Quintus

Ich duckte mich hinter den parkenden Wagen, den Blick auf die Bar Zum tanzenden Narwal gerichtet. Meine Fingerspitzen fuhren immer wieder über die Gegenstände, die ich in meinen Taschen hortete. Sie streiften ein Klappmesser. Es sorgte dafür, dass ich mich besser fühlte, dabei würde ich im Falle eines Falles immer die Flucht dem Kampf vorziehen. Dafür hatte ich die Schreikäfer dabei und das kleine Säckchen mit Pfefferpulver.

Endlich schwang die Tür der Bar auf, laute Musik wurde auf die Straße gespuckt, genau so wie eine vermummte Gestalt. Ich streckte den Hals und lugte über die Motorhaube. Mein Ziel war nur ein paar Minuten in der Bar gewesen, bevor er sie nun wieder verließ. Eine breite Kapuze bedeckte sein Gesicht, aber ich konnte die Narbe sehen, die sich über sein Kinn zog.

Er war es.

Ihn musste ich bestehlen, denn er hatte etwas, das unser Auftraggeber wollte, und wenn ich das gierige Grinsen meines Chefs, Daan Knox, richtig gedeutet hatte, ging es dabei um jede Menge Geld.

Meine Zielperson wandte sich nach rechts, bevor er mit großen Schritten die Straße zur nächsten Gracht nahm. Mein Herz zog sich zusammen und ich zögerte. Er wirkte nicht wie ein leichtes Opfer. Er war weder betrunken, noch schien er jemand zu sein, der sich leicht ablenken ließ. Im Gegenteil … Sein Blick huschte aufmerksam hin und her, während er die parkenden Wagen passierte, die mir als Schutz dienten.

Lautlos wie eine Katze eilte ich ihm hinterher. Um meine Schuhe hatte ich Stoff gewickelt, der jedes Geräusch verschluckte. Außerdem schützte es sie, denn sie waren verdammt teuer gewesen. Echte Handarbeit und der neuste Trend aus Veneria.

Meine Zielperson bog in eine dunkle Gasse, in der es keine Straßenlaternen gab. Für ein paar Sekunden stand er im Dunklen, dann glimmte etwas in seinen Händen auf. Eine Leuchtkröte. Sie waren die einfachsten biologischen Lichtquellen unserer Welt. Es gab sie überall und sie spendeten Licht, wenn man sie fütterte. Im gelben Schein der Kröte setzte mein Ziel seinen Weg fort.

Jetzt war ich mir sicher. Er wollte zur Gracht, um mit einem der Wassertaxis oder einem wartenden Boot zu verschwinden. Ich musste es also durchziehen, bevor er das Wasser erreichte und verschwand.

Schnell schnappte ich mir eine Schnapsflasche, die neben einer Parkbank lag und in der jemand einen Rest undefinierbare Flüssigkeit gelassen hatte.

Dann sprintete ich los, in eine Parallelstraße, einmal um das Haus herum, bis ich die dunkle Gasse erreichte, in die mein Ziel verschwunden war. Kurz rang ich nach Atem, bevor ich in die Dunkelheit trat. Sofort fing ich an zu schwanken und torkelte auf den Mann zu, der dank seiner Leuchtkröte gut auszumachen war. Dabei wedelte ich so sehr mit meiner Flasche, dass sich der Inhalt über die Straße verteilte. Die gute alte »Betrunkenen«-Masche.

Die Gasse war so eng, dass wir einander kaum ausweichen konnten. Perfekt also. Mein Ziel blieb stehen und drückte sich etwas an die Wand, um mir Platz zu machen. Ich wurde weder langsamer, noch gab ich mir Mühe auszuweichen. Rücksichtslos rempelte ich ihn an und pöbelte: »Pass doch auf!«

Mein Opfer verengte die Augen, als er mich musterte. Ich prostete ihm mit der Flasche zu und machte Anstalten weiterzugehen, aber ehe ich auch nur einen Schritt gehen konnte, schnellte seine Hand nach vorne und packte mich am Kragen. Mit erstaunlicher Kraft hob er mich hoch und riss mir den Boden unter den Füßen weg. Ich schnappte nach Luft und zappelte.

»Sag mir, Kleiner«, knurrte mein Gegenüber. Seine Stimme war tief und bedrohlich. Außerdem hatte er einen deutlichen, hart klingenden Akzent, der verriet, dass er nicht von hier stammte. »Was macht man mit Dieben in Amsterlock?«

»Dieben, mein Herr?«

Das kam darauf an, wer einen erwischte. Einige einfallslose Gesellen schlugen einem die Hand ab. Andere hängten einen kopfüber über dem Meer auf, bis man Salzwasser spuckte. Keine Strafe war sonderlich erstrebenswert.

