I
n den vergangenen Jahren hatte ich eine Art Routine entwickelt. Meinen persönlichen Ablauf für Interviews. Wenn man daran arbeitet, berühmt zu werden, zumindest in der Sportszene, hat man diverse Scouts, die nur darauf gedrillt sind, dir beizubringen auf welche Fragen du wie antwortest. Oder eben, wie viele Worte du gebrauchst, um nichts auszudrücken. Interviews, Fotos und Klatschspalten, das sind die Dinge, die dich beliebt machen, die dich deinen Fans nahe bringen, die dich menschlich erscheinen lassen. Deine Anhänger wollen Leben, Skandale und Spaß sehen, aber es darf niemals abstoßend wirken. Es sei denn, du bist derart beliebt, dass sie dir deine Eskapaden vergeben. Und wenn du einen extrem guten Agenten hast, dann schafft er es sogar, die Presse dahingehend zu lenken, dass du nicht ein einziges Interview zu deinem Unfall führen musst. Das heute war eines der wenigen Gespräche gewesen, denen ich zugestimmt hatte. Und das einfach nur, weil wir einen Deal hatten.
Die Reporterin hatte mir die beste Hochzeitsplanerin der Stadt versprochen, wenn ich ihr im Gegenzug für einige Antworten parat stehen würde. Und nach dem Dilemma mit der ersten Planerin ...
»Mr. Moore?«, sagte meine Assistentin durch die Sprechanlage. »Miss Stone vom ISC ist da.
«
»Alles klar, bringen Sie sie in den Meetingraum, ich bin gleich bei ihr.«
Heute war das Interview mit Melissa Stone vom International Sports Channel. Ich wusste durch ihre ›Erpressung‹, dass sie Hannah’s Schwester war, da sie mir damals die Unterlagen gegeben hatte ... jene, die mein Leben so gravierend verändert hatten. ›Gott, was denke ich eigentlich für eine Scheiße?‹, fragte ich mich in Gedanken und schüttelte über mich selbst den Kopf. Nicht Hannah sollte mein Leben verändern, sondern Kelly.
Und doch war es so, dass ich den gestrigen Abend mit ihr heillos genossen hatte. Meine Verlobte war momentan in San Francisco und würde erst am Sonntag wiederkommen. Das wäre in drei Tagen, und ich hatte definitiv vor, diese Zeit zu nutzen. Für mich alleine. Um mir darüber klar zu werden, was genau ich eigentlich wollte. Was werden sollte und wie ich es mir vorstellte. Nun gut, ehrlich gesagt, wollte ich mich nur mühelos in Hannah verlieren, anstatt mich mit irgendetwas auseinanderzusetzen. Ich war einfach süchtig nach ihr. Jeden Abend, wenn ich unter der Dusche stand, nahm ich mir aufs Neue vor, sie in Ruhe zu lassen und mich endlich zu zügeln. Und jeden Abend verschwand der Gedanke so schnell wieder, wie er gekommen war.
Hannah hatte gestern erwähnt, dass sie am Wochenende mit ihrer Schwester ausgehen würde. Ein Mädelsabend. Also würde ich nachher Scott anrufen, um zu checken, ob dieser in der Stadt war. Ein Bierchen unter Männern wäre nämlich auch eine gute Idee.
Ich rückte gerade meine schwarze Krawatte zurecht, als ich den großen Meetingraum betrat. Er war zurückhaltend eingerichtet. Ein riesiger Tisch, der Platz für zwanzig Menschen bot, mit schwarzen, weichen und bequemen Ledersesseln, die darum angeordnet waren.
In der Mitte des großen Glastisches waren einige Gläser und Kaffeetassen arrangiert, und auf der gegenüberliegenden Seite war auf einem Tisch ein kleiner Kühlschrank platziert, der Getränke, Säfte und Wasser eisgekühlt zu trinken bot. Ein Kaffeevollautomat stand neben einer Schale mit Obst und eine weitere mit Keksen hatte man ebenso bereitgestellt. Abgesehen von dem großen Tisch, war ein Flipchart, ein Whiteboard, ein Flachbildfernseher zum Zwecke der Videotelefonie und zwei Sträuße mit frischen Blumen in dem Raum. Die kühle Eleganz wurde aufgelockert durch zwei Kunstdrucke. Das eine zeigte die Brandung und eines der hier verbreiteten Rettungsschwimmer-Häuschen in Malibu. Auf dem anderen war eine Bucht in Hawaii abgebildet, in der ich meinen ersten Weltmeistertitel geholt hatte.
»Es ist immer wieder interessant zu sehen, welchen Platz sich der Gast aussucht«, begrüßte ich Melissa Stone.
