KAPITEL 1
VON DER PIKE AUF
B EI DIESEM BUCH handelt es sich nicht um Memoiren. Allerdings ist es nicht möglich, über die Eigenschaften zu sprechen, die mir im Verlauf meines Berufslebens gute Dienste geleistet haben, ohne auf meine Kindheit zurückzublicken. Natürlich gibt es Eigenschaften, die ich schon immer gehabt, und Dinge, die ich schon immer getan habe. Sie sind das Ergebnis einer untrennbaren Mischung aus genetischer Veranlagung und Erziehung. (Zum Beispiel bin ich, soweit ich mich erinnern kann, morgens schon immer sehr früh aufgewacht und habe diese Stunden, die ich für mich selbst hatte, stets sehr genossen.) Daneben gibt es andere Eigenschaften und Gewohnheiten, die das Ergebnis der bewussten Entscheidungen sind, die ich im Verlauf meines Lebens getroffen habe. Wie es auf viele von uns zutrifft, habe ich diese Entscheidungen zum Teil als Reaktion auf meine Eltern getroffen, vor allem meinen Vater, einen brillanten, komplizierten Mann, der mich stärker geprägt hat als irgendjemand sonst.
Ganz gewiss hat er meine Neugier auf die Welt geweckt. Er hatte ein Arbeitszimmer, das bis unter die Decke mit Bücherregalen gefüllt war, und er hat jedes einzelne Buch davon gelesen. Ich begann erst in der Highschool, mich wirklich für Bücher zu interessieren, aber als ich schließlich die Liebe zu Büchern entdeckte, war es seinem Einfluss zu verdanken. Er war Mitglied in einem Buchklub und besaß die Gesamtausgaben aller großen amerikanischen Schriftsteller – Fitzgerald, Hemingway, Faulkner, Steinbeck und so weiter. Ich verschlang Fitzgeralds Zärtlich ist die Nacht oder Hemingways Wem die Stunde schlägt und Dutzende andere, und mein Vater drängte mich immer, noch mehr zu lesen. Außerdem diskutierten wir beim Abendessen die Ereignisse in der Welt; bereits mit zehn Jahren holte ich die New York Times , die der Zeitungsausteiler über den Zaun in unseren Vorgarten geworfen hatte, und las sie am Küchentisch, bevor alle anderen aufwachten.
Wir lebten in einem zweistöckigen Haus in einer kleinen, überwiegend von der Arbeiterschicht geprägten Ortschaft auf Long Island mit dem Namen Oceanside. Ich war das ältere von zwei Kindern; meine Schwester ist drei Jahre jünger. Meine Mutter war warmherzig und liebevoll und widmete sich ausschließlich der Familie, bis ich die Highschool besuchte. Dann nahm sie eine Stelle in der Schulbibliothek der örtlichen Junior Highschool an. Mein Vater war ein Veteran der US Navy, der aus dem Krieg zurückgekehrt war und in einigen unbekannteren Big Bands Trompete spielte. Er glaubte aber nicht, dass er von seinen Einkünften als Musiker leben konnte, daher versuchte er nie, als Vollzeitmusiker zu arbeiten. Er hatte Marketing an der Wharton School der Universität von Pennsylvania studiert. Seine erste Stelle hatte er im Marketing eines Lebensmittelherstellers; das wiederum führte ihn in die Werbung. Er wurde Account Manager bei einer Werbeagentur in der Madison Avenue – unter anderem war er für die Marken Old Milwaukee und Brunswick Bowling verantwortlich –, aber schließlich verlor er diesen Job. Als ich zehn oder elf war, hatte er seine Arbeitsstellen so oft gewechselt, dass ich begann, mich nach den Gründen zu fragen.
Zu diesem Zeitpunkt war mein Vater, der sehr liberal eingestellt war, bereits stark politisch engagiert. Einmal verlor er seine Arbeit, weil er fest entschlossen war, an dem Marsch der Bürgerrechtsbewegung nach Washington teilzunehmen und sich die Rede von Martin Luther King Jr. anzuhören. Sein Chef gab ihm nicht frei, aber er nahm trotzdem teil. Ich weiß nicht, ob er fristlos kündigte und nach Washington fuhr, oder ob er nach seinem Fernbleiben gefeuert wurde, jedenfalls war dies nur einer von mehreren Fällen, in denen eine Beschäftigung für ihn so endete.