»Wie kommt ihr darauf, dass ich etwas klauen will?«, hakte ich unschuldig nach und schwenkte erneut die Flasche, die er mir ungeduldig aus der Hand schlug. Mit einem Klirren zerbrach sie auf dem Kopfsteinpflaster und mit ihr meine Hoffnung, heil aus dieser Nummer herauszukommen.

»Beantworte meine Frage, Bursche!«

»Man lässt sie schwören, es nie wieder zu tun, und gibt ihnen einen guten Rat mit auf den Weg?«, keuchte ich mit meinem herzallerliebsten Lächeln.

Ein trockenes Lachen drang aus der Kehle meines Gegenübers. »Was wolltest du stehlen?«

»Geld«, log ich und drückte mir dabei Tränen in die Augen. Auf Anhieb weinen zu können, war etwas, das ich bereits als kleiner Junge gelernt hatte. »Wir sind arm, Herr, und ich muss meine drei Geschwister mit durchfüttern.«

Mit der freien Hand hielt er mir die Leuchtkröte vor das Gesicht, um mich besser zu betrachten. Er musterte meinen Haarschnitt, den teuren Mantel aus bestem Stoff, die vergoldeten Knöpfe am Ärmel, meinen Hut, welcher der neusten Mode entsprach und aus einer der teuersten Boutiquen des Seidenbarons kam.

Ja, ich stand auf Designerkleidung. Außerdem war es in einer Stadt, die von Geld regiert wurde, verdammt wichtig, gut auszusehen, wenn man ernst genommen werden wollte.

»Du willst arm sein?«, hakte er nach. Natürlich glaubte er mir kein Wort, aber das musste er auch nicht. Er musste mir nur noch etwas zuhören.

»Das ist alles gestohlen«, wimmerte ich. War es nicht. Als Angestellter von Daan Knox verdienten Diebe oder professionelle Beschaffer – wie wir uns nannten – nicht schlecht. »Ich hatte heute ein Vorstellungsgespräch, mein Herr. Das war meine Hoffnung, endlich von der Straße wegzukommen und ein ehrliches Leben zu beginnen. Leider hat es nicht geklappt …«

Und leider war ein ehrliches Leben nichts für Menschen, die in Amsterlock wohnten …

Ich wollte, dass das Gespräch weiterging, denn ich war ihm nahe. So nahe, wie es sich ein Beschaffer nur wünschen konnte. Er hielt mich am Kragen fest, dabei waren es meine flinken Hände, die er im Auge behalten sollte.

Mein Gegenüber kam zu dem richtigen Schluss. »Ich glaube, du bist nicht nur ein Dieb, sondern auch ein dreister Lügner.«

»Schuldig im Sinne der Anklage«, gab ich zu und schenkte ihm ein letztes herzliches Lächeln. Ich hatte ein sehr schönes Lächeln und das sollte das Letzte sein, was er sah, bevor ich ihm eine Ladung Pfefferpulver ins Gesicht warf. Er schrie auf. Gleichzeitig rammte ich ihm meinen Oberschenkel in die Weichteile. Stöhnend sackte er in sich zusammen. Das Glas mit der Leuchtkröte fiel scheppernd zu Boden und das Tier erlosch mit einem Schlag.

Ich löste mich aus seinem Griff und rannte um mein Leben. Den Beutel fest umschlossen.

Verfluchter Daan Knox! Das war knapp gewesen!

Was um Himmels willen konnte so viel Geld wert sein? Nicht, dass ich ihm persönlich besonders viel bedeutete, aber ich war sein bester Dieb.

Zumindest der, der am längsten überlebt hatte …

Nicht zuletzt wegen meiner Fähigkeiten zu lügen, zu rennen und zu klettern. Und weil ich ein verdammter Charmeur sein konnte, wenn ich wollte. Daan nannte mich »Quasselstrippe«, doch meine goldene Zunge hatte mich schon aus so einigen Schwierigkeiten gerettet.

Schlitternd kam ich zum Stehen. Meine Hände umschlossen ein Regenrohr und ich zog mich aufs Dach eines Hauses hinauf. Hier oben, einige Meter über der Straße, wo mir der Wind um die Nase wehte, fühlte ich mich sicherer. Ich ließ mir den salzigen Wind ins Gesicht pusten und schlich geduckt im Schutze der Dunkelheit weiter. Mit jedem Schritt beruhigte sich mein Herz, und der Gedanke, dass ich es wirklich geschafft hatte, wuchs in mir.

Ich gehörte zu einer Gruppe an Dieben unter der Führung von Daan Knox. Allerdings waren wir keine Straßengang, sondern eine angesehene, etablierte Gruppe, welche sich selbst die »Goldhandschuhe« nannte. Man kannte uns, schätzte uns. Daan verstand es, große Kunden an Land zu ziehen, die uns damit beauftragten, ihnen Dinge zu besorgen. Diskretion war hierbei natürlich das oberste Gebot, darum erzählte er uns nie mehr, als wir wissen mussten.

