Laurelin de Jong

Der Dieb verließ das Gasthaus Zur letzten Ruh in einem zartgelben Rock, Spitzenhandschuhen, einem edlen Mäntelchen und wallenden roten Haaren. Er war kaum wiederzuerkennen und ich musste zwei Mal hinsehen, um wirklich sicher zu sein. Hätte meine Motte mich nicht zu ihm geführt, hätte ich ihn niemals erkannt. Seine Ausstrahlung. Seine Bewegung. Die Art, wie er seine Handtasche hielt oder sich die Haare aus dem Gesicht strich. Es wirkte so authentisch, dass ich mir sicher war, dass er diese Verkleidung nicht zum ersten Mal ausprobierte.

Er stellte sich sogar auf die Zehenspitzen, um ein Taxi herbeizuwinken, und es dauerte nicht lange, bis er Erfolg hatte. Dann ließ er sich in das Fürstentum der Zufriedenheit chauffieren, wo er einige Zeit in Läden und auf Märkten verbrachte, welche er mit gefüllten Tüten verließ. Es war faszinierend zu beobachten, wie geschickt er vorging. Stets kaufte er etwas Günstiges, während er seine Taschen heimlich mit teuren Dingen füllte, und die Ladenbesitzer, ganz angetan von seiner Erscheinung, hielten ihm oft noch die Tür auf, wenn er ging.

Als Taxifahrerin verkleidet, um ihn unauffällig beschatten zu können, hatte ich meinen Arm aus dem Fenster gelehnt und wartete darauf, dass der Dieb endlich wieder aus einem Seifenladen herauskam, in dem er sich unendlich viel Zeit ließ, als mich plötzlich ein Junge ansprach. »Hey! Wie siehst du denn aus?«

Gelangweilt drehte ich meinen Kopf und sah in wässrig blaue Augen, die mich herausfordernd anblitzten.

»Hast du vergessen, dich zu waschen, oder was?« Er grinste und deutete auf mein Gesicht. Diese Art von Scherzen kannte ich zur Genüge, und während ich sie früher noch als verletzend empfunden hatte, kleine Papierschnitte, die sich summierten und wehtaten, perlten sie mittlerweile einfach von mir ab.

»Nein, ich bin verflucht«, entgegnete ich trocken.

»Von einem Kuhdämon?« Der kleine Hosenscheißer hielt sich für besonders lustig. Begeistert von seinem eigenen Witz lachte er sich ins Fäustchen.

Sollte ich es ihm erklären? Ein Versuch konnte nicht schaden. »Hör mal zu, Junge. Meine Haut ist ganz normal so, wie sie ist.«

»Aber schön ist es nicht.«

»Mir gefällt es.« Was hatten die Leute immer mit meiner Haut?

»Muuuuuuuh!«

»Es ist eine genetische Mutation, die …«

»Eine genetische Muuuuuh -tation«, unterbrach er mich.

Es war zwecklos. Ich kurbelte das Fenster am Taxi hoch, aber der Junge klebte Sekunden später an der Scheibe und hielt sich seine Zeigefinger wie Hörner an die Stirn.

»Muuuuuuuuh!«

Der Dieb war immer noch im Laden. Ich hätte also genug Zeit, dem Knirps eine Lektion zu erteilen.

Lass es, Laurelin. Er ist der Mühe nicht wert.

»Muuuuuuh!«

Ich hatte es im Guten versucht. Wirklich! Aber jetzt war meine Geduld am Ende. Dieser Kerl hatte einen Denkanstoß verdient. Eine Halbdämonin konnte sich schließlich nicht alles bieten lassen! Schwungvoll öffnete ich die Taxitür, rückte Uniform und Mütze meiner eigenen Verkleidung zurecht und trat heraus.

»Oh. Was willst du jetzt tun, Frau Taxifahrerin?«, fragte der Bengel, als ich ihn am Kragen packte und in die Luft wuchtete. Er strampelte mit den Beinen, aber ich ließ ihn nicht los, sondern trug ihn geradewegs auf die nächste Gracht zu. »Lass mich los! Ich befehle es!«

»Oh, du befiehlst es?« Belustigt hob ich meine Augenbraue.

»Ich komme aus einer sehr angesehenen Familie hier im Bezirk! Den Salazars. Ja, du hörst ganz recht. Die Salazars. Wenn mein Vater das erfährt, dann …«

»Wird er erfahren, wie respektlos sein Sohn ist, und er wird mich auf Knien um Vergebung bitten.« Ich ließ ihn los und mit einem Platsch versank er im Wasser des Kanals. Als er prustend auftauchte, hatte sich sein Gemüt noch nicht beruhigt. Fluchend reckte er seinen Kopf aus dem Wasser.

