30
Adam
L angsam ließ ich meinen Blick über die sanften Wellen streichen. Ich liebte das Wasser. Ich liebte den Geruch. Ich liebte das Surfen und ich liebte wie sich die Wellen um mich legten und mich zwangen, eins mit ihnen zu werden.
Ich war nicht mehr sauer auf Kelly, weil sie Hannah so in den Himmel lobte oder so begeistert von ihr war. Ich war nicht böse, weil ihr Geist ständig wie ein Damoklesschwert über uns schwebte. Meine Wut über Melissa und Scott war durch die Fahrt und den Wind mit dem Motorrad verraucht. Ich zerbrach einfach.
Tausend Dinge waren mir durch den Kopf gegangen, als ich die Küstenstraßen entlanggefahren war, vor allem aber, dass ich dieses Risiko, welches Hannah darstellte, bezwingen musste. Sobald ich auf einmal in der Half Moon Bay stand. Ich musste surfen. Dieses Zerbrechen war der Grund, weshalb ich mir bei Joeys Surferbude Boardshorts kaufte und mir ein Brett lieh. Man kannte mich hier, weshalb ich auch bekam, was ich wollte, nachdem ich festgestellt hatte, dass ich keinen Cent Geld in der Tasche dabei hatte. Nun stand ich am Strand und blinzelte gegen das grelle Licht an, das die aufgehende Sonne verursachte.
Es war für mich ein wenig so:
Wenn ich es schaffte, wieder auf ein Board zu steigen, wenn auch nur bei solchen Babywellen wie sie am offenen Teil, dem nicht mehr mit Felsen und Klippen gesäumten Strandabschnitt aufkamen, und bei diesem lauen Lüftchen wie heute, dann könnte ich mir wieder sicher sein, was ich wollte. Es musste sein. Mir blieb keine Wahl außer zu surfen. Es zu versuchen. Daran zu glauben. Jahrelang war ich überzeugt gewesen, das Wellenreiten sei für mich ein abgeschlossenes Kapitel, nur um jetzt auf diese Seiten zurückzukehren. Ich wollte mir beweisen, dass alle Welt, dass Hannah falsch gelegen hatte. Ich war immer noch derselbe, auch ohne Surfbrett und diesem perversen Verlangen nach dem Wahnsinn und dem Gefühl lebensmüde zu sein.
Die weiche Substanz rieselte durch meine Zehen, als ich langsam durch den Sand in Richtung Wasser watete. Es war einen Versuch wert. Den ersten seit drei Jahren. Wenn ich mir vor Augen führte, wie gut diese kleinen, gleichmäßigen Wellen zu mir passten, fühlte es sich fast perfekt an. Eine wohlige Ruhe legte sich über mich und ich ging so lange weiter, bis ich kniehoch im Wasser stand und sich langsam meine Shorts damit vollsogen. In unendlicher Zärtlichkeit legte ich mein weißes Brett, welches zufällig das Logo meiner Firma trug, auf den Wellen ab. Sanft plätscherten sie dagegen, und hätte ich nicht am eigenen Leib erfahren, dass es gefährlich werden könnte, hätte ich geglaubt, alle Welt müsse verrückt sein, so etwas zu behaupten. Konnte etwas, das so perfekt harmonierte, wie das Board auf dem Wasser, so zerstörend sein? Wirklich?
Szenen des Unfalls und die wenigen Bruchstücke, an welche ich mich noch erinnern konnte, zogen an meinem inneren Auge vorbei und zwangen mich, tief durchzuatmen. Es würde nichts passieren. Gar nichts. Außer, dass mich das Gefühl unendlicher Freiheit durchströmen würde.
»Lass nicht zu, dass die Angst dich kontrolliert, kontrolliere du sie!«, flüsterte ich das Mantra, welches Scott immer wieder nutzte, wenn seine Dämonen über ihn hereinbrachen. Ehe ich mich umentscheiden konnte, schwang ich mich auf mein Brett und paddelte hinaus. Diese lange nicht mehr ausgeführten und doch so vertrauten Bewegungen, zauberten mir ein Lächeln auf das Gesicht. Das erste echte seit gefühlten Ewigkeiten. Obwohl mein Entschluss, nicht zu heiraten, erst Stunden zurücklag.
Geduldig, wie es nun einmal nötig war, wenn man auf lauen Lüftchen und Babywellen surfen wollte, wartete ich, bis eine Welle ankam. Es vergingen einige Minuten, und gerade als ich mir sicher war, heute leer auszugehen, und dass Poseidon vorzog, mich zu verarschen, sah ich von weiter draußen die genau passende Welle auf mich zurollen. Keine dicke Kiste, aber immerhin eine kleine Möglichkeit. Als es endlich soweit war, schwang ich mich auf mein Board und surfte los. Ich hatte nicht die Zeit, mich darüber zu wundern, wie anstrengend es war, überhaupt auf dem Board das Gleichgewicht zu halten, denn schon war ich in meinem Element. Ich genoss den sagenhaften kurzen Ritt, fühlte das vertraute Gefühl der Liebe von mir Besitz ergreifen und genoss das Adrenalin, das durch meine Adern pulsierte. Bis zum letzten Moment, kurz bevor sich die Welle am Strand brach, genoss ich den Ausläufer und sprang erst kurz vorher kopfüber ins Wasser ab. Als ich wieder auftauchte und meinen Kopf schüttelte, damit mir das Wasser aus den Haaren nicht in die Augen lief, lachte ich lauthals und befreiend los. Es war die erste Welle seit drei Jahren gewesen und es war perfekt.
