Laurelin de Jong

Dem stechenden Geruch nach zu urteilen hatte mich der Dieb in eine öffentliche Toilette geführt. Angeekelt verzog ich das Gesicht. Niemand, der in Amsterlock bei klarem Verstand war, besuchte einen solchen Ort.

Mit Ausnahme von Kakerlaken und Ratten.

»Was wollen wir hier?«, fragte ich, während ich vorsichtig einen Schritt vor machte. Der Boden klebte unter meinen Schuhen.

»Wasch dir deine Augen aus«, sagte der Dieb und nahm mich am Arm.

»Bloß nicht. Weißt du, wie viele Keime in den Rohrsystemen lauern?« Dem Geruch nach eine Menge. »Am Ende bekomm ich noch eine Augenentzündung.«

»Jetzt stell dich nicht so an, Baronessa. In schlechten Zeiten habe ich das Wasser hier schon getrunken.«

»Und überlebt?«, fragte ich skeptisch.

»Natürlich.« Leise murmelnd ergänzte er: »Mit einer fiesen Magen-Darm-Infektion …«

»Gib mir einfach das Antidot.«

»Das Antidot ist Wasser.«

»Wie bitte?«

»Na los. Mach schon.« Er drehte einen der Wasserhähne auf und schob mich vor.

»Das ist alles?«

»Ja.«

Ich sollte ihm den Hals dafür umdrehen, dass er mich blind durch halb Amsterlock geschleift hatte. Seit Stunden ertrug ich das Jucken und Brennen in meinen Augen. Dabei hätte ich sie einfach nur auswaschen müssen!

Meine Finger suchten nach dem kalten Strahl, bevor ich äußerst widerwillig mein Gesicht darunterhielt. Das abgestandene Wasser schwemmte die Schmerzen davon, die sich angefühlt hatten, als würden Tausende beißende Staubkörner auf meiner Iris sitzen, und versenkte sie im Abfluss. Mit jedem Tropfen kehrte meine Sicht zurück und mit ihr meine Erleichterung, die Kontrolle über die Situation wiederzuerlangen.

Quintus stand vor mir, arrogant und selbstverliebt, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Er trug die gleiche Uniform, die auch ich angelegt hatte. »Und? Alles gut?«

»Ja.« Meine Finger juckten und kurz überlegte ich, ihm für die Nachtbombe doch noch ein klein bisschen den Hals umzudrehen.

»Siehst du? Alles kein Problem.« Er zwinkerte mir zu, bevor er sich dem dreckigen Spiegel zuwandte, um sein Aussehen zu kontrollieren. Wie eitel konnte man sein!

»Also? Wie kommen wir in die Villa?«

»Durch einen Geheimgang. Direkt hier.«

»In einer öffentlichen Toilette?«

»Der Architekt der Villa des Glücks hatte ein Faible für Toiletten.« Mit den Worten wandte er sich schwungvoll vom Spiegel ab, schritt durch den gefliesten Raum und stieß eine Tür auf, auf der »Nur für Personal« stand. Dahinter lag eine Putzkammer, die allerdings nicht mehr enthielt als einen verstaubten Eimer, in dem es sich bereits die Spinnen gemütlich gemacht hatte, sowie einen zerfledderten Besen.

Quintus schloss die Tür hinter uns und ging auf die Wand zu. Er stellte sich auf die Zehenspitzen und seine Finger glitten den verstaubten Rahmen des Fensters entlang. Plötzlich ertönte ein Klicken und die Fliesen unter unseren Füßen bewegten sich und klappten einfach zur Seite. Ich sprang gerade noch rechtzeitig zurück und drückte mich an die Wand. Als das Ruckeln nachließ, befand sich zwischen uns ein eckiges Loch, in das eine Treppe hinunterführte und in einem Tunnel endete.

»Nach Euch, Baronessa«, verkündete er und deutete eine Verbeugung an, als würde er mich auf eine Tanzfläche einladen.

»Oh nein. Du gehst vor.«

»Und ich dachte, wir vertrauen uns mittlerweile.« Seufzend gab er nach und stieg als Erster die Stufen hinab. Nach ein paar Schritten blieb er stehen, um mir eine helfende Hand zu reichen. Ich zog ungläubig die Augenbraue hoch, woraufhin er feixte: »Ich will Euch nur davor bewahren zu fallen, Baronessa.«

Alles an ihm strahlte eine gewisse Arroganz aus. Sein schiefes Grinsen, die Art, wie er sich die Kappe abnahm, um sicherzugehen, dass die Haare darunter noch perfekt lagen, und seine Bewegungen.

»Wie fürsorglich, aber ich komm schon klar«, brummte ich und schob seine angebotene Hand weg. Dann streifte ich die Lederhandschuhe ab, um mir mit meinem Siegelring in den Finger zu stechen. Ein Blutstropfen wuchs aus der Eintrittsstelle empor und kurz darauf formten sich Flügel. Eine Motte hob von meinem Finger ab und flatterte an Quintus vorbei in den dunklen Gang. Ich genoss die Sekunde, in der ihm sein überheblicher Gesichtsausdruck entgleiste und er sich erinnerte, was ich wirklich war. »Wollen wir los?«

Etwas blasser als zuvor fummelte er in seinen Taschen, fand aber nicht, wonach er gesucht hatte. »Ähm … Du musst doch vorgehen.«

»Warum?«

»Ich hab kein Licht dabei und du scheinst durch deine Motten im Dunkeln hervorragend zurechtzukommen.«

»Schön.« Zur Sicherheit stach ich mir ein weiteres Mal in den Finger, um Quintus im Blick behalten zu können. Er zuckte zusammen, als sich die Motte auf seine Schulter niederließ.

