himmel vor sich her wie ein Schäferhund seine Herde. Die Farben waren so strahlend und grell, dass man ohne Sonnenbrille kaum auskam; das Meer so grün, der Sand so weiß, die auf der Promenade flatternden Fahnen leuchteten in allen Farben. Am Strand waren vor allem Wanderer in Sportjacken und Parkas unterwegs. Ein Surfer vergnügte sich in den Wellen.
Russo erkannte Benthien und Fitzen zuerst nicht, da sie die Sonne im Rücken hatten, als sie vor ihm standen .
Doch dann wurde er unruhig.
Fitzen griff nach dem benachbarten Strandkorb, der unbesetzt war, und schob ihn in einem spitzen Winkel neben den von Russo. Sie setzten sich. Hier, in diesem lauschigen Eckchen, fand Benthien, ließ es sich gut reden.
»Sie haben uns angelogen, Herr Russo!«
Russo glotzte ihn an. »Ganz bestimmt nicht! Wieso meinen Sie das?«
»Erinnern Sie sich an den 7. September? Das war der Tag, an dem die Leiche von Brigitte Wilkens gefunden wurde. Wir …«
»Was haben Sie nur immer mit dieser Brigitte Wilkens?«, unterbrach ihn Russo unwirsch. »Die kennen wir doch gar nicht, Fenja und ich!«
»Sie haben ausgesagt, dass Sie an diesem Samstag zur fraglichen Zeit in der Galerie waren und einmal kurz beim Einkaufen. Bleiben Sie bei dieser Aussage?«
Russo sah abwechselnd Benthien und Fitzen an. »Warum denn nicht? Es ist ja die Wahrheit!«
»Und was ist das hier?« Fitzen hielt ihm ein Tablet vor die Nase, auf das sie Davides Bilder überspielt hatten. Russo betrachtete das Foto, auf dem er vor der Tür des Hauses in Hörnum zu sehen war, mit einer großen Tasche in der Hand. Er runzelte die Stirn.
»Dieses Bild wurde am 7. September aufgenommen, um 16.25 Uhr«, sagte Benthien. »Das sind doch eindeutig Sie! Was haben Sie da gemacht?«
Russo zog ein großes Baumwolltaschentuch aus der Tasche seines Anoraks und wischte sich über die Stirn. Offenbar schwitzte er trotz des kühlen Windes. Er warf Benthien und Fitzen einen trotzigen Blick zu. »Ich wollte ein paar Sachen holen!«
»Welche Sachen?«
»Haushaltsgegenstände, die Fenja gehören. Sie hat das Haus ja seit dem Tod ihres Vaters immer wieder an Feriengäste vermietet, zu der Zeit, als Hannah noch in Wuppertal war. Weil die Kaffeemaschine im Haus schon ziemlich versifft war, hatte sie eine neue gekauft und den Gästen zur Verfügung gestellt, ebenso neue Töpfe und Pfannen. Sie hat mich losgeschickt, um diese Sachen zu holen. Sie wollte ihr Eigentum nicht Hannah und ihrer Schwester überlassen, das ist doch verständlich. Die sollten sich schon selbst versorgen.«
»Das ist aber nicht die feine Art, so was in Abwesenheit der Bewohner zu tun!«, sagte Fitzen.
Russo presste die Lippen zusammen. »Ich habe geklingelt, aber es öffnete keiner. Da habe ich unseren Schlüssel benutzt. Ich wollte nicht noch mal wiederkommen müssen. Ehrlich gesagt, war es mir auch ganz recht, dass niemand da war. So gab es wenigstens keinen Streit.«
»Sie haben einen Schlüssel zu dem Haus?«, fragte Benthien erstaunt.
»Selbstverständlich! Es gehört ja Fenja!«
Eine Möwe kam angetrippelt und checkte den Schauplatz zwischen den beiden Strandkörben. Aß man dort etwas, vielleicht Eis oder Pommes frites? Als sie nichts dergleichen entdecken konnte, flog sie enttäuscht davon.
»Wollen Sie wissen, was wir glauben?« Ohne Russo Zeit zum Antworten zu lassen, fuhr Fitzen fort: »In der Tasche, die Sie dabeihatten, befand sich das Brennmaterial, mit dem die Leiche später angezündet wurde. Das haben Sie nämlich bereits mitgebracht. Sie haben …«
»Nein! Sind Sie verrückt? Ich zünde doch keinen Menschen an! Ich wusste doch gar nicht, dass diese Wilkens nicht weit vom Haus in der Düne liegt! Woher auch! Und ich wusste auch kaum, wer sie ist!« Russo war totenbleich geworden. Große Schweißperlen sammelten sich auf der Stirn und der Oberlippe .
»Entweder haben Sie aus eigenem Antrieb oder im Auftrag von Frau Gregorius die tote Brigitte Wilkens angezündet, warum auch immer«, beharrte Fitzen. »Und einer von Ihnen beiden wird auch verantwortlich sein an ihrem Tod!«
Harald Russo regte sich dermaßen über die Anschuldigung auf, dass Benthien schon befürchtete, er würde ebenfalls einen Herzinfarkt erleiden.
»Wer hat mich da eigentlich fotografiert?«, fragte er schwer atmend. »Dieser Fotograf war doch auch vor Ort?«
»Haben Sie irgendjemanden gesehen?«, erkundigte sich Benthien.
»Nein! Aber ich habe auch nicht darauf geachtet. Ich war doch völlig arglos! Ich habe doch nichts anderes getan, als unser Eigentum zurückzuholen!«