Nach einer Stunde, in welcher ich noch weitere Kisten reiten konnte, raute der Wind auf. Ich überlegte kurz, das Wasser zu verlassen, mich ganz in dem Gefühl zu sonnen, es erst mal geschafft zu haben, wieder auf ein verdammtes Board zu steigen, als mir klar wurde, dass ich noch nicht aufhören wollte. Ich wollte größere Wellen. Ich wollte Adrenalin, den Kick. Den Rausch nach mehr.
Die nächste Welle, die auf mich zukam, war etwas größer, aber nach meiner Einschätzung machbar. Immerhin war ich, wenn auch Ex, Surfweltmeister. Früher hatte ich ganz andere Wellen geritten und bezwungen. Als das Wasser genau im richtigen Winkel war, schwang ich mich auf mein Board und begann zu surfen. Erst war auch alles in bester Ordnung, aber der Wind zog noch einmal gewaltig an und eine andere Welle, die sich ihren Weg in Richtung Land bahnte, war kräftiger und mächtiger und trieb meine Miniwelle an. Die Position auf meinem Board festigend versuchte ich, weiterhin standhaft zu bleiben. Als die beiden Wellen aufeinandertrafen und sich brachen, zitterte mein Bein so stark, dass ich mich kaum mehr auf dem weißen Board halten konnte. Adrenalin jagte durch meinen Körper und mein Puls beschleunigte sich rasant. Bruchstücke des Unfalls zogen vor meinem inneren Auge vorbei und verbissen verdrängte ich sie. Diese zwei Sekunden, die ich dafür brauchte, hämmerten den letzten Nagel in meinen Sarg. Automatisch ging ich etwas mehr in die Knie, verlagerte mein Gewicht und nutzte meine Arme, um die Balance wieder zu finden. Weitere drei Sekunden später war die Welle hindurch, und zurück blieb eine weiterhin unruhige Babywelle. Als ich mir sicher war, dass ich gerade an einer Stelle auf dem Wasser war, wo keine Steine aus dem Boden ragten, sprang ich von meinem Board und tauchte im Wasser wieder auf. Mit klopfendem Herzen und einem Puls, der sich vermutlich nicht mehr messen ließ, stützte ich mich mit meinen Unterarmen auf dem Board ab. Was zur Hölle war das gewesen, wenn nicht eine kleine Panikattacke? Als ich der Welle hinterher sah, die sich gerade in einer Riesengischt am Strand brach, bemerkte ich wieder einmal, dass, egal wie sicher man war, egal, wie gut man die Dinge berechnete und plante, es eben nicht immer glatt lief. Es war perfekt zu wissen, dass nicht alles vorhersehbar war, da sich nicht alles kontrollieren ließ. Mein Blick wanderte den Strand entlang zu der Bucht, in welcher ich fast ums Leben gekommen wäre. Lieber eine Sekunde absolute Glückseligkeit, als ein Leben lang Babywellen.
So waren Naturgewalten.
So war die Liebe.
So war ich.
Binnen eines Wimpernschlages wurde mir klar, dass sie mich einholen und über mich hereinbrechen würde wie ein Orkan. So heftig und so gewaltig, wie eine verdammte Welle auf diesem verdammten Ozean.
Eine innere Stimme flüsterte mir zu, dass genau das immer alles gewesen war, was ich wollte. Keine Babywellen, ich wollte den tosenden Ozean, wollte lieber absaufen, anstatt immer auf der Oberfläche zu treiben. Da der Wind allgemein stärker wurde, war es in der eingegrenzten Bucht noch stürmischer. Die Wellen begannen sich an den hohen Felsen zu brechen, wurden regelrecht gespalten. Mit meinem Surfboard unter den Arm joggte ich locker noch ein wenig weiter in die Verengung des Landes. Zu dem Teil des Strandes, der wirklich die Half Moon Bay war. Dorthin, wo die größten und berühmtesten Surfer der Welt ihre Wettkämpfe austrugen. Ungefähr dorthin, wo ich meinen Unfall gehabt hatte .
Wie versteinert stand ich wenig später am Strand, betrachtete das klare, blaue Wasser, die hoch aufragenden Felsen und dass dieses Material stärker und mächtiger als das Meer war. Diese absolute Schönheit der Naturgewalt hielt mich gefangen und fesselte mich, als mich die Wahrheit durchfuhr.
Ich wollte Hannah, so wie ich diese Wellen bezwingen wollte. Babywellen waren nichts für mich. Babywellen waren ganz nett, aber befriedigten mich nicht. Es war so ähnlich, als würde man stets alkoholfreies Bier trinken. Es schmeckte, es war in Ordnung, aber es stellte niemals vollends zufrieden.