Ich war stolz auf seinen festen Charakter und seine politischen Überzeugungen. Er besaß einen stark ausgeprägten Sinn für das, was richtig und fair ist, und er ergriff immer die Partei der Benachteiligten. Allerdings hatte er wenig Kontrolle über sein Temperament und sagte oft Dinge, die ihn anschließend in Schwierigkeiten brachten. Später erfuhr ich, dass man ihm eine manische Depression diagnostiziert hatte und dass er mehrere Therapien ausprobiert hatte, darunter auch eine Elektroschocktherapie. Als ältestes Kind trug ich die ganze Last seiner emotionalen Unberechenbarkeit. Zwar fühlte ich mich nie von ihm bedroht, aber mir war seine dunkle Seite sehr bewusst, und ich empfand Mitleid mit ihm. Wir wussten nie, welcher Dad abends nach Hause kommen würde. Ich kann mich noch sehr genau daran erinnern, dass ich in meinem Kinderzimmer in der zweiten Etage unseres Hauses saß und an der Art und Weise, wie er die Tür öffnete, hinter sich schloss und die Treppen hinaufging, erkannte, ob ein gut gelaunter oder ein trauriger Dad nach Hause kam.
Gelegentlich steckte er den Kopf durch die Tür zu meinem Zimmer, um sicherzugehen, dass ich »die Zeit produktiv verbrachte«, wie er es ausdrückte. Das bedeutete, zu lesen oder Hausaufgaben zu machen oder irgendeiner anderen Beschäftigung nachzugehen, die mich zu einem »besseren Menschen« machen würde. Er wollte, dass meine Schwester und ich Spaß hatten und uns vergnügten, aber es war ihm auch sehr wichtig, dass wir unsere Zeit klug verbrachten und konzentriert an der Erreichung unserer Ziele arbeiteten. Ich bin sicher, dass mein intensiver Fokus auf ein gutes Zeitmanagement (manche würden sagen, meine Besessenheit) von ihm stammt.
Ich hatte schon früh das Gefühl, dass es meine Aufgabe sei, die tragende Säule und der Ruhepol in unserer Familie zu sein.
Ich hatte schon früh das Gefühl, dass es meine Aufgabe sei, die tragende Säule und der Ruhepol in unserer Familie zu sein, und das erstreckte sich auch auf praktische Dinge, die im Haus zu erledigen waren. Wenn etwas kaputtging, bat mich meine Mutter, es zu reparieren, und so lernte ich bereits als Kind, wie man alles repariert, was in einem Haus kaputtgehen kann. Ich glaube, mein Interesse an Technologie ist darauf zurückzuführen. Ich arbeitete gerne mit Werkzeug und nahm gerne Dinge auseinander, um ihre Funktionsweise zu verstehen.
Meine Eltern machten sich ständig Sorgen. Beide vermittelten stets den Eindruck, als würde irgendein negatives Ereignis kurz bevorstehen. Ich weiß daher nicht, ob es genetische Veranlagung ist oder eine Reaktion auf ihre ständige Anspannung, aber ich bin immer genau das Gegenteil gewesen. Mit wenigen Ausnahmen habe ich mir nie viele Sorgen über die Zukunft gemacht und hatte auch nie große Angst davor, etwas auszuprobieren und zu scheitern.
Kaugummi von Tausenden von Schulpulten zu entfernen, kann eine gute Übung in Charakterbildung oder zumindest in Toleranz für Monotonie oder Ähnliches sein …
Als ich älter wurde, begann ich zu erkennen, wie enttäuscht mein Vater von sich selbst war. Er hatte ein Leben geführt, das er als unbefriedigend empfand, und betrachtete sich als Versager. Aus diesem Grund drängte er uns so sehr, uns anzustrengen und produktiv zu sein, damit wir später den Erfolg haben würden, der ihm versagt blieb. Seine chronischen Arbeitsprobleme bedeuteten, dass ich mein eigenes Geld verdienen musste, wenn ich Geld zur Verfügung haben wollte. In der achten Klasse begann ich Schnee zu schippen und als Regalauffüller in einem Baumarkt und als Babysitter auszuhelfen. Mit fünfzehn arbeitete ich als Hausmeister in meiner Schule. In dieser Funktion musste ich alle Heizungen in allen Klassenzimmern putzen, die Unterseiten der Schultische prüfen, um sicherzugehen, dass kein Kaugummi darunter klebte, und es gegebenenfalls entfernen. Kaugummi von Tausenden von Schulpulten zu entfernen, kann eine gute Übung in Charakterbildung oder zumindest in Toleranz für Monotonie oder Ähnliches sein …
Ich besuchte das Ithaca College und arbeitete in meinem ersten und zweiten Studienjahr fast jedes Wochenende beim örtlichen Pizza Hut. In der Highschool hatte ich zumeist gute Noten, aber Lernen an sich war nie meine Leidenschaft. Als ich das College besuchte, stellte ich jedoch fest, dass es mir Spaß machte. Ich war fest entschlossen, mich intensiv anzustrengen und möglichst viel zu lernen. Ich glaube, auch das hing mit meinem Vater zusammen – in gewisser Weise wollte ich mich auf keinen Fall so wie mein Vater als Versager im Leben fühlen. Ich hatte zwar keine klare Vorstellung von »Erfolg« und auch nicht die Vision, dass ich reich und mächtig werden würde, aber ich war fest entschlossen, unter allen Umständen zu vermeiden, dass mein Leben ein Leben der Enttäuschung sein würde. Wie auch immer meine Zukunft aussehen würde, ich sagte mir, dass ich auf keinen Fall frustriert und unerfüllt leben wollte.
