Zori

Quintus und ich saßen zusammen mit zwei Undinen an Deck, den Sternenhimmel über unseren Köpfen. Mit seiner endlosen Weite versprach er Freiheit und, wenn man sich zu lange in seinem Anblick verlor, vergaß man all seine Probleme. Sie lösten sich einfach auf, die Welt verschwamm und man flog mit der Unendlichkeit. Zumindest stellte ich es mir so vor.

In Wahrheit waren die Päckchen unserer Vergangenheit noch da und die Trauer, die ich mit Quintus teilte, ließ sich nicht so leicht abschütteln. Trotzdem fühlte ich mich besser, nachdem ich mit jemand anderem als Glückspilz darüber geredet hatte.

Als hätte der Puck meine Gedanken erraten, hob er seinen Kopf. Ich habe dir immer zugehört. Zu meinem Katzenjammer!

Ich rollte die Augen. Genau das meinte ich. Bei Quintus hatte ich nicht nur das Gefühl, dass er meine Geschichte gehört hatte. Er hatte sie verstanden.

»Du schummelst. Ich kann es riechen!«, rief die Undine Lyri erzürnt. Sie hatte blonde Haare mit hellblauen Strähnen darin, die ihre Augen in derselben Farbe zur Geltung brachten. Der Zweite war Pix. Ein Undin mit braungrünen Haaren. Beide trugen wie für Undinen typisch kaum Kleidung. Dafür war ihre schuppige Haut mit wasserfester, glänzender Farbe in verschiedenen Blau-, Grau- und Grüntönen bemalt, die für das Meer standen.

»Ich schummele nicht. Ich gewinne«, verkündete Quintus zwinkernd und enthüllte mit einem einnehmenden Lächeln seine Karten. Seine Augen glänzten, denn er war ganz in seinem Element. So sehr, dass ihn nicht einmal die widerspenstige, rote Haarsträhne, die ihm immer wieder ins Gesicht fiel, zu stören schien.

Lyri ließ sich nicht einlullen. »Weißt du, was wir mit Betrügern machen? Wir werfen sie über Bord.«

»Ich bin vielleicht ein Dieb, aber beim Kartenspielen bin ich die ehrlichste Haut auf diesem Planeten. Vor allem, wenn ich gegen Freunde spiele. Und das sind wir doch mittlerweile, oder?«

»Nicht wirklich …«

Er hat geschummelt.

Ich hörte die Lüge in seiner Stimme, nur ein winziges Schwingen, perfekt eingeflochten, sodass man sie leicht für die Wahrheit halten konnte. Sein Blick offen und ein wenig verletzt über die Tatsache, dass man ihm so etwas zutraute. Er hatte es perfektioniert, die Worte zu verdrehen. In all den Jahren war es ein Teil von ihm geworden, etwas das er zum Überleben brauchte.

»Ich fordere eine Revanche!« Lyri sammelte die zerknitterten Karten ein, um sie neu zu mischen.

»Gerne! Um was spielen wir dieses Mal?«

»Der Verlierer landet im Wasser.«

»Das ist ungerecht – euch macht das wohl kaum etwas aus …«

»Willst du kneifen?«

»Sicher nicht … Aber wenn ihr verliert, schuldet ihr mir einen Gefallen.«

Sie verzogen das Gesicht. »Na schön.«

Die Undinen hatten keine Chance. Er würde sie wieder abziehen und ich konnte nicht anders, als ihn fasziniert zu beobachten. Seine Hände waren flink und geschickt, beinahe wie Tänzer, die perfekt aufeinander abgestimmt über eine Bühne wirbelten. Während er mischte, fuhren sie über die Karten, glitten über die Kanten. Und dann verschwand eine der Karten im Ärmel, während eine neue ihren Platz einnahm. Quintus’ Blick lag auf seinen Konkurrenten. Er studierte sie, las ihre Gefühle wie ein offenes Buch. Noch so eine Gabe, die man sich auf der Straße aneignete, wenn jeder Schritt der letzte sein konnte. Das Einzige, was einen am Leben erhielt, war es, Leute einschätzen zu können.

»Ich spiele mit«, verkündete ich.

»Kennst du denn die Regeln?«

»Ein wenig«, sagte ich schüchtern, dabei hatte ich sie mittlerweile verstanden. Aber es war immer gut, unterschätzt zu werden.

»Okay. Probieren wir es einfach.« Quintus lächelte aufmunternd. Wenn er mich ansah, veränderte sich etwas in seinem Gesicht. Sein Blick wurde weicher. Es war nicht dieses charmante Lächeln und flirtende Zwinkern, von dem er wusste, dass es Herzen zum Schmelzen brachte. Es war etwas anderes. Echteres.

Er würde so was von im Wasser landen, denn er ahnte nicht, welches Ass ich im Ärmel hatte …

Ich nahm die Karten entgegen und rückte in die Gruppe hinein. Die zwei Undinen waren in ihr Deck vertieft.