»So? Finden Sie?« Fragend hob sie ihre Brauen, und ihr umwerfendes Lächeln wirkte absolut entwaffnend. Sie ergriff meine Hand und schüttelte sie genau mit dem richtigen Maß an Selbstbewusstsein.
»Definitiv«, murmelte ich und bedeutete ihr sich wieder zu setzen. »Es sagt viel über jemanden aus. Kaffee?«
»Danke nein. Ihre Assistentin war bereits so freundlich.«
»Ja, sie ist das Herzstück der Firma«, erwiderte ich und zwinkerte ihr zu. Das war sie wirklich. Ohne meine Assistentin würde ich die Hälfte meiner Termine und ungefähr alle Rückrufe vergessen, die ich versprochen hatte. Außerdem kümmerte sie sich wirklich um mich, weil sie mir mein Mittagessen brachte, wenn ich vergessen hatte, etwas zu kaufen.
Als ich mich zu ihr umdrehte und mich mit meinem Espresso in der Hand auf den Platz neben ihr niederließ, sah ich sie richtig
an.
Melissa Stone war Hannah sehr ähnlich. Die Körperhaltung, das Lächeln und das Funkeln in den Augen waren gleich. Dennoch sah sie komplett anders aus. Dort, wo Hannah weibliche Rundungen hatte, war Melissa schlank und fast schmal. Sie hatte Busen, aber nicht so einen unglaublichen wie Hannah. Vielleicht ... nun, ich mit meinem Kennerblick würde sagen, es war eine Handvoll. Ihr Haar war länger, wesentlich heller und gelockter als das ihrer Schwester, und sie hatte dunkelbraune Augen, welche stark geschminkt waren und ihr somit etwas Katzenartiges verliehen. Die schmaleren und in Herzform geschwungenen Lippen presste sie jetzt fest aufeinander. Sie trug die weiße Kurzarmbluse, auf deren Brust das Logo des ISC eingestickt war, und dazu blaue Chinohosen, mit weißen flachen, aber eleganten Mokassins.
»Sind Sie fertig, Mr. Moore?«, fragte sie mich, mein offensichtliches Starren unterbrechend. Ihre Hände verschränkte sie in ihrem Schoß. Ihre Körperhaltung war mir gegenüber weiterhin offen.
Ich lächelte sie schwach an. »Entschuldigen Sie, Sie sehen nur so ganz anders aus als Hannah«, sagte ich ehrlich.
»Oh richtig, Sie kennen ja meine Schwester!«, antwortete sie. Ihre Stimme floss wie Honig um mich, und ihr Lächeln war so püppchensüß, dass es mir gerade deshalb eine Heidenangst einjagte. »Nur fürs Protokoll, Mr. Moore, ich weiß, dass Sie meine Schwester vögeln, und das ist okay, dadurch hat sie gute Laune.« Als würde sie ihren Worten die Schärfe nehmen wollen, wedelte sie mit der Hand hin und her. »Aber wenn Sie ihr wehtun, werde ich Ihnen wehtun.« Bedeutungsschwanger sah sie auf meinen Schritt. Himmel. Fuck! Ich riss die Augen auf. »
Ich weiß, dass Sie jetzt denken, ich sei unprofessionell, weil ich das alles anspreche.« Sie nahm einen Schluck von ihrem Kaffee und ließ sich Zeit, ehe sie fortfuhr. »Aber das eine ist Arbeit, das andere privat. Und privat bedeutet, dass ich Ihnen den Arsch aufreißen werde, wenn Sie jemandem verletzen, den ich liebe. Geschäftlich heißt es, dass ich Ihnen keine Fragen über Ihre ausschweifende Frauen-Vergangenheit stellen und mich in Bezug auf Ihre Verlobte kurzfassen werde.«
Wenige Sekunden vergingen, in denen ich mich wirklich und ernsthaft bemühte, das anschwellende Lachen in meiner Brust zu unterdrücken. Es gelang mir nicht. »Sie haben Mumm. Das mag ich!«
Sie hob eine Braue. »Flirten Sie nicht mit mir. Ich würde nämlich sagen, eine der Stone-Töchter genügt für Sie, dann sind wir beiden die besten Freunde.«
Wieder entlockte sie mir damit ein herzliches Lachen. »Klingt nach einem Deal. Ich glaube, wir können uns duzen.«
»Sehr gerne, Adam«, antwortete sie, und erlaubte sich ebenfalls ein Grinsen. Sie hatte ihren Standpunkt fürs Erste klar gemacht, das schien ihr zu genügen.
»Okay, fangen wir an, oder?«
»Wann immer du bereit bist, Melissa«, erwiderte ich und ließ automatisch meinen Charme spielen.
