Laurelin de Jong

Wir stürmten hinaus auf die Straße, wo es mittlerweile dunkel war. Eine feiernde Gruppe Jugendlicher saß nicht weit entfernt auf einer Bank, um einen schnaufenden Oktölpus geschart. Ihrer Stimmung nach zu urteilen würde es mich nicht wundern, wenn sie etwas gestreckten Glitzer intus hatten. Zum Glück schenkten sie uns keine Beachtung.

Die Villa des Glücks lag still und ruhig da. Bisher ließ nichts auf die Unruhe schließen, die unsere Anwesenheit und die Entführung der Baronessa zweifellos verursacht hatte.

»Komm schon.« Ich zerrte Ophelia vom Toilettenhaus fort, die Straße hinunter zum Taxi. Sie biss die Zähne zusammen, wehrte sich aber nicht. Als wir den Wagen fast erreicht hatten, ertönte schließlich eine schrille Sirene vom Anwesen aus. Die Wachen hatten Alarm geschlagen.

»Schneller!«, trieb ich die Gruppe an und entriegelte das Taxi.

Quintus, der seit dem Vorfall mit der Bestie überraschend wenig gesagt hatte, wollte auf die Fahrerseite klettern, aber er schien noch immer nicht ganz Herr seiner Sinne zu sein. Also dirigierte ich ihn stattdessen auf den Beifahrersitz und wies Zori an, mit unserer Gefangenen auf der Rückbank Platz zu nehmen.

Dann zündete ich den Motor und brachte mit quietschenden Reifen Abstand zwischen uns und das Grauen, das wir in der Villa erlebt hatten. Der Treffpunkt, den ich mit den Undinen vereinbart hatte, war nicht weit von hier entfernt und ich war fest entschlossen, so schnell wie möglich dort anzukommen.

Quintus schien andere Pläne zu haben. Er erwachte plötzlich aus seiner Starre und drehte sich ruckartig zu Ophelia um. In seinem Blick lag nicht länger Schock oder Angst, sondern etwas Wilderes, das ich so bei ihm noch nicht gesehen hatte.

»Was macht diese Bestie in eurem Keller?«

»Jeder hat Haustiere«, antwortete Ophelia unschuldig, was Quintus noch wütender machte.

»Hast du gesehen, was dieses Monster gemacht hat?«

»Na ja. Darum war es ja eingesperrt. Die Toten gehen auf eure Kappe.«

Das brachte das Fass endgültig zum Überlaufen. Der Dieb lehnte sich über die Sitze, um sie am Kragen zu packen.

»Lass mich los!«, rief sie und versuchte sich mit ihrem Stock gegen ihn zu wehren.

»Quintus!«, rief nun auch Zori und versuchte ihn zu beruhigen, aber es war vergeblich. Der Dieb war wie in Rage und schüttelte die Baronessa.

»Hey, ich muss fahren!«, erinnerte ich alle Beteiligten, als Quintus gegen mich krachte und wir fast von der Fahrbahn abkamen.

Wir erreichten die Straße parallel zu einer Gracht, die unser Ziel war. Die Sleepy Siren hatte bereits angelegt und die Undinen ließen die Rampe runter, als sie uns sahen.

»Lass mich in Ruhe!«, rief Ophelia und donnerte Quintus, der gar nicht daran dachte, sich zu beruhigen, ihren Stock ins Gesicht.

»Ich weiß genau, was du getan hast!«, brüllte er.

»Wovon sprichst du?«

Das hätte ich auch gerne gewusst. Ich trat auf die Bremse und riss gleichzeitig das Lenkrad rum, um das Taxi zu drehen. Schlingernd fuhren wir auf den Steg und ich drosselte die Geschwindigkeit, als wir auf die Fähre fuhren. Kaum verschwanden wir in ihrem verrosteten Bauch, kletterte Quintus nach hinten. Seine Finger schlossen sich um Ophelias Kehle und drückten zu.

»Hör auf, Quin!«, rief Zori, aber er schien sie nicht zu hören.

Jetzt reichte es mir. Immerhin war sie meine Gefangene und ich war noch nicht fertig damit, sie zu verhören.

Eine Vollbremsung brachte den Wagen zum Stehen. Ich sprang heraus und riss die Hintertür auf. Ophelia kippte mir entgegen, Quintus, der sie weiter würgte, auf sie drauf. Ich ging gerade noch rechtzeitig einen Schritt zurück, um nicht von den Streithähnen begraben zu werden.

»Alles okay?«, fragte Pix, einer der Undinen, die zur Mannschaft der Sleepy Siren gehörten.

»Ja, legt ab. Ich kümmere mich um die beiden!«, rief ich ihm zu und packte Quintus am Kragen, um ihn von der keuchenden Ophelia zu ziehen. Entschlossen fixierte ich ihn auf dem Boden, aber er strampelte und wehrte sich mit Leibeskräften. Sein Gesicht war hochrot, die Kappe hatte er beim Kampf verloren und seine sonst immer so top gestylten Haare standen in alle Richtungen ab.

»Was ist los mit dir?«, brüllte ich ihn an und verpasste ihm eine Ohrfeige, um ihn zur Vernunft zu bringen. »Ich dachte, du bist gegen das Umbringen von Leuten.«

»Das hier ist etwas anderes«, rief er.

»Warum?«

Er biss sich auf die Lippe, antwortete aber nicht. Erst als Zori an seiner Seite erschien, verschwand ein wenig von der Mordlust aus seinem Blick.