Ich trage aus diesen frühen Jahren keine anderen emotionalen Altlasten mit mir herum als den Schmerz, dass mein Vater kein glücklicheres Leben führte und meine Mutter ebenfalls unter dieser Situation litt. Ich wünschte, er hätte mehr Stolz auf sich selbst empfinden können. Meiner Schwester und mir fehlte es nie an Liebe und Zuwendung. Wir hatten immer ein Dach über dem Kopf und eine Mahlzeit auf dem Tisch, aber darüber hinaus war selten Geld da für andere Dinge. In den Ferien fuhren wir mit dem Auto an irgendwelche unaufregenden Plätze oder gingen an den Strand, der sich nur wenige Minuten von unserem Haus befand. Wir hatten genügend Kleidung, um präsentabel aufzutreten, aber mehr auch nicht. Wenn ich mir im Herbst eine Hose zerriss, musste ich sie üblicherweise geflickt weitertragen, bis wir Geld für eine neue Hose hatten. Das konnte Monate dauern. Ich habe mich nie als arm empfunden, und niemand hat mich als arm betrachtet. Die Situation war jedoch wesentlich angespannter, als es von außen erschien, und mit zunehmendem Alter wurde mir das bewusst.
Später im Leben, nachdem ich zum CEO von Disney ernannt worden war, führte ich meinen Vater in New York zum Mittagessen aus. Wir sprachen über seine geistige Gesundheit und seine Sicht auf das Leben. Ich sagte ihm, wie sehr ich alles schätzte, was er und meine Mutter für uns getan hatten, die ethischen Werte, die sie uns vermittelt hatten, und die Liebe, die sie uns geschenkt hatten. Ich sagte ihm, das sei mehr als genug, und ich wünschte mir, mein Dank möge ihm ein wenig Befreiung von seiner Enttäuschung bieten. Ich weiß, dass ich viele meiner Eigenschaften, die mir im Verlauf meiner Karriere so gute Dienste geleistet haben, ihm zu verdanken habe. Ich hoffe, dass er das verstanden hat.
MEINE KARRIERE BEGANN am 1. Juli 1974 als Studio-Supervisor für das Fernsehnetzwerk ABC Television. Davor präsentierte ich ein Jahr lang den Wetterbericht und arbeitete als Nachrichtenreporter bei einem winzigen Sender für Kabelfernsehen in Ithaca, New York. Innerlich war ich unsicher, ob dies das Richtige für mich war (und zudem erbrachte ich nur mäßige Leistung). Das überzeugte mich davon, mich von dem Job zu verabschieden, von dem ich seit meinem 16. Lebensjahr geträumt hatte: Nachrichtenmoderator eines großen Fernsehnetzwerks zu werden. Ich sage nur mit einem halben Augenzwinkern, dass die Erfahrung, den Einwohnern von Ithaca den täglichen Wetterbericht zu präsentieren, mir eine unverzichtbare Fähigkeit beibrachte: schlechte Nachrichten zu übermitteln. Ungefähr sechs Monate in diesem Jahr, nämlich in der endlos wirkenden Zeit von Oktober bis April, war ich nicht gerade der beliebteste Typ der Stadt.