Sie rollte die Augen und diese Geste war Hannah so ähnlich, dass ich mich zwingen musste, um nicht vollkommen debil zu grinsen. »Ich würde das alles aufnehmen, ist das in Ordnung?«
»Natürlich«, murmelte ich und überschlug die Beine. Ich setzte mich ein wenig bequemer in den Stuhl und legte mein Handy auf den Tisch. Nur für den Fall, dass Hannah anrufen würde
.
»Adam, du hast vor Kurzem ein neues Jungtalent unter deine Fittiche genommen. Nach welchen Kriterien entscheidest du, wen du förderst und weshalb?«
Ich nickte knapp. »Josh ist klasse. Er besitzt genau die perfekte Balance, die ein Sportler auf dem Brett braucht. Mit dem perfekten Equipment und den richtigen Möglichkeiten wird er es weit bringen. Denn Talent und Ehrgeiz bringt er zur Genüge mit.«
»Das heißt, du finanzierst ihn?«
»Nein, das heißt, dass er in unser Stipendien-Programm der Malibu University eingetreten ist.«
»Ah, er studiert also.«
»Natürlich. Es ist wichtig, ein zweites Standbein zu haben.«
Ihr Grinsen wurde mitfühlend und ich fuhr mir leicht nervös durch die Haare. Himmel, sie war gut, mit nur drei Fragen hatte sie mich an einem Punkt, wozu andere Stunden und viele verschlungene Fragen brauchten.
»Du meinst, falls er aus irgendwelchen Gründen dem Surfen nicht mehr nachgehen kann?«
»Richtig«, antwortete ich. Mehr würde sie nicht bekommen.
»So wie du?«
Ich schluckte kontrolliert. »So wie ich.«
Sie drückte den Knopf auf dem Aufnahmegerät, der es stoppte.
»Fehlt dir das Surfen?«, fragte sie mich ehrlich interessiert und stand auf, um sich ein Wasser aus dem Kühlschrank zu holen.
Ich wartete, bis sie wieder auf ihrem Stuhl Platz genommen hatte, ehe ich ihr antwortete. Zu meiner absoluten Verwunderung ehrlich: »Jeden
Tag.«
»Wieso versuchst du es nicht mehr?«
»Das Surfen?« Knapp nickte sie. »Du hast mitbekommen, dass ich einen Unfall hatte?«, erkundigte ich mich ironisch und hoffte, dass sie mir den Schmerz nicht ansah.
»Ach, ehrlich? Nein, das ist mir doch glatt entgangen!« Sie schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Komm schon, Adam, die ganze Welt hat es gesehen und jeder fragt sich, warum du es nicht mehr versuchst!«
Ich dachte kurz darüber nach, forschte in ihrem Gesicht nach irgendwelchen Anzeichen, dass sie diese Informationen gegen mich verwenden würde.
»Deine Schwester erzählt dir wohl nicht alles, mh?«
»Meine Schwester ist der aufrichtigste und loyalste Mensch, den ich kenne, Adam. Ich weiß, dass du ihr von dem Unfall erzählt hast, aber sie würde niemals auch nur ein Sterbenswörtchen über etwas ausplaudern, das die Intimsphäre eines anderen verletzt.«
»Wow, Hannah ist wohl eine Art Göttin?«, fragte ich, um die Stimmung aufzulockern.
»Richtig. Und mich als Melissa würde es auch interessieren, warum du nicht mehr surfst.«
Ich überlegte. Wenn Hannah ihr vertraute, konnte ich es auch, das wusste ich. Egal wie lange ich die Familie Stone kannte. »Es ist zu gefährlich. Meine Muskeln sind nicht mehr das, was sie mal waren.« Melissa hob eine Braue und grinste verschmitzt. »Es wäre zu gefährlich. Würde eine Welle kommen, die zu heftig ist ... keine Ahnung, ob ich sie reiten könnte«, erklärte ich weiter und zuckte ratlos die Schultern.
»In Anbetracht dessen, dass du viermal Weltmeister warst ...
klingt das krass.«
»Das ist krass. Und vor allem armselig«, erwiderte ich und versuchte somit, das Thema zu beenden.