»Was ist los?«, fragte sie sanft. Die Elfe schien eine besondere Verbindung zu ihm zu haben, denn als sie die Hand auf seine Schulter legte, beruhigte er sich und lehnte sich schwer atmend gegen das Taxi. »Sag uns, was los ist. Warum bist du so wütend?«

Sein Blick wanderte zu Ophelia, die darauf bedacht war, Abstand von ihm zu halten. Sie sah ebenfalls ziemlich mitgenommen aus. Ihre blonden Haare hatten sich aus dem Knoten gelöst und fielen ihr in wirren Locken über die Schulter. Ihr Kleid war zerknittert. Ihr Gesicht verquollen.

»Meine Familie … Sie wurde ermordet. Von dieser Bestie«, flüsterte Quintus.

»Deine Familie?«, fragte Ophelia verwirrt.

»Ja. Meine Familie! Meine Mutter, mein Vater und meine Schwester. Erinnerst du dich etwa nicht an sie? Habt ihr so schnell vergessen, auf welchen Knochen ihr euer Imperium errichtet habt?«

Plötzlich wurde Ophelia blass. »Quintus …«

»Ja.«

»Du lebst …«

»Überraschung!« Seine Lippen waren eine schmale Linie, als er den Kragen seines Hemdes verrückte, damit man die Narben sah, die seinen Rücken zierten. Offenbar Stellen, wo ihn das Monster für immer gezeichnet hatte.

»Es ist nicht so, wie du denkst.«

»Ich glaube, es ist genau so, wie ich denke. Es ist mehr als offensichtlich, wenn ich so drüber nachdenke. Auch wenn ich es nie für möglich gehalten hätte, dass ihr dazu in der Lage wart. Wir waren Freunde.«

»Quin …«, stotterte Ophelia. »Ich schwöre, ich habe nichts davon gewusst. Das hätte ich niemals zugelassen.«

»Moment mal! Bitte noch mal für alle zum Mitschreiben! Was ist hier los?«, schaltete ich mich ein. Irgendwie hatte ich das Gefühl, eine wichtige Information verpasst zu haben.

»Er ist Quintus Alexander Darawick.«

Bei dem Namen zuckte er merklich zusammen. Darawick . In meinem Kopf klingelte eine Erinnerung. »Du bist der Sohn der ehemaligen Baronin des Glücks …«

Und somit der letzte Darawick und rechtmäßige Erbe des Fürstentums des Glücks. Uhhh! Das würde Joris Jonker und den anderen Baronen nicht gefallen! Ophelia hingegen konnte den Blick nicht von ihm lassen.

»Jahrelang dachte ich, ein Dämon hätte meine Familie ermordet, dabei war es nur ein Monster, welches viel größeren Monstern diente.«

»Aber nicht uns … Quin! Nicht mir. Wir waren Freunde. Hätte ich davon gewusst, ich hätte dich gewarnt, aber ich war nur ein Kind. Wir beide waren nur Kinder.«

Quintus sah auf, und als er weitersprach, zitterte seine Stimme. »Wer war es dann?«

»Der Berserker, so nennt sich die Kreatur in unserem Keller, sie wurde nicht von uns geschickt, sondern von jemand anderem. Jemand Mächtigem, der euren Tod wollte.«

Quintus’ Fäuste ballten sich so stark, dass sie zitterten. »Einem der Barone?«

»Ja …«

»Kein Baron darf einen anderen töten.«

»Es sei denn, alle anderen sind sich einig. Dann gucken sie auch mal weg«, ergänzte ich und mein Herz sank. Diese Schuld hatten unsere Eltern auf sich geladen und würden sie nun an uns weiterreichen.

Ophelia holte tief Luft. »Nach eurem Tod übernahm mein Vater die Geschäfte, aber er wusste, dass die Barone planten, auch ihn abzusetzen und das Fürstentum unter sich aufzuteilen. Wir glaubten nicht, dass wir diesem Schicksal entkommen würden, bis wir herausfanden, wie man sich Glitzer zunutze machen konnte.«

»Wenn das stimmt«, flüsterte Quintus, »warum ist der Berserker dann in eurem Keller?«

»Sein Besitzer hat ihn zurückgelassen. Wir wissen nicht genau warum. Vielleicht um uns zu erinnern, was mit uns passiert, wenn wir zu sehr aus der Reihe tanzen. Vielleicht war es ein Versehen, denn Berserker verfallen nach einer großen Mahlzeit in einen komaähnlichen Schlaf, der tagelang anhält. Als Vater und seine Leute ihn fanden, schlief er. Sie wussten, dass sie ihn nicht kontrollieren können, darum sperrten sie ihn ein.«

Ich kannte mich nicht besonders gut mit Berserkern aus, aber ich hatte mal einen bei einer Show gesehen und wusste, dass sie von klein auf an einen Zähmer, eine Art Pfeife, gewöhnt wurden. Nur wenn man in Besitz dieses Gegenstandes war, konnte man ihn steuern.

Quintus’ Anspannung ließ nach und er erschlaffte, fiel einfach in sich zusammen, und ein Schluchzen entwich seiner Kehle.

»Quin …«, versuchte es Ophelia erneut. »Es tut mir so leid.«

»Lass ihn, Baronessa«, mischte ich mich ein. Dann half ich ihr hoch, um sie wegzuführen. Der Dieb sah so aus, als könnte er einen Moment für sich alleine gebrauchen.