»Wer bist du? Sag mir deinen Namen, damit ich ihn auf deinen Grabstein schreiben kann!«

»Baronessa Laurelin de Jong«, verkündete ich und lüftete meine Mütze für ihn.

»Bist du nicht … Warum sollte eine Baronessa Taxi fahren?«

»Das ist mein Hobby. Auch mächtige Menschen haben Hobbys. Meins ist Taxi fahren.«

Seine Augen wurden groß, während er über meine Worte nachdachte. Ich wartete nicht ab, zu welchem Ergebnis er kam, sondern stolzierte davon. Wenig später ließ ich mich seufzend zurück auf den Sitz des Autos fallen, gerade rechtzeitig, als der Dieb aus dem Laden stürmte.

Jemanden zu beobachten, kann einem viel über diese Person verraten, aber aus dem Dieb wurde ich nicht schlau. Er hatte sich mittlerweile in das Fürstentum des Glücks bringen lassen, wo er eine geschlagene halbe Stunde mit dem Wachmann vor der Villa des Barons flirtete.

Was wollte er jetzt schon wieder hier?

Einbrechen?

Oder war er erneut wegen der Elfe hier?

Meine Fingerspitzen fuhren über die Messerklingen, die ich bei mir trug. Ich sollte es schnell machen. Schnell und schmerzlos. Mein Problem einfach aus dem Weg schaffen, aber … das war nicht meine Art.

Mutter hat recht, Laurelin!

Wenn er jemandem davon erzählen würde, wer oder was ich war, würde man mir die Fessel anlegen, die alle Flüsterwesen zum Schutz erhielten, und meine Mutter dafür verurteilen, dass sie sich mit einem Dämon eingelassen hatte. Das würde sie natürlich nicht auf sich sitzen lassen, aber es könnte ihre Position destabilisieren. Die anderen Barone würden jede Chance nutzen, jedes Anzeichen von Schwäche, um sich selbst mehr Gebiet und Macht einzuverleiben.

Das war Amsterlock, die Stadt, in der nur die Stärksten und Skrupellosesten gewinnen konnten.

Ich hatte keine Wahl. Ich musste ihn zum Schweigen bringen.

Endlich wandte er sich von den Wachleuten ab und winkte nach einem Taxi. Das war meine Chance. Die Dunkelheit in mir regte sich, leckte sich mit der Zunge über die Lippen und rief nach seinem Blut. Meine Hände zitterten, als ich die Klinge verstaute. Um sie zu beruhigen, umklammerte ich das lederne Lenkrad fester als nötig. Meine Haare hatte ich zu einem straffen Zopf gebunden, die geflügelte Kappe tief ins Gesicht gezogen.

Ohne Verdacht zu schöpfen, stieg er in mein Auto, dessen eigentlicher Besitzer sich gerade auf meine Kosten einen freien Tag machte.

»Bitte zum Gasthaus Zur letzten Ruh «, säuselte er mit hoher Stimme, während er den Berg an Tüten auf den Sitz neben sich hievte. Dann streifte er sich die Schuhe von den Füßen.

»Mhm«, brummte ich und fuhr los. Niemand wunderte sich, wenn eine Taxifahrerin nicht sonderlich gesprächig war, denn sie waren überlastet, chronisch unterbezahlt und allgemein bekannt für ihre genervte Grundstimmung.

Der Dieb streckte seine Nase in eine der Tüten und zog eine kleine Box mit Kuchen heraus. Er öffnete sie, angelte ein Stück heraus und schob es sich in den Mund. Dann streckte er sich genüsslich und schloss die Augen, während er seine Mahlzeit genoss. Nicht wissend, dass es seine Henkersmahlzeit sein könnte.

»Auch etwas Kuchen?«, fragte er gönnerhaft.

Ich schüttelte den Kopf.

»Er ist wirklich fantastisch.«

Während er sich ganz seinem Kuchen hingab, lenkte ich das Taxi durch eines der ärmeren Fischerviertel zu einem abgelegenen Hafen. Dort wartete bereits eine Fähre, die Sleepy Siren , deren Ladefläche wie ein breiter Schlund geöffnet war. Sie wirkte gespenstisch verlassen, da weder andere Autos noch die Crew zu sehen waren. So als würde das Schiff nur darauf warten, uns zu verschlingen.

Und so war es auch.

Das Ruckeln des Taxis, als wir auf der verrosteten Rampe aufsetzten, ließ den Dieb hochschrecken. Dabei vergaß er sogar vor Schreck, mit seiner weiblichen Stimme zu sprechen.

»Hey, wo sind wir?«

»Ganz ruhig. Ist ’ne Abkürzung«, sagte ich amüsiert.