Zu ABC kam ich dank der schlechten Augen meines Onkels Bob. Der Bruder meiner Mutter, den ich verehrte, verbrachte nach einer Augenoperation einige Tage in einem Krankenhaus in Manhattan. Sein Zimmergenosse war eine Führungskraft mit recht wenig Verantwortung bei ABC und aus irgendeinem Grund darauf erpicht, dass mein Onkel ihn für einen wichtigen Fernsehmogul hielt. Er täuschte von seinem Krankenhausbett Telefonate vor, in denen er angeblich große Fernsehentscheidungen traf, die nur er treffen konnte, und mein Onkel fiel darauf herein. Bevor er entlassen wurde, erwähnte er gegenüber diesem Zimmergenossen, sein Neffe suche einen Job bei einer Fernsehproduktion in New York. Der Möchtegern-Mogul überreichte ihm seine Visitenkarte und sagte: »Sagen Sie Ihrem Neffen, er soll mich anrufen.«
Als ich mich tatsächlich meldete, war er ein wenig überrascht und wusste zunächst nicht, wer ich überhaupt war. Nach den Beschreibungen meines Onkels hatte ich einen mächtigen Manager eines großen Fernsehnetzwerks erwartet, dessen Einfluss bis in die höchsten Sphären des Unternehmens reichte. Davon war er weit entfernt, aber zu seiner Ehrenrettung muss man sagen, dass er es tatsächlich schaffte, mir ein Bewerbungsgespräch in der kleinen Abteilung Production Services zu verschaffen, die er bei dem Sender leitete. Nicht lange danach wurde ich als Studio-Supervisor eingestellt.
Die Position war mit 150 Dollar pro Woche vergütet und stand in der Hierarchie von ABC so weit unten, wie es überhaupt nur möglich war. Es gab ein halbes Dutzend Studio-Supervisors, die bei Quizsendungen, Seifenopern und Talkshows, aber auch bei Nachrichtensendungen und TV-Specials – also bei allem, was ABCs florierende Studios in Manhattan produzierten – alle möglichen niederen Arbeiten verrichteten. Ich wurde bei einer Flut von Produktionen eingesetzt, die das gesamte Spektrum an Fernsehsendungen umfasste.
Die Anforderungen an meine Position waren ziemlich einfach: zur Stelle sein, wann immer ich gebraucht wurde und egal für welche Aufgabe. Oft hieß das, um 4:30 Uhr morgens im Studio zu sein. Die Kulissen für die Seifenopern wurden bereits am Abend vor dem Dreh aufgestellt, und meine Aufgabe bestand darin, lange vor Sonnenaufgang die Beleuchter und Bühnenhelfer hereinzulassen, damit die Beleuchtung fertig eingerichtet war, wenn der Regisseur und die Darsteller für den ersten Durchgang eintrafen. Ich koordinierte die Schreiner und Requisiteure, die Elektriker, Make-up-Künstler, Haarstylisten und Kostümverantwortlichen, registrierte alle und sorgte dafür, dass sie über den Tagesablauf informiert waren. Ich notierte ihre Arbeitsstunden, ihre Beschwerden und Verstöße gegen Gewerkschaftsregeln, organisierte das Catering und sorgte dafür, dass die Klimaanlage die Studios so weit heruntergekühlt hatte, dass der Dreh unter der heißen Studiobeleuchtung beginnen konnte. Mein Job war so unglamourös, wie man sich nur vorstellen konnte, aber ich lernte das Geschäft der Produktion von Fernsehsendungen von der Pike auf. Ich beherrschte den einschlägigen Studiojargon und lernte alle Leute kennen, die an der Produktion von Fernsehsendungen beteiligt waren. Und vor allem lernte ich, lange, anstrengende Arbeitstage und die extrem hohe Arbeitsbelastung von Fernsehproduktionen auszuhalten. Diese Arbeitsethik habe ich den Rest meines Lebens beibehalten.
Seitdem wache ich fast jeden Morgen um 4:15 Uhr auf, allerdings mache ich das heute aus einem ganz egoistischen Grund: um Zeit zum Nachdenken und zum Lesen zu haben und um Sport zu treiben, bevor ich mich den Herausforderungen des Tages stelle. Im Morgengrauen aufzustehen, ist nichts für jedermann, aber es ist wichtig, sich jeden Tag Raum zu schaffen, um die Gedanken über die dringenden beruflichen Anforderungen hinauswandern zu lassen und bestimmte Fragestellungen auf kreativere Weise und ohne Druck von allen Seiten zu betrachten. Während eines geschäftigen Arbeitstages ist dies selten möglich. Ich genieße diese Zeit, die ich morgens ganz für mich habe, und bin sicher, dass ich weniger produktiv und kreativ in meiner Arbeit wäre, wenn ich diese ersten Stunden des Tages nicht weit weg von E-Mails, Textnachrichten und Telefonaten verbringen würde, die im weiteren Verlauf des Tages so viel Aufmerksamkeit beanspruchen.