»Nein, finde ich nicht!«, setzte sie dagegen. »Ich finde, dass man manchmal einfach vernünftig sein sollte, statt verrückt.«
Das sagte gerade sie? »Komisch, du strahlst irgendwie Lebenslust und Verrücktheit aus.«
Sie nahm einen Schluck Wasser und lachte kurz auf. »Flirtest du mit mir?«
»Merkt man das?«
»Himmel, du bist verlobt und bumst meine Schwester, willst du ’nen Harem, oder was?«, murmelte sie kopfschüttelnd und ich grinste breit. Sie war herrlich erfrischend. Anders als Hannah, aber ihre Art war trotz der derben Wörter so natürlich und süß, dass man ihr nicht böse sein konnte. »Lass uns weitermachen, damit ich hier wieder rauskomme.«
»Gefällt es dir nicht in meiner Firma?«
»Oh doch, aber ich muss mit Hannah einen Mädelsabend planen.« Lässig wedelte sie wieder mit der Hand und sah mir provokativ in die Augen. »Du weißt schon, Beine rasieren, auftakeln, kurze Röcke aussuchen, Männer abchecken ... Mädchenkram eben.«
»Aha«, knurrte ich.
Ihr Lächeln wurde zuckersüß. »Oh? Verstimmt es dich etwa, dass Hannah ausgehen wird?«
»Führe dein Interview und überspann den Bogen nicht!«, stellte ich klar. Als ich erkannte, dass sie mich verarschte, grinste ich. Der Gedanke, dass Hannah ausging und dabei einen kurzen Rock tragen würde, pflanzte ein Bild in meinen Kopf. Eines, das ich dort nicht haben wollte.
Natürlich war mir bewusst, dass Melissa die Information an dieser Stelle platziert hatte, um mich zu testen.
Sie klickte wieder auf die Play-Taste ihres Rekorders. »Wie laufen die Hochzeitsvorbereitungen?«, erkundigte sie sich. Diese Frage traf mich eiskalt.
»Sehr gut, danke«, knurrte ich.
»Ziemlich wortkarg, Adam.« Wieder dieses provokante Grinsen.
»Es läuft perfekt, wir sind gerade mit dem Restaurant, der Weinauswahl und dem ganzen Dekoscheiß beschäftigt.«
»Soll ich wirklich Dekoscheiß schreiben?«, fragte sie scheinheilig nach und legte den Kopf leicht schief. Wie Hannah, die tat das auch hin und wieder.
»Ich bin mir sicher, du findest geeignete Worte«, sagte ich weich. Was bezweckte sie mit diesem Blödsinn?
»Okay, wie laufen die Geschäfte sonst so?«, wollte sie als Nächstes erfahren und ich hob eine Braue.
»Willst du mich verarschen? Was willst du wirklich wissen?«
»Ich würde gerne über den Unfall schreiben!«, platzte sie heraus.
»Du willst eine Exklusivstory?«
»Ja. Die will ich.«
»Warum? Der Unfall ist Jahre her.«
»Du bist eine Legende. Jeder Junge, jeder Mann, der surft, will so sein wie du. Jeder will ein Moore-Board oder dich als Sponsor.«
»Ich surfe nicht mehr!«, stieß ich mit zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Aber warum? Du warst brillant!«
»Ja, war ich.« Mit Absicht
betonte ich die Vergangenheitsform.
»Du wärst es immer noch«
»Du bist wie deine Schwester.«
»Bist du jetzt glücklich?« Sie verschränkte die Arme und presste die Lippen aufeinander. »Ich bin nur eine kleine Reporterin, aber ich sehe in deinen Augen, dass du nicht glücklich bist.«
»Du kennst mich nicht!«
»Das macht nichts, man riecht es selbst Hunderte von Meilen gegen den Wind!«
»Du bist die ätzendste Reporterin, die mich je interviewt hat!«, knurrte ich nach einem Blickduell von gefühlten Minuten.
»Jepp, das macht mich so besonders, nicht wahr? Für den Moment lass ich dich damit in Ruhe, aber das letzte Wort ist dazu noch nicht gesprochen.« Wieder blitzten ihre Augen überlegen, ehe sie begann, mir die normalen Fragen zu stellen, die ein jeder Reporter in einem Interview fragen würde. Ich ließ es gut sein, denn eine Diskussion würde jetzt nichts bringen. Vielleicht würde ich eines Tages wirklich ein Exklusivinterview dazu geben ... aber aktuell? Nein. Sicher nicht. Das war ihr wohl klar, denn alle Informationen, die sie mir nun entlockte, waren rein professioneller Natur.
Melissa Stone war wie Hannah.
Verwirrend. Nicht auf die gleiche betörende Art, denn die Frau vor mir wollte ich keinesfalls nackt unter mir liegen haben, ihre Schwester hingegen schon. Aber es ließ sich nicht leugnen, dass die Töchter der Eltern Stone etwas in mir auslösten.
Etwas, das mich dazu zwang, über mich selbst nachzudenken.
Über die Vergangenheit.
Und über meine Zukunft.