»Sicher nicht.« Er rüttelte an der Tür. Vergebens. Sie war abgeschlossen, dafür hatte ich gesorgt. »Was soll das? Wer bist du?«

Ich schnippte mir meine Kappe aus dem Gesicht und grinste in den Rückspiegel. Als sich unsere Blicke trafen, schluckte er schwer.

»Du … musst mich verwechseln«, stotterte er und zupfte an seiner Perücke. »Ich bin bloß auf der Durchreise hier, niemand Wichtiges, aber ich wurde schon öfter gefragt, ob ich einen Bruder hier hätte. Offenbar sehe ich jemandem zum Verwechseln ähnlich.«

Im Bauch des Schiffes hielt ich das Auto an. Zeitgleich schloss sich die Schiffsluke wie von Geisterhand, woraufhin es noch trüber im Inneren wurde. Durch die Schatten huschten hochgewachsene Gestalten, verschwanden hinter Türen, drehten an Rädern und bereiteten alles zum Auslaufen vor.

»Ich weiß genau, wer du bist, Dieb«, verkündete ich und meine Finger tasteten erneut nach den Klingen.

Er kaute auf seiner Unterlippe und kam offensichtlich zu dem Schluss, dass es sinnlos war, weiter zu lügen. »Ein Taxioutfit? Ernsthaft? Locken Dämonen so ihre ahnungslosen Opfer in die Falle?«

»Hast du dich mal angesehen?«, konterte ich.

Er zupfte würdevoll an seinem gelben Rock. »Ich finde, dieses Outfit steht mir ausgezeichnet.«

»Steig aus.« Ich deaktivierte die Zentralverriegelung und öffnete die Tür. Der vertraute Geruch von Motoröl, Gummi und Meeresluft schlug mir entgegen, eine Kombination, die ich mit Freiheit verband, denn hier auf der Sleepy Siren durfte ich sein, wer ich wollte.

»Danke. Ich bleibe lieber sitzen und genieße den Rest meines Kuchens«, murmelte der Dieb und krallte sich an seine Taschen.

»Du hast keine Wahl.« Mit diesen Worten stieg ich aus dem Auto und öffnete die Tür auf seiner Seite.

»Willst du mich etwa töten?« Er starrte auf das Messer in meiner Hand.

»Das überlege ich noch.« Es wäre das Klügste. Das, was meine Pflicht von mir verlangte, und trotzdem zögerte ich. »Warum hast du es nicht getan? Mich getötet?«

»Ein Moment der Schwäche«, murmelte er.

Hier standen wir also. Wir waren auf unterschiedlichen Seiten, und auch wenn klar war, was wir hätten tun sollen, hatten wir es nicht getan.

Töte ihn , rief die Dunkelheit in mir.

In dem Moment röhrte der Motor der Fähre auf und das Schiff setzte sich schnaufend in Bewegung. Das war der Augenblick, in dem der Dieb beschloss, alles auf eine Karte zu setzen. Aus seiner Handtasche zog er eine Maske, die er sich über den Kopf zog.

»Was soll …?«

Im selben Moment warf er mir etwas vor die Füße. Es explodierte und dunkler Rauch, eine grauschwarze Wolke, wuchs rasend schnell an und verschluckte uns, das Taxi und den Bauch des Schiffes. Der Gestank von Essig stach mir in die Nase. Meine Augen brannten und schon verdunkelte sich meine Sicht.

Ich war blind.

»Vorsicht!«, brüllte ich der Crew zu, als ich zur Seite gestoßen wurde. Als ich auf dem Boden aufschlug, schoss Schmerz durch meinen Ellbogen. Meine Klinge flog mir aus der Hand. Schritte entfernten sich. Schnell und zielsicher. Irgendwo hörte ich jemanden stöhnen, offensichtlich ebenso wie ich gefangen im dunklen Nebel.

Ich drehte an meinem Siegelring und stach mir in die Haut. »Erwache und sei mein Augenlicht.«

Der Tropfen nahm Form an und die Blutmotte streckte ihre Flügel. Die Antennen strichen mir beruhigend über die Haut. Mach dir keine Sorgen , sagte sie. Dann hob die Motte ab und flog voraus, durch die dichten Wolken.

Ich folgte ihr, allerdings nicht schnell genug.

Der Dieb stieß eine Tür auf und kletterte die Leiter dahinter zum Deck empor. Meine Motte war ihm auf den Fersen, huschte lautlos hinter ihm her. Ihre Antennen streiften bereits seinen Nacken, aber in diesem Moment öffnete er die Luke und gleißendes Licht kam uns entgegen. Ehe ich es verhindern konnte, zerfiel meine Motte zu dunkel glänzendem Staub, der mit dem Wind davongetragen wurde, und ich stand wieder in der Finsternis, umgeben von bitterem Essiggeruch, der mir in den Augen brannte.

Aber der Dieb würde nicht weit kommen.

Denn ich war nicht allein.