DAMALS WAR DIE UNTERHALTUNGSINDUSTRIE noch völlig anders beschaffen als heute. In gewisser Weise war sie besser. Der Wettbewerb war einfacher und die Welt nicht so fragmentiert. Auf jeden Fall gab es ein mehrheitlich geteiltes amerikanisches Narrativ, das auf allgemeinen gesellschaftlichen Überzeugungen über bestimmte Tatsachen basierte. In vielfacher anderer Hinsicht war die Zeit schlechter. Zum einen gab es eine gleichgültige Toleranz für Respektlosigkeiten, die heute vollkommen inakzeptabel wären. Zweifellos war der Alltag für Frauen und Angehörige unterrepräsentierter Bevölkerungsgruppen wesentlich schwieriger als für mich. Aber selbst ich war in meiner Stellung am unteren Ende der Nahrungskette gelegentlich Opfer beiläufiger Übergriffe, für die Leute heute fristlos gefeuert würden.
Hier ein Beispiel, das sehr gut die damalige Zeit widerspiegelt: Die Nachrichtensendung The Evening News wurde um 18:00 Uhr aus einem umgewandelten Ballsaal des alten »Hotel des Artistes« in der West Sixty-seventh Street ausgestrahlt. Kaum, dass die Kameras abgeschaltet waren, verließen der Nachrichtenmoderator Harry Reasoner und sein Bühnenmanager, ein Mann namens Whitey, das Studio und begaben sich in die Hotelbar, wo Harry jeden Abend einen doppelten Beefeater-Martini extra-dry auf Eis hinunterspülte.
Wir haben inzwischen ein weitaus größeres Bewusstsein für einen fairen, gleichberechtigten und respektvollen Umgang am Arbeitsplatz entwickelt, aber es hat viel zu lange gedauert.
Eine meiner Aufgaben bestand darin, zu warten, während der Produzent die Sendung überprüfte. Anschließend musste ich Harry und der Studiocrew dann Bescheid sagen, falls irgendetwas aktualisiert oder geändert werden musste, bevor die Sendung in andere Zeitzonen ausgestrahlt wurde. Eines Abends, als Harry für seinen zweiten Martini bereit war, bat er mich, ins Studio zu gehen und den Produzenten zu fragen, wie die Dinge standen. Ich lief also in den Regieraum und sagte: »Harry möchte wissen, wie es aussieht.« Der Produzent musterte mich mit einem Blick, aus dem tiefste Verachtung sprach. Dann machte er den Reißverschluss seiner Hose auf, holte seinen Penis heraus und erwiderte: »Ich weiß nicht. Sag du mir, wie es aussieht.« Fünfundvierzig Jahre später werde ich immer noch wütend, wenn ich an diese Szene zurückdenke. Wir haben inzwischen ein weitaus größeres Bewusstsein für einen fairen, gleichberechtigten und respektvollen Umgang am Arbeitsplatz entwickelt, aber es hat viel zu lange gedauert.
Im Herbst 1974 sollte ich bei The Main Event mitarbeiten, einem Konzert von Frank Sinatra im Madison Square Garden, das ABC zur Hauptsendezeit live übertrug. Ich war der Studio-Supervisor vor Ort, was bedeutete, dass ich als Laufbursche für die riesige Bühnencrew zur Verfügung stehen musste. Das war ein begehrter Job und für mich persönlich eine tolle Sache. Mein Vater spielte auf unserem Plattenspieler endlos Songs von Frank Sinatra. Bis heute erinnere ich mich an das Bild, wie mein Vater im Wohnzimmer stand und Franks heiseren Gesang auf der Trompete begleitete.
Mich im selben Gebäude aufzuhalten wie Sinatra, die Proben mitzuerleben und meinen kleinen Beitrag zu einer reibungslosen Produktion zu leisten – ich konnte mein Glück gar nicht fassen. Der Höhepunkt ereignete sich einige Stunden vor Konzertbeginn, als mir ein Assistenzproduzent den Auftrag erteilte, loszugehen und eine Flasche Mundwasser zu besorgen und sie so schnell wie möglich in Mr. Sinatras Garderobe zu bringen. Ich rannte einige Häuserblocks bis zu einer Apotheke und kaufte die größte Flasche Listerine, die ich finden konnte. Dabei dachte ich die ganze Zeit, dass Frank Halsprobleme hatte und die gesamte Übertragung seines Konzerts auf meinen Schultern lastete!
