Gerlina hatte zahlreiche Verehrer, die nicht müde wurden, sie über die Tanzfläche zu wirbeln. Sie kicherte und schien eine gute Zeit zu haben. Ich würde es ihr so sehr gönnen, aber ich kannte sie besser. All ihre Gedanken waren auf Seraphine gerichtet. Jeder Augenaufschlag, jedes Lachen sollte nur den Schmerz verstecken, den sie in ihrem Inneren fühlte.
Mutter saß mit ihren Männern an einem der Tische und tat so, als würde sie sich bestens amüsieren. Nur Richard, der etwas abseits stand, sah nicht so aus, als hätte er sonderlich viel Spaß. Mürrisch starrte er vor sich hin, während die Hand auf seinem Schwertknauf ruhte, allzeit bereit, vorzustürmen und seine Baronin heldenhaft zu verteidigen. Ich wusste nicht, ob er romantische Gefühle für meine Mutter hegte oder sich mehr versprach, aber in Momenten wie diesen musste ihm klar sein, dass ihr Herz nie nur einem Mann gehören würde. Sie mochte Geralt für seine Ruhe und seine Blumen-Passion. Leonardo hatte ein breites Lächeln und konnte tanzen. Magnus war nicht gerade für seine anregenden Unterhaltungen bekannt. Er sprach nie, dafür hatte er ein verdammt breites Kreuz. Fynn war ein guter Zuhörer und spielte begnadet Geige.
Und Beatrice liebte es, für ihre Männer beneidet zu werden. In Momenten wie diesen badete sie in Aufmerksamkeit, neidischen Blicken und Avancen derer, die sich ihre Zuneigung erhofften.
Ich ging um die Tanzfläche herum zu den Tischen, die etwas abseits standen. Die Frau, die ich suchte, saß alleine und war in ein Cocktailglas vertieft. Für einen Moment beobachtete ich sie einfach nur. Ich spürte, wie sich mein Herzschlag beschleunigte und meine Hände anfingen zu zittern. So konnte ich ihr auf keinen Fall begegnen.
Beruhig dich, Laurelin.
Meine Finger griffen an meinen Hals und fassten auf der Suche nach Halt ins Leere. Jemand hatte mir meine Ketten gestohlen! Alle, auch die meiner Schwester. Wütend wirbelte ich herum.
Wer würde so dumm sein?
Kilian!
Wenn ich den in die Finger bekam!
Für einen Moment war ich mir unsicher, ob ich zu ihr gehen sollte oder erst diesem verfluchten Dieb eine Abreibung verpassen sollte. Doch die Frau nahm mir die Entscheidung ab, indem sie ihren Blick hob. Sie sah mich direkt an und wusste, wer ich war.
»Laurelin de Jong«, lallte sie und ich konnte den Alkohol in ihrer Stimme hören. »Die verfluchte Baronessa.«
Unwillkürlich zuckte ich zusammen, weil ich mich für einen Sekundenbruchteil ertappt fühlte. Allerdings meinte sie nicht das dunkle Erbe meines Vaters. Es gab einige Menschen, die glaubten, meine Haut würde aufgrund eines Fluches so aussehen, wie sie aussah. Es gab sogar Gerüchte, dass ich als Baby von einem Flüsterwesen gebissen wurde. Das war natürlich alles Quatsch. Es war weder Magie noch Krankheit, sondern schlicht und einfach Vitiligo, aber ich war nicht hier, um Aufklärung zu betreiben.
»Vivien Verhoeven«, entgegnete ich mit einem knappen Nicken und trat an ihren Tisch.
»Nehmt doch Platz, Baronessa. Hat Eure Mutter Euch geschickt, um mich zu quälen?«
Sie deutete auf einen freien Stuhl, auf den ich mich setzte. Ich war mir nicht sicher gewesen, was mich erwarten würde, aber blanker Hass wäre mir lieber gewesen als die Trauer, die in ihrem Blick mitschwamm.
»Ich will nur reden.«
Sie nahm einen weiteren Schluck aus ihrem Glas. Dann winkte sie einen Diener herbei und orderte Nachschub. Er eilte von dannen, um ihren Wünschen Folge zu leisten. »Davon kann ich Euch kaum abhalten. Also sagt mir, was Ihr zu sagen habt, und verschwindet wieder zu Eurer Hurenbaronin.«
Trotz ihrer Beleidigungen konnte ich ihr nicht wirklich böse sein. Immerhin war sie auch nur eine Mutter, die ihren Sohn verloren hatte, und ich ahnte, dass vor allem eins aus ihr sprach.
Der Schmerz.