Jetzt schenkte ich ihm ein arrogantes Lächeln. »Keine Sorge, sie beißt nicht.«

»Nein, sie saugt mich aus. Das ist ja so viel besser …«

»Eigentlich ist sie ganz lieb.« Wie um das zu bestätigen, strich die Motte mit ihren weichen Fühlern über seine Wange. Eine freundschaftliche Geste, aber Quintus entwich ein entsetzter Aufschrei.

Ich verdrehte die Augen und drängte mich an ihm vorbei in den finsteren Gang. Wie immer empfing mich die Dunkelheit wie eine alte Vertraute und mit jedem Schritt, den ich weiter in ihre Arme trat, wurde mein Flüsterblut stärker. Die Motten führten jeden meiner Schritte. Durch sie fand ich mich zurecht, sah den tanzenden Staub, der sich in den letzten Jahren hier angehäuft hatte, ebenso wie die Spinnen, die sich hier zurückgezogen hatten, in der Hoffnung auf verirrte Beute. Eine kam hoffnungsvoll aus ihrem Versteck, als die Flügel meiner Blutmotte ihr Netz streiften, aber anstelle eines Leckerbissens traf sie auf Quintus, der in ihr Netz hineinstolperte und aufschrie, als das haarige Tier über sein Gesicht flitzte. Fluchend schlug er um sich.

»Du genießt das, oder, Baronessa?«, keuchte er und schrak erneut zusammen, als der Rest des Spinnennetzes in sein Gesicht wehte. Vor Schreck stolperte er gegen eine Wand und stieß eine weitere Serie an Flüchen aus.

»Ja, schon«, kicherte ich. Süße Genugtuung für meine temporäre Blindheit war es allemal. Trotzdem war ich kein Monster und hatte Erbarmen. Ich zupfte die empörte Spinne aus seinem Haar und griff seine Hand. Als sich unsere Finger berührten, zuckte Quintus zusammen.

»Komm, ich führe dich. Oder willst du lieber weiterhin jede Wand mitnehmen, die sich dir in den Weg stellt?«

Seine Anspannung ließ ein wenig nach und er nickte. »Okay … Danke.«

Schweigend gingen wir weiter, Hand in Hand durch den Gang, bis wir eine Tür erreichten. Ich hob einen Deckel an, von dem mit einem lauten Krachen etwas herunterrutschte und auf dem Boden aufschlug. Ich erschrak, als ich einen brüchigen Totenkopf erkannte.

»Wo sind wir hier?«, fragte ich, während sich meine Motten aufmachten, um den Raum zu erkunden. Es war feucht, kalt, und ein stechender Geruch, den ich nicht einordnen konnte, lag in der Luft, vermengt mit einer Note, die ich sofort erkannte.

Frisches Blut.

»Der Keller des Anwesens«, entgegnete Quintus, der nun ebenfalls seinen Kopf aus der Truhe steckte und seine Nase rümpfte.

»Da liegen Knochen …« Ich deutete auf einen Haufen abgenagter Skelettüberbleibsel.

»Die waren das letzte Mal noch nicht da. Sind die etwa … menschlich?«

Ich nickte. »Einige davon.«

Uns überkam zeitgleich ein Schauer. Keiner von uns wollte sich bewegen, die sichere Truhe verlassen und herausfinden, warum der Baron des Glücks einen Keller voller Toter hatte. Die Motten kehrten zu mir zurück, flatterten um meinen Kopf, ließen sich auf meiner Schulter nieder und pressten ihre weichen Körper an meine Ohren. Sie berichteten mir von Unrat und weiteren Knochen, die sich in den Schatten stapelten.

Und sonst? , fragte ich. Was habt ihr gesehen?

Gefahr! , lautete die Antwort. Hinter einem Haufen aus Schrott. Schlafend.

»Das hier ist ein Gefängnis«, erklärte ich dem Dieb und deutete auf die Gitterstäbe, die einen Teil des Kellers abriegelten. »Und wir sind mittendrin.«

»Was wird hier eingesperrt?« Quintus konnte seinen Blick nicht von den Knochen reißen, die zwischen Gerümpel auf dem Boden lagen.

»Wachhunde? Wölfe? Ich weiß es nicht. Aber wir sollten uns besser beeilen …«

»Okay.«

So leise wie möglich kletterten wir aus der Kiste und folgten den Gittern. Zerklüftete Steine bedeckten den Boden und boten zahlreiche Möglichkeiten, sich zu verstecken. Meine Motten schwirrten nervös um meinen Kopf, streifen meine Haare und flüsterten mir zu, zu verschwinden.

Endlich erreichten wir eine Tür, die durch ein solides Schloss zusammengehalten wurde. Quintus machte sich sofort daran, es zu knacken. Etwas, worin er sehr geschickt war. Schon sprang das Schloss mit einem leisen Klicken auseinander und die Tür schwang auf.

»Puh! Das ist gut gegangen«, flüsterte ich erleichtert, als wir uns in Sicherheit brachten.

»Hoffen wir, das, was auch immer hier unten ist, auch noch schläft, wenn wir zurückkommen«, murmelte Quintus.