Nervös und atemlos klopfte ich mit dem Mundwasser in der Hand an seine Garderobe. Die Tür ging auf, und ich wurde von einem imposanten Bodyguard empfangen, der wissen wollte, was zur Hölle ich da zu suchen hatte. »Ich bringe Mr. Sinatra Listerine«, sagte ich. Bevor er antworten konnte, hörte ich eine vertraute Stimme irgendwo von ganz hinten im Raum: »Lass ihn rein.« Wenige Augenblicke später stand ich vor IHM.
»Wie heißt du, Junge?«
»Bob.«
»Und wo kommst du her?«
Aus irgendeinem Grund sagte ich »Brooklyn«, denn in diesem Stadtteil wurde ich geboren und dort lebte ich die ersten fünf Jahre, bis meine Familie nach Long Island zog. Ich glaube, ich wollte vor ihm irgendwie realer wirken, und »Oceanside« besaß einfach nicht dieselbe Romantik.
»Brooklyn!«, sagte Frank, als sei es die nächstbeste Sache nach Hoboken, und dann gab er mir einen knisternden 100-Dollar-Schein. Im Anschluss an die Konzertübertragung überreichte er jedem Mitglied der Crew ein elegantes goldenes Feuerzeug mit der Gravur »LOVE, SINATRA«. Die 100 Dollar habe ich fast umgehend ausgegeben, aber das Feuerzeug bewahre ich bis heute in meiner Schublade auf.
The Main Event wurde von Jerry Weintraub und Roone Arledge produziert, dem damals 43-jährigen schnodderigen Chef von ABC Sports. Im Jahr 1974 war Roone bereits eine legendäre Führungskraft in der Fernsehindustrie. Er hatte die Crew mit mehreren Produzenten besetzt, die für ihn arbeiteten. Am Abend vor dem Konzert probten sie die gesamte Show. Der berühmte amerikanische Sportkommentator Howard Cosell machte den Auftakt und kündigte Frank auf der Bühne an wie einen Preisboxer (die Bühne selbst war so hergerichtet, dass sie wie eine Boxarena wirkte). Dann trat Frank hinzu und gab fast zwei Stunden seine Songs zum Besten.
Es war das erste Mal, das ich Roone in Aktion sah. Er beobachtete alles ganz genau, und als die Probe vorbei war, entschied er, dass das praktisch alles nichts taugte und komplett neu gemacht werden musste. Die Bühnenkulisse musste neu entworfen werden, Howards Einführung musste überarbeitet und die Beleuchtung radikal verändert werden. Die gesamte Art und Weise, wie Frank mit dem Publikum interagierte, so Roone, musste neu konzipiert werden.
Ich erledigte meine kleinen Aufgaben und beobachtete, wie alles unter lautem Fluchen der Crew niedergerissen und wiederaufgebaut wurde. Allerdings ließ sich nicht leugnen, dass die Show, die weniger als 24 Stunden später live übertragen wurde, ein ganz anderes Kaliber hatte als die Show, die zuvor geprobt worden war. Ich hatte keine Ahnung, wie Roone das machte, aber später erfuhr ich, dass dies der klassische Roone war – absolut nicht bereit, sich mit Mittelmaß zufriedenzugeben, und ungerührt in der Entscheidung, wenn nötig trotz einer engen unverrückbaren Frist alles nochmal von vorne zu machen (und dabei viele Menschen bis in die Erschöpfung zu treiben), um erstklassige Qualität zu bieten.
Das Hochgefühl, das mir The Main Event verschafft hatte, verflog aber umgehend, sobald ich in meine profane Welt der Seifenopern und Spielshows zurückkehrte. Es dauerte nicht lange, und ich musste mich mit meinem eigenen kleinen Drama auseinandersetzen. Der Chef der kleinen Abteilung, in der ich arbeitete, war ein korrupter Rowdy, der Vertriebspartner und Zulieferer aus dem Budget der Abteilung bezahlte, damit sie Arbeit (»Regierungsjobs» nannte er sie) für ihn und andere Führungskräfte von ABC erledigten. Dann stopfte er sich die Provisionen in die eigene Tasche. Außerdem kaufte er Möbel, angeblich für die Bühnenkulisse der Seifenopern, wies dann aber die Bühnenhelfer an, sie in ein Apartment in Midtown zu schaffen, das er einer Geliebten eingerichtet hatte. Ich wurde aufgefordert, mich daran zu beteiligen, entweder indem ich mit anpackte oder wegsah, und das Ganze irritierte mich ohne Ende. Ich begann einige Leute in der Abteilung zu fragen, ob man nicht etwas dagegen unternehmen könne. Das wurde meinem Chef offenbar zugetragen.