»Wie Ihr Euch denken könnt, bin ich hier, um über den Anschlag zu sprechen«, begann ich, während meine Finger mit den Ringen spielten, wie so oft, wenn ich mich konzentrieren musste.
Vivien Verhoevens Blick musterte mich. »Wart Ihr es? Habt Ihr meinen Sohn getötet?«
Ich schüttelte den Kopf. »Aber ich hätte es getan, um meine Schwester zu retten.«
Sie schluckte. »Ist er schnell gestorben?«
Wieder nickte ich. »Er hat nicht gelitten … Hören Sie, ich möchte herausfinden, was passiert ist.«
Als sie nichts erwiderte, fuhr ich fort.
»Habt Ihr irgendeine Erklärung oder Idee, warum er das gemacht haben könnte?«
»Mein Sohn war nicht gerade bekannt dafür, kluge Entscheidungen zu treffen.«
»Was meint Ihr damit?«
»Nichts. Ich werde sicherlich nicht anfangen, schlecht über meinen toten Jungen zu sprechen.«
Der Kellner kehrte zurück und stellte das neue Glas auf den Tisch. Sofort schlossen sich ihre Finger darum. »Der einzige Grund, warum ich diese verfluchte Party aushalte«, murmelte sie und leerte es in einem Zug. »Auf den Gastgeber. Möge er im Schlaf ersticken! Und deine Mutter gleich mit. Ach, am besten all die verfluchten Barone.« Sie drehte sich zu mir und ihre Augen wurden klein. »Sind wir fertig?«
Ich ignorierte ihre abweisende Art. »Ich kann verstehen, dass Ihr nicht mit mir sprechen wollt, aber möglicherweise wurde Vincent gezwungen, meine Schwester anzugreifen. Was wisst Ihr, Vivien? Ihr könnt mir helfen, den wahren Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen.«
»In dieser Stadt gibt es keine Gerechtigkeit. Erst recht nicht für meinen Sohn.« Sie sah mich mit verhangenen Augen an. »Ich habe nur dieses eine Kind … Deine Mutter hat neun. Wo ist da die Gerechtigkeit?«
»Ich bin Ihre Chance auf Gerechtigkeit«, entgegnete ich. »Ob es Ihnen gefällt oder nicht, wenn Ihr Rache für Euren Sohn wollt, kann nur ich sie Ihnen geben.«
Sie zögerte, nestelte am ausgefransten Ärmel ihres Kleides. Sie hatte es definitiv schon öfter getragen. »Vincent … er … er hatte eine Schwäche für … falsches Glück.«
»Glitzer?«
»Erst dachte ich mir nichts dabei. Immerhin nehmen es viele gelegentlich, um einen guten Abend zu haben, aber bei Vincent war es anders. Er holte es sich immer öfter und irgendwann schien kaum ein Tag zu vergehen, an dem er es sich nicht besorgte. Schließlich schnitt ihm mein Mann den Geldhahn ab. Notgedrungen, denn wir waren pleite. Konnten die Diener nicht mehr bezahlen, drohten unser Haus zu verlieren. Mein Mann warf Vincent raus. Danach war er auf sich allein gestellt.«
Glitzer … War es das, was wir in seinem Blut gefunden hätten? Das, was das Phantom gemeint hatte? Eine direkte Spur zum Baron des Glücks?
Ich sah zu Joris Jonker, der von Gästen belagert wurde. Vielleicht hatte er ihm Glitzer versprochen? Er hätte definitiv ein persönliches Motiv, aber würde er das wagen? Er schien mir wie jemand, der alles tun würde, um seine Macht zu stabilisieren, aber wie würde ihm der Tod meiner Schwester dabei helfen?
Vivien winkte den Diener herbei, der vorausschauenderweise in der Nähe geblieben war und ihr nachschenkte. »Im Herzen war mein Sohn ein guter Kerl. Er suchte mich vor ein paar Tagen auf, entschuldigte sich für seine Ausschweifungen und versprach mir, das Geld, das er uns gestohlen hatte, zurückzuzahlen. Natürlich Unsinn. Woher sollte er plötzlich so viel Geld bekommen, außer vielleicht durch eine Hochzeit? Allerdings bezweifle ich, dass eine lukrative Verbindung zustande gekommen wäre. Es ist nicht unbemerkt geblieben, dass wir finanziell nicht gut ausgestattet sind.«
Und doch war er irgendwie an ein mit Diamanten besetztes Glitzereinhorn gekommen, um uns zu imponieren.
