H
eute war es so weit. Heute war der Tag, der mich begraben würde. Um genau 13 Uhr, wenn die Sonne in Malibu am höchsten stand, würden Adam und Kelly sich das Ja-Wort geben. In einem Kleid, welches ich ausgesucht und in dem Anzug, den ich empfohlen hatte. Sie würden die Torte essen, welche ich mit ihnen ausgesucht hatte und welche die Gäste lieben würden, und die Menüauswahl würde sich als exzellent und delikat herausstellen. Es würde eine rundherum perfekte Hochzeit werden. Absolut einzigartig, und sie würde die Handschrift von Hannah Stone tragen.
Eine Handschrift, die mich gerade selbst zerstörte.
Müde schleppte ich mich in meinen Shorts und dem alten Kapuzenpulli meines Dads, den er schon seit der Uni besaß, auf mein Sofa. Wie konnte sich die Welt für alle Menschen nur einfach so weiterdrehen? Wie konnte sie für alle anderen so beständig sein? Wie konnte die Sonne tatsächlich vom Himmel strahlen und lachen, wenn ich doch kurz davor war, endgültig zusammenzubrechen.
Zusätzlich zu der verheerenden Situation mit dieser ganzen verfluchten Hochzeitsscheiße kam auch noch, dass ich Streit mit Melissa gehabt hatte – vermutlich den größten Streit, den
es jemals bei uns gegeben hatte. Ich wusste, dass ich meiner Schwester wehgetan hatte, aber ich konnte einfach nicht aus meiner Haut. Und momentan wollte ich es auch nicht. Das hätte nämlich bedeutet, dass ich mich wirklich und wahrhaftig damit auseinandersetzen müsste und dazu war ich nicht bereit. Noch nicht. Die Schonfrist – welch groteske Ausdrucksweise in diesem Zusammenhang – würde mit Ablauf dieses Tages enden. Dann, wenn Kelly den Nachnamen Moore trug.
Gequält schloss ich die Lider und konnte dennoch nicht verhindern, dass dicke Tränen durch meine Wimpern hindurch quollen. Ich hatte mich nicht geschminkt, es hätte heute sowieso keinen Sinn gehabt. Irgendwo, am anderen Ende des Wohnzimmers, piepte mein Telefon monoton, da der Akku leer war. Selbst das war mir egal. Sollte es ausgehen. Sollte es dunkel werden. Nichts mehr wünschte ich mir für mich selbst. Es war kurz nach zehn und ich beobachtete mit Adleraugen die Uhr über der Tür. Audrey Hepburn war darauf abgebildet, und ihre großen, aufgerissenen Augen, mit dem leicht geöffneten Mund, womit sie Erstaunen vermittelte. Warum auch immer. Es gab nichts zu bestaunen. Es galt nur den Versuch zu starten, mittels mentaler Gewalt dafür zu sorgen, dass sich diese vermaledeiten Zeiger nicht weiter bewegten.
Ich zog mich gerade innerlich zurück in meine eigene Welt, und das penetrante Klingeln an der Türe drang daher nur langsam an mein Ohr. Es wechselte ab mit Fäusten, die dagegen trommelten und mit einer Stimme, die meinen Namen rief.
Es war Adams Stimme.
Wie eine Verrückte, ob ich dieses Verlangen kontrollieren konnte oder nicht, sprang ich auf und lief an das Ende des Flurs.
Meine beiden Hände legte ich flach gegen die glatte Oberfläche der Haustüre. Dort, wo ich vermutete, dass er darauf einschlug.
»Hannah!«, schrie er gerade wieder. »Mach auf!«
Ich biss mir auf die volle Lippe und konnte die Tränen, welche vorher schon immer wieder übergelaufen waren, einfach nicht mehr zurückhalten. »Ich kann nicht!«, murmelte ich, wohl wissend, dass er mich nicht hören konnte.
»Hannah! Bitte!« Seine Stimme klang verzweifelt. Jetzt drückte er wieder auf den Klingelknopf. »Hannah! Ich weiß, dass du da bist. Mach auf! Bitte!«
»Bitte geh weg«, wisperte ich. Allerdings presste ich mich im Gegensatz zu meinen Worten an die Türe, denn ich sehnte mich so sehr nach ihm, dass es mich schmerzte. Ich ignorierte das kühle Material an meinen nackten Beinen, und dass ich vermutlich gerade aussah, wie eine verdammte rollige Katze die sich rieb, aber ich wollte so nah wie möglich bei ihm sein.
»Hannah!«, brüllte er und sowohl das Klingeln als auch das Klopfen hörten auf. »Ich habe die Hochzeit abgesagt!«, sagte er um ein Vielfaches leiser. Mein Kopf ruckte nach oben. Starr richtete sich mein Blick vor mich. In Lichtgeschwindigkeit durchfuhr mich ein Schock gefolgt von tausenden von Schmetterlingen, die durch meinen Bauch wanderten und sich langsam in jedem Winkel meines Körpers ausbreiteten.