Eines Tages zitierte er mich in sein Büro. Als ich hereinkam, überschüttete er mich unverzüglich mit Vorwürfen, ich hätte gegen die Unternehmensregeln verstoßen. »Was wollen Sie eigentlich?«, fragte er. »Mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie einen unserer Pick-ups für Ihren Umzug in ein anderes Apartment benutzt haben.«
Ich hatte tatsächlich kurzfristig Zugang zu einem Pick-up des Unternehmens und hatte gegenüber einigen Kollegen gewitzelt, ich könne vielleicht den Pick-up für meinen Umzug ausleihen, aber ich hatte es nie getan, und das sagte ich ihm auch. Mir wurde in dem Moment allerdings klar, dass jemand ihm gesagt haben musste, dass ich Probleme machen würde.
»Sie verbreiten Gerüchte über mich«, sagte er. Als ich diesen Vorwurf nicht abstritt, starrte er mich eine Weile an und sagte schließlich: »Wissen Sie was, Iger? Sie sind nicht länger beförderungsfähig.« Er gab mir zwei Wochen, um einen Job in einer anderen Abteilung zu finden, oder ich würde fliegen. Ich war 23 Jahre alt und meine Karriere beim Fernsehen war vermutlich erledigt. Trotzdem sah ich mir die Stellenanzeigen von ABC an – damals war das noch eine Aushangtafel – und entdeckte in einer Liste mit rund 25 anderen Stellen, für die ich nicht qualifiziert war, ein Stellenprofil bei ABC Sports. Daraufhin rief ich umgehend einen der Männer an, die ich noch vom Sinatra-Konzert kannte, und erklärte ihm meine Situation. Er sagte mir, ich solle in die 1330 (die Konzernzentrale von ABC in der 1330 Avenue of the Americas) kommen. Einen Monat später wurde ich als Studio Operations Supervisor von ABC Sports eingestellt. Wenn man nicht genau hinsah, hätte man behaupten können, diese neue Position wäre ein wenig glanzvoller als der Job, den ich gerade verloren hatte. Auf jeden Fall war es eine entscheidende Zäsur, die ich, so möchte ich glauben, teilweise Frank Sinatra verdanke, und teilweise einem Mann, der später wegen Veruntreuung gefeuert wurde.
IN IHRER BLÜTEZEIT, das heißt in den 1970er- und Anfang der 1980er-Jahre, war ABC Sports eine der profitabelsten Sparten des gesamten Fernsehnetzwerks, was zum größten Teil mit der unglaublichen Beliebtheit der Sendungen Monday Night Football und Wide World of Sports zu tun hatte. Außerdem besaß ABC Sports eine großartige Mischung aus Übertragungsrechten für College-Football und Major League Baseball sowie für zahlreiche wichtige Golfturniere und Boxwettkämpfe, und darüber hinaus produzierte es Programme wie The American Sportsman und The Superstars . Als Krönung war ABC alle vier Jahre der »Olympiasender«, denn er hatte über die meisten Olympischen Spiele zwischen 1964 und 1988 berichtet.
Die Leute, die bei Sports arbeiteten, galten im Unternehmen als die »coolen Jungs«, ein Status, der sich in praktisch allem widerspiegelte – wie sie sich kleideten (maßgeschneiderte Anzüge und Gucci-Loafer, die barfuß getragen wurden), was sie aßen und tranken (teure Weine und Scotch, oft schon zum Mittagessen) und den Hollywoodstars, berühmten Sportlern und Politikern, mit denen sie verkehrten. Sie flogen ständig zu exotischen Plätzen, oft mit der Concorde zu unserem europäischen Büro in Paris, und von dort aus an so illustre Orte wie Monte Carlo und Sankt Moritz.
Schließlich stieg ich im Unternehmen so weit auf, dass auch ich einen Platz in der Concorde fand. Die Reisen, die ich unternahm, vor allem für ABCs Wide Sport , veränderten mein Leben. Davor war ich noch nie im Ausland gewesen, und plötzlich flog ich durch die ganze Welt. (Wie Jim McKays Stimme Woche für Woche die Sendung eröffnete, umspannten wir »den Globus, um Ihnen die ganze Vielfalt des Sports nach Hause zu bringen«.) Mal war ich am Wochenende bei einer Surf-Meisterschaft auf Hawaii, mal beim Eiskunstlauf in Prag, einem Gewichthebewettbewerb in Budapest oder beim Frontier-Day-Rodeo in Cheyenne. Es gab Cliff-Diving in Acapulco, Abfahrtslauf in Kitzbühel und Gymnastik in China, Rumänien oder der Sowjetunion …
Für einen jungen Mann, der in einem zweistöckigen Haus in Oceanside, New York, aufgewachsen war, fühlte sich das alles ein wenig schwindelerregend an.