»Glaubt Ihr, dass er sich wirklich ändern wollte?«
»Er hat uns schon hundert Mal versprochen, seine Verfehlungen gutzumachen, und er hat es jedes Mal ernst gemeint. Trotzdem sind wir immer noch pleite. Eine Lachnummer … « Sie betäubte den Schmerz im Alkohol und stand auf. »Was mache ich hier? Niemand interessiert sich für das Schicksal der Verhoevens.«
»Danke für die Zeit«, sagte ich.
»Tut mir leid um deine Schwester. Sie war eine leuchtende Perle im Hause de Jong.«
Sie war mehr als das …
»Ich werde die Verantwortlichen finden.«
»Das glaube ich dir.« Sie sah mich an und für einen Moment klärte sich ihr Blick. »Immerhin ist Laurelin de Jong, die Verfluchte, berühmt-berüchtigt.«
Mit diesen Worten schwankte sie davon.
Ich blieb noch eine Weile sitzen, um nachzudenken.
»Und?«, fragte meine Mutter, die mich offenbar nicht aus den Augen gelassen hatte und sich nun auf den Stuhl setzte, auf dem zuvor Vivien Verhoeven gesessen hatte.
»Ich denke, er wurde manipuliert.«
»Natürlich wurde er das. Er wirkte nicht wie jemand, der fähig war, auch nur seine nächste Woche zu planen. Was nebenbei bemerkt auch der einzige Grund ist, warum ich seine Familie noch nicht dem Erdboden gleichgemacht habe …«
Sie sah Vincents Mutter nach, die auf dem Weg zum Ausgang gestolpert war und nun von einem Diener, an dessen Arm sie sich krallte, hinausgeleitet wurde.
»Du hast Mitleid mit ihr«, stellte ich fest.
Meine Mutter rümpfte die Nase. »Sicher nicht. Nur ist ihr Leben … Strafe genug. Tiefer fallen kann sie kaum und sie töten zu lassen, wäre zu einfach.«
»Ich habe Mitleid«, gestand ich.
»Reiß dich zusammen. Sie ist nicht dein Problem. Außerdem habe ich noch eine andere Aufgabe für dich.«
»Mutter …«
Meinen Protest ignorierend, deutete sie mit dem Kopf auf einen mir wohlbekannten neuen Gast. »Lord Ambrosa ist gerade erschienen und du hast noch etwas gutzumachen.«
»Mutter!«
»Du wirst zu ihm gehen und ihm sagen, dass ich einer Hochzeit mit Gerlina zustimme.«
»Das wirst du nicht.«
»Es ist das Beste für unsere Familie.«
Ich konnte nicht glauben, was ich da hörte. Seit wann waren wir auf solche Mistkerle angewiesen? Wir waren de Jongs, verdammt noch mal!
»Was, wenn ihr das Gleiche passiert wie Seraphine?«
Mutter ließ nicht mit sich reden. »Sieh es als zusätzliche Motivation, den Drahtzieher schnell zu finden.«
»Mutter …«
»Laurelin. Wenn du nicht gehst, verkünde ich es. Hier und jetzt. Vor allen Anwesenden.« Sie funkelte mich an und ich wusste, dass sie es ernst meinte.
Geräuschvoll schob ich den Stuhl beiseite und stiefelte zu Lord Kotzbrocken hinüber, der gerade von jungen Damen umschwärmt wurde, die sicherlich angetaner von ihm waren als meine Schwester.
Gerlina würde ihre Pflicht erfüllen. Sie würde ihn heiraten, da sie Mutter und ihre Konsequenzen fürchtete, aber ich konnte das nicht zulassen. Seraphines Tod zeigte mir, dass auch Mutter nicht alles wusste. Dass auch sie fehlbar war, und ich würde nicht noch eine Schwester verlieren.
»Lord Ambrosa«, unterbrach ich sein Gespräch unhöflich. »Wir müssen reden.«
Unter den schockierten Blicken seiner Fans zog ich ihn mit mir mit.
»Was gibt es?«, fragte er und rümpfte die Nase, als ich ihn aus dem Saal in den Garten schleifte, wo es ruhiger war. Unter einem Baum, in dem grüne Laternen hingen, blieb ich stehen.
»Ich mach es kurz und schmerzlos. Meine Mutter hat über Eure Worte nachgedacht und würde eine Bindung unserer Häuser sehr begrüßen.«
Die Falten auf seiner Stirn verschwanden und er erstrahlte. »Wie wunderbar. Wo ist Eure entzückende, kleine Schwester?«
»Oh, Ihr werdet nicht Gerlina heiraten …«
»Nein?« Das Lachen fiel in sich zusammen.
Ich schenkte ihm meinen liebsten Augenaufschlag. »Sondern mich.«