Glückspilz schlich um sie herum und warf einen Blick über ihre Schulter. Dann versicherte er mir, dass er natürlich ganze Arbeit geleistet hatte und ich die besten Karten abbekommen hatte. Allerdings würde mir Glück keinen Sieg sichern, solange Quintus mit seinen flinken Fingern im Rennen war.

»Zori, als neue Mitspielerin darfst du anfangen. Und keine Sorge. Beim ersten Mal zu verlieren ist keine Schande.«

Oh, keine Sorge. Ich würde nicht verlieren.

Ich zupfte eine der Karten aus meinem Deck und warf sie auf den Boden vor uns. Während Lyri sich ihren nächsten Zug überlegte, ließ ich Quintus nicht aus den Augen. Er schien konzentriert über seine Karten nachzudenken, aber in Wirklichkeit hatte er seine Mitspieler genau im Blick, wartete auf einen unachtsamen Moment, um seine schlechten Karten gegen bessere zu tauschen.

Ich sah Glückspilz erwartungsvoll an. Der rollte bloß mit den Augen, als wollte er sagen: Ernsthaft? Ich nickte – Glück allein würde nicht reichen – und der Puck schmiegte sich an den Dieb, der davon nichts mitbekam, und aus seiner Tasche rutschte eine Karte, die ich mit einer schnellen Bewegung unter mich wischte. Ich zupfte eine aus meinem Deck und lehnte mich vertrauensvoll zu Quintus rüber.

»Schlägt ein roter Stern die blaue Welle?«, wisperte ich, während ich besagten Stern in seine Tasche gleiten ließ.

»Nein, rote Sterne sind nicht sehr stark. Die sollte man schnell loswerden«, entgegnete er mitleidig, als würde es ihm leidtun, mich abzuziehen.

Zu dumm, dass er nun einen in seiner Tasche hatte, während in meinem Deck eine grüne Libelle wartete.

Mehr und mehr Karten landeten in der Mitte, bis ich nur noch eine übrig hatte.

»Oh, eine Libelle! Ich glaube, ich habe gewonnen!«, verkündete ich, dank Glückspilz wohl wissend, dass niemand mich schlagen konnte. Quintus versuchte es. Er wollte ebenfalls eine Libelle legen und ließ seine Finger in die Tasche gleiten. Kurz sah ich die Überraschung in seinen Augen, als er bloß einen roten Stern vorfand.

Armer Dieb!

»Oh, hast du etwa verloren?«, fragte Pix lauernd.

»Ich …« Quintus sah so irritiert aus, dass er mir für einen Moment leidtat. Dann schien ihm ein Licht aufzugehen und er sah mich an. »Hast du etwa geschummelt, Zori?«

»Ich?« Mit gespieltem Entsetzen sah ich ihn an. »Nein. Ich hab einfach Glück.«

»Ich erkenne eine Falschspielerin, wenn ich sie sehe.«

»Lenk nicht ab! Da muss jemand baden gehen.« Triumphierend standen die Undinen auf und hoben den protestierenden Quintus in die Höhe. Ich konnte nicht anders als lachen.

»Das ist eine Verschwörung!«, protestierte er, während er zum Geländer getragen wurde. »Ich wurde von dieser entzückenden Elfe abgezockt und verlange Revanche!«

»Du würdest nur wieder verlieren!«, winkte ich ab.

»Oho! Sie zeigt ihr wahres Gesicht.« Quintus grinste und in seinem Blick lag Anerkennung. Ich hatte ihn beeindruckt und diese Erkenntnis brachte mein Herz zum Hüpfen. Ein Teil von mir wollte ihm zeigen, dass ich mehr war als bloß eine Elfe in Not, eine entzückende Tänzerin, ein bemitleidenswertes Flüsterwesen. Ich wollte, dass er sah, dass ich so viel mehr war. Ich war ungebrochen, wild und frei wie der Wind, der durch die Baumkronen meiner Heimat jagte. Doch gleichzeitig sehnte ich mich danach, wieder in seinen Armen zu liegen, mich fallen zu lassen und mit ihm zu tanzen. Ich wollte einfach, dass er alles an mir sah. Alle Seiten, meine Stärken und meine Schwächen, denn all das machte mich zu dem, was ich war.

»Revanche!«, rief Quintus, während er über die Reling gehievt wurde und mit einem Plumpsen im Wasser landete.

Dieser kleine Moment unter den Sternen war Freiheit und Glück in einem. Ich fühlte mich nicht länger einsam, sondern bekam einen kleinen Vorgeschmack darauf, wie das Leben sein könnte, wenn die Flüsterwesen wieder frei wären. Wenn wir keine Fessel mehr tragen würden und nicht länger über unsere Schulter gucken müssten, aus Angst, es könnte unser letzter Tag sein.