Das hielt mich aber nicht davon ab, eigene Nachforschungen anzustellen. Wissen war schließlich Macht. Nicht nur in Amsterlock, sondern an jedem Ort auf der Welt.

Als ich mir sicher war, dass mich niemand verfolgt hatte, kauerte ich mich hinter einen Schornstein und untersuchte den Beutel, der mich beinahe mein Leben gekostet hatte, genauer.

Daan hatte sehr deutlich gemacht, dass dieser Auftrag so geheim war, dass ich nicht einmal selbst wissen durfte, um was es ging. »Wie soll ich etwas klauen, wenn ich nicht weiß, was es ist?«, hatte ich gefragt. Trotzdem musste ich bei allen Göttern und Dämonen schwören, nicht in den grauen Beutel zu sehen, den meine Zielperson immer um den Hals trug. Dumm nur, dass ich kein sonderlich großes Vertrauen in Götter oder Dämonen hatte. Also würden sie mich auch nicht bestrafen, wenn ich einen kleinen Blick wagte.

Der Stoff war fest, steif und blickdicht. Mein Finger schob sich zwischen die Lederschnüre, um sie zu lockern. Für einen Moment schlug mir eine seltsame Hitze entgegen und ich zog den Finger zurück.

War das etwa …?

Hin und wieder wurden wir damit beauftragt, etwas vermeintlich Magisches zu stehlen. Solche Dinge liefen immer gut. Schuppen einer Undine, Haare von Hexen oder der Nebel vermeintlicher Geisterwesen. Das meiste davon war dummer Aberglaube. Natürlich gab es Flüsterwesen, Kreaturen, die durch die Essenz von Dämonen entstanden waren, aber meiner Erfahrung nach machten einen die Schuppen einer Undine nicht hübscher und die Haare einer Hexe wendeten kein Unheil ab.

Erneut steckte ich die Finger in den Beutel, um die Schnüre zu lockern. Als er weit genug offen war, lugte ich hinein. Mondlicht fiel mir über die Schulter und wurde von dem Inhalt des Beutels reflektiert.

Ein goldenes Schmuckstück!

Ich nahm es zwischen Zeigefinger und Daumen und zog es heraus. Vorsichtig legte ich das Artefakt auf meine Handfläche, um es genauer zu überprüfen.

Ein Auge. Das Symbol kam mir bekannt vor, aber mir wollte nicht einfallen, woher. Es war nicht aus Gold, wie ich zuerst dachte. So ein Material hatte ich noch nie gesehen. Es war warm und glühte wie Bernstein, der Licht anstelle von Mücken in seinem Inneren einschloss. Das Schmuckstück wurde warm und wärmer, bis ich schließlich fürchtete, dass es mich verbrennen würde. Ich wollte es loslassen, aber es klebte an meiner Hand. Erschrocken schüttelte ich sie, doch je mehr ich mich bewegte, desto heißer wurde das Artefakt.

Heilige Scheiße!

Ich riss an dem Auge, aber es saugte sich in meiner Haut fest. Ja, es versank in ihr. In meiner Hand! Dabei ging eine Hitze von dem Artefakt aus, die meinen ganzen Arm zu verbrennen schien. Ich riss die Lederhandschuhe aus der Manteltasche und biss hinein, um nicht die ganze Stadt zusammenzuschreien. Meine Zähne gruben sich tief in das feste Material. Speichel lief an meinem Kinn herunter, aber ausnahmsweise war es mir egal, dass er meinen Designermantel ruinierte.

Endlich ließ der Schmerz nach und ich blinzelte. Erst sah ich nur verschwommen, weil Tränen meine Sicht verschleierten. Dann wurde das Bild klarer und ich erstarrte.

Das Auge war mit mir verschmolzen.

Panisch kratzte ich mit meinen Fingern darüber, versuchte es zu greifen, aber es saß fest.

Verdammt!

Ich war mit einem Artefakt verwachsen.

Fassungslos starrte ich auf meine Handinnenfläche, in der nun das goldene Auge lag. Unschuldig, als wäre es schon immer da gewesen, schaute es zu mir empor.

Was sollte ich jetzt Daan geben?

Ich konnte ihm kaum beichten, dass das Artefakt, welches ich stehlen sollte, nun in meiner Hand war! Am Ende würde er sie mir noch abschlagen und dem Kunden überreichen. Es wäre ihm zuzutrauen, denn Daan Knox war ein Mensch, der auch seine eigene Mutter verkaufen würde, wenn der Preis stimmte.

Ich musste also lügen, was kein Problem sein sollte, denn ich war nicht nur ein Meister im Stehlen, sondern auch ein Meister im Verdrehen der Wahrheit …