»Hannah! Mach endlich auf!«
Für einen Atemzug legte ich meine Stirn gegen den Kunststoff der Türe und zwang die Tränen erneut zurück. Warum auch immer sie wieder aufstiegen. Aber so schnell hatte doch die Information gar nicht von mir verarbeitet werden können, dass er ... er hatte die Hochzeit abgesagt?
Mit zittrigen Fingern und feuchten Handflächen drehte ich langsam den Türknauf. Als
die warme Luft von Malibu durch den schmalen Streifen hereinströmte, sog ich zischend die Luft ein. Adam stand mit hängenden Schultern, den Kopf gesenkt und die Arme auf dem Türrahmen abgestützt, wie ein gebrochener Mann vor mir. Als er bemerkte, dass ich seinem Drängen nachgegeben hatte, hob er langsam den Kopf und ich betrachtete das von mir so schmerzlich vermisste Gesicht. Seine Stirn war gerunzelt und unter den Augen war die Haut tiefviolett gezeichnet. Als hätte er nächtelang nicht geschlafen. Der Fünf-Tage-Bart war fast zu einem richtigen Bart geworden und seine Haut war blass. So ganz anders, als ich ihn kannte. Normalerweise sprühte mir aus den wunderschönen tiefblauen Augen Leben entgegen. Momentan waren sie leer.
Als er den Blick ebenso über mich gleiten ließ, zog sich der Schleier der Hoffnung durch sie hindurch und er richtete sich auf.
»Hannah«, wisperte er. »Gott, Hannah.«
»Was? Ich ...«, stammelte ich und verstand gar nichts mehr.
Schließlich drückte er die Türe ganz auf und begleitete dies mit den Worten: »Darf ich bitte reinkommen?« Ich nickte erst, als er schon längst in meinem Flur stand und die Türe von innen wieder geschlossen hatte.
»Baby. Ich ...«, flüsterte er, griff mit seinen warmen, weichen, sonnengebräunten Fingern in meinen Nacken und zog mich an sich, als er wie ausgehungert seine Lippen auf die meinen presste. Ich war wie erstarrt, konnte und wollte nicht reagieren, während er fieberhaft meinen Mund verschlang. Der Duft nach Ozean, Mann und einfach nach Adam strömte in meine Nase und hüllte mich in einen Kokon aus Liebe. Liebe gepaart mit Leidenschaft. Gerade, als ich zu verstehen begann, was hier los war und ihn zurückküssen wollte, ließ er von mir ab und nahm mein Gesicht in seine
Hände.
»Hannah, ich will lieber nur eine Sekunde mit dir glücklich sein, anstatt mein Leben lang mit Kelly unglücklich. Lieber eine Sekunde in deinen Armen anstelle für immer bei jemand anderem. Ich kann ohne dich nicht leben und ich will ohne dich nicht leben.« Er ließ von mir ab, drehte sich einmal im Kreis und warf die Hände in die Luft, nur um sie anschließend in seine verstrubbelten Haare zu krallen. »Scheiße, ich will keine verdammten Babywellen. Ich will nicht alles geplant und ordentlich haben. Ich bin ein Naturgewalt-Mensch. Ich habe keine Lust mehr auf Sicherheit und darauf, dass ich meinen Instinkten misstraue, nur weil sie einmal falsch lagen.« Bei seinen Worten wurde mir schwindlig und ich ging einen Schritt zurück, um mich gegen die Wand zu lehnen. Adams Blick folgte mir und er trat näher. Seine Stimme war eindringlich und rau. »Du bist keine Babywelle, Hannah, ... du bist ein Maverick, du bist alles. Ja, es ist wahnsinnig und verrückt und vielleicht saufen wir beide ab, aber ich will dich. Lieber möchte ich für einen Atemzug mit dir glücklich sein, als den Rest meines Lebens mit einem Rettungsring im Kinderplanschbecken zu sitzen.«
Meine Augen weiteten sich und füllten sich mit Tränen, als seine Worte langsam, in meinen Verstand sickerten.
»Du ... hast die Hochzeit abgesagt?«, krächzte ich und meine Stimme klang fremd. Gänsehaut zog sich über meine Arme und breitete sich auf meinen gesamten Körper aus. Keine von diesen unangenehmen, sondern eine der positiven. Schönen. Unfassbar romantischen. Als Mr. Moore seine Hand wieder in meinen Nacken legte und mich so an sich zog, dass meine Wange an seiner Brust ruhte und ich seinen Herzschlag hören konnte, überkam mich Ruhe.
Stille.
Die Welt hielt an.
»Wie könnte ich heiraten, wenn nicht du meine Braut bist?«