Wenig später kletterte Quintus triefend nass zurück an Deck und dort, wo er stand, bildete sich eine kleine Pfütze. Er zog sein Hemd aus, um es auszuwringen, und entblößte seinen Körper. Hell wie Marmor mit kleinen Muttermalen darauf. Ich versuchte mich der Höflichkeit halber wegzudrehen, aber mein Körper rührte sich nicht. Stattdessen erwischte ich mich dabei, wie mein Blick seinen schlanken Körper abtastete. Die definierten Arme, die feste Brust und sogar den Bauch. Plötzlich spürte ich Hitze in mir hochsteigen und das brennende Verlangen, auf ihn zuzutreten, ihn zu berühren. Ihn zu beißen … Ein kleines bisschen.

Eine der Undinen stieß mich wissend an. »Du sabberst schlimmer als eine Bulldogge.«

Ich zuckte zusammen.

»Es ist offensichtlich, dass ihr euch heiß findet«, fuhr sie fort.

»Ähm …«

»Ohne Witz. Ihr könnt beide die Augen nicht voneinander lassen. Du solltest ihn dir schnappen.«

Ich nuschelte ein paar unverständliche Worte. In dem Moment drehte Quintus uns den Rücken zu und ich sah die Narben, die seinen gesamten Rücken überzogen. Rote Linien, die wie Feuer auf der Haut brannten. Spuren, die der Berserker vor so vielen Jahren hinterlassen hatte.

»Wir lassen euch jetzt alleine«, verkündete Lyri lautstark.

»Hey! Bekomme ich keine Revanche mehr?« Quintus versuchte sein dunkelrotes Haar zu bändigen, das ihm wirr in der Stirn klebte.

»Nutzt eure Zeit besser.« Pix zwinkerte uns zu. Dann zogen die beiden lachend davon und hinterließen eine unangenehme Stille zwischen uns. Quintus sah so verdattert aus, dass ich losprusten musste, und er stimmte glücklicherweise ein.

»Vielleicht haben sie recht«, murmelte ich und sah ihn an. Seine Blicke waren mir wohl aufgefallen. »Wir könnten … noch etwas Zeit miteinander verbringen, oder hätte Mascha etwas dagegen?«

»Mascha? Wer ist Mascha?«

»Hieß nicht so deine Freundin, von der du mir bei unserer ersten Begegnung erzählt hast? Die, die du, ich zitiere, auf jede erdenkliche Art liebst?«

Natürlich wusste ich genau, dass es keine Mascha gab, aber ich genoss es, ihn damit aufzuziehen.

»Mascha und ich haben uns getrennt.«

»Wann?«

»Vor zwei Sekunden.«

Erneut explodierte eine kleine Hitzewelle in meinem Bauch und ich strahlte ihn an.

»Komm.« Ich ging auf ihn zu und reichte ihm meine Hand. Als er sie ergriff, zuckten meine Ohren ganz leicht.

»Was hast du vor?«, murmelte er und sein Blick brannte sich tief in meinen.

»Tanzen«, entgegnete ich. »Auf dem Ball wurden wir viel zu früh unterbrochen.«

Ich setzte meinen Fuß zurück und er folgte. Einmal. Noch mal. Erst langsam, dann immer flüssiger, bis es nur noch uns gab und den Sternenhimmel über uns. Mit jedem Schritt fiel die Anspannung von mir ab und ich verlor mich in diesem Moment. In Quintus’ Gegenwart konnte ich die Masken, die ich viel zu lange getragen hatte, ablegen und alles vergessen. Ich war einfach ich.

Plötzlich keuchte ich überrascht auf. Quintus begann zu strahlen. Wortwörtlich. Ein Schimmer umgab ihn wie ein Kranz und tauchte ihn in ein goldenes Licht.

»Du leuchtest.«

»Das Auroculum … Keine Ahnung, wann es das macht«, sagte er verwirrt. »Ich habe es mit Meditation probiert und einem echt heftigen Tee, aber ich war nie so … ruhig wie jetzt. So …« Er sah mich an und in seinen grünen Augen funkelten Spuren aus Gold. »Vielleicht ist das der Trick. Keine Göttin. Keine glücklichen Gedanken. Sondern Frieden. Frieden mit sich selbst.«

Er ließ meine Hände los, nur um seine Arme um meine Hüfte zu schlingen. Glücklich wirbelte er mich herum. Mein Körper wurde an seine Brust gepresst. Ich spürte seine Hitze, das freudig pulsierende Herz, und wünschte, dieser Tanz unter den Sternen würde niemals enden.

»Heißt das … du … du fühlst das Gleiche?«, fragte ich vorsichtig und meine Wangen glühten vor Aufregung, als ich meine Hand auf sein Herz legte.

Jäh erstarrte er. Das Leuchten seines Auroculums erlosch und er wich zurück, als hätte er sich verbrannt.

»Nein«, murmelte er erschrocken. »Ich weiß, dass es bloß ein Zauber ist.«

»Was?«

»Es ist nicht echt, Zori. All das! Es ist nicht echt!«

Mit diesen Worten stürmte er davon.