ABC Sports zeigte mir die Welt und machte mich anspruchsvoller. Ich kam mit Dingen in Berührung, die ich vorher nicht kannte. Ich kann mich noch genau erinnern, wo und wann ich das erste Mal in Paris die exquisite französische Küche genoss, wann ich an das erste Mal das Wort Montrachet aussprach und wann ich das erste Mal in einem Luxussportwagen durch Monaco cruiste. Für einen jungen Mann, der in einem zweistöckigen Haus in Oceanside, New York, aufgewachsen war, fühlte sich das alles ein wenig schwindelerregend an. Es war jedoch viel mehr als ein Leben in Saus und Braus. Ich reiste regelmäßig in Entwicklungsländer und arrangierte die Berichterstattung über Sportereignisse im Ostblock, wo ich mit unnachgiebigen Regierungsbehörden verhandelte und mich oft in korrupten und komplexen bürokratischen Strukturen bewegen musste. Ich sah aus unmittelbarer Nähe, wie die Menschen hinter dem Eisernen Vorhang lebten, und erhielt einen Eindruck von den täglichen Herausforderungen, mit denen sie konfrontiert waren. (Ich erinnere mich noch, dass ich während der abendlichen Stromausfälle über das verdunkelte Bukarest blickte, wenn die Regierung im Winter das Stromnetz abschaltete.) Ich sah aber auch, dass sich die Träume der Menschen in diesen Ländern nicht von den Träumen der durchschnittlichen amerikanischen Bürger unterschieden. Während Politiker unbedingt die Welt teilen oder eine konfrontative Wir-gegen-sie- oder Gut-gegen-schlecht-Mentalität erzeugen wollten, kam ich mit einer Wirklichkeit in Berührung, die wesentlich vielschichtiger war.
Bei allem Glamour lässt sich ein überzeugendes Argument (das irgendwann auch geäußert wurde) anführen, nämlich dass ein derart abgehobenes Leben unverantwortlich ist. Zu jener Zeit befand sich ABC Sports aber in seinem eigenen Orbit, oft unbehelligt von den Gesetzen, die für den übrigen Konzern galten.
Im Zentrum dieses Orbits befand sich Roone Arledge. Roone wurde Anfang der 1960er-Jahre als Leiter von ABC Sports angeheuert. Als ich zu dem Unternehmen stieß, war er bereits ein ungekrönter Fernsehkönig. Mehr als jeder andere in der Geschichte des Fernsehens hatte er die Art und Weise verändert, wie wir TV-Übertragungen von Sportveranstaltungen erleben.
Erstens wusste er, dass wir Geschichten erzählten und nicht einfach Veranstaltungen übertrugen. Und um eine großartige Geschichte zu erzählen, braucht man ein herausragendes Talent. Er war die am meisten wettbewerbsorientierte Person, für die ich je gearbeitet habe, und außerdem ein unermüdlicher Innovator. Doch er wusste auch, dass er nur so gut war wie die Leute, mit denen er sich umgab. Jim McKay, Howard Cosell, Keith Jackson, Frank Gifford, Don Meredith, Chris Schenkel, Bob Beattie im Skisport, Jackie Stewart im Autorennen – sie alle besaßen geradezu magnetische TV-Persönlichkeiten, und Roone machte aus ihnen Namen, die im ganzen Land bekannt waren.
»Das menschliche Drama des sportlichen Wettbewerbs« – um eine weitere Schlagzeile aus der Eröffnung von Wide World of Sports zu zitieren –, so sah Roone tatsächlich die Ereignisse, über die wir berichteten. Die Athleten waren die Protagonisten in den Erzählungen, die entstanden und sich weiterentwickelten, noch während sie den Zuschauern geschildert wurden. Woher kamen die Athleten? Welche Hindernisse mussten sie überwinden, um dahin zu kommen, wo sie heute standen? Inwieweit ähnelt dieser Wettkampf einem geopolitischen Drama? Auf welche Weise bot es Einblicke in fremde Kulturen? Roone schwelgte in der Vorstellung, dass wir Millionen von Amerikanern nicht nur Sport, sondern die ganze Welt direkt ins Wohnzimmer brachten.
Mach etwas Neues oder stirb; wenn du Furcht vor dem Neuen oder Unerprobten hast und danach handelst, gibt es keine Innovation.
Außerdem war er die erste Person, für die ich je gearbeitet habe, die die technologischen Fortschritte begrüßte, die unsere Arbeit revolutionierten. