Quintus

Ich konnte es nicht glauben.

Das Phantom hatte Lucius van Vliet getötet.

Jetzt griff er sich mit einer Seelenruhe den Zähmer und pustete hinein. Einmal lang. Einmal kurz. Wie zuvor, als ich durch die Falltür gefallen war. Sofort ließ Susi von mir ab und ich atmete auf, als das Gewicht aus meinem Brustkorb wich.

Er pfiff erneut, dreimal kurz und einmal lang, und deutete auf die Wachen, auf die sich Susi nun stattdessen stürzte. Ihr Schwanz peitschte durch die Luft und fegte einige von ihnen von Bord. Andere erlagen ihren Klauen und wieder andere flohen, demoralisiert durch den Tod ihres Herrn. Susi stürmte ihnen zähnefletschend hinterher, denn wenn ein Berserker einmal im Blutrausch war, hörte er nicht so schnell wieder auf.

Ich starrte auf den leblosen Körper von Lucius van Vliet, der nun verlassen auf dem Deck lag. Er war tot. Wirklich tot. Mein Kopf rauschte. Phantome attackierten keine Barone, das wusste jeder, denn was Regierungsangelegenheiten anging, hielt sich der Schwarze Ring raus. So waren die Regeln. Und dennoch war es ausgerechnet das Phantom gewesen, das den Baron, ohne zu zögern, ermordet hatte.

Für einen Moment glaubte ich, es würde sich als Nächstes auf uns stürzen, alle Zeugen aus dem Weg räumen, aber es stand bloß da und guckte.

Ich rappelte mich auf, das schmerzhafte Pochen in meinem Fuß ignorierend, und drückte die Schultern durch.

»Wer bist du?«

»Ein Freund«, lautete die zögerliche Antwort.

»Das denke ich nicht. Ich kenne all meine Freunde.«

»Und trotzdem habe ich dich gerettet. Ich habe dem Berserker befohlen, dich nicht zu töten, als du in das Verlies gestürzt wurdest.«

Ja, das hatte er wohl. Die Frage war jedoch warum. »Dann arbeitest du nicht für den Baron?«

Unter der Maske drang ein freudloses, verzerrtes Lachen hervor. »Ganz sicher nicht. Sein Tod stand von Anfang an fest.«

»Wenn der Schwarze Ring erfährt, was du getan hast, werden sie dich bestrafen«, wandte ich ein.

»Das werden sie nicht, denn für die Welt da draußen hast du ihn getötet, Quintus Alexander Darawick. Du hast alles Recht dazu, nach dem, was mit deiner Familie passiert ist.«

»Mit meiner Familie?«

»Ja.« Das Phantom stieß Lucius’ Leichnam mit seinem Stiefel an. »Er war es doch, der den Berserker geschickt hat, um sie zu töten. Er hat es selbst zugegeben. Und warum? Weil er sich bedroht fühlte, sich vor den Visionen fürchtete, die die Baronin für Amsterlock und die Flüsterwesen hatte. Sie sah in ihnen mehr als nur Kapital und setzte sich für ihre Freiheit ein. Genau wie du.«

Er deutete auf Zori, die sich mir vorsichtig näherte. Ich spürte, wie sie ihre Hand zwischen meine Schulterblätter legte, um sich zu vergewissern, ob alles in Ordnung sei. Dabei ließ das Phantom sie keine Sekunde aus den Augen.

»Du bist ihr sehr ähnlich, Quintus!«

»Du kanntest meine Mutter?«, fragte ich ungläubig. Meine Erinnerungen an sie hatte ich so lange weggesperrt, dass ich mich mittlerweile fürchtete, sie herauszulassen. Immer wenn ich versuchte sie zu visualisieren, mir ihr Gesicht, ihre roten Haare, ihr Lächeln vorzustellen, dann sah ich nur ihren Tod. Hörte das Schmatzen des Berserkers. Roch das Blut. Spürte den Schmerz. Auch jetzt begannen die Narben auf meinem Rücken zu brennen.

»Ja, ich kannte sie, aber das ist lange her.«

»Woher?«

Das Phantom blieb mir eine Antwort schuldig, aber ich war nicht bereit, so schnell aufzugeben.

»Für wen arbeitest du?«

Das Phantom schwieg.

»Sag es!«, rief ich und ging einen Schritt auf ihn zu.

»Für dich, Quin«, sagte er, ohne auch nur die geringste Emotion preiszugeben.

Für mich … Das machte keinen Sinn. Wir kannten uns doch nicht einmal.

»Das würde ich gerne genauer wissen«, unterbrach uns eine andere Stimme und Laurelin de Jong trat an Deck. Sie trug einen roten Umhang, ihre Haare standen wild in alle Richtungen ab und in ihren Augen glänzte Wut, als sie auf das Phantom zusteuerte. Bei jedem Schritt raschelte es unheilvoll und erst beim Näherkommen bemerkte ich, dass es ihre roten Motten waren, die sie einkleideten. »Du hast all dieses Chaos verursacht, oder nicht? Nicht Lucius van Vliet! Von Anfang an hast du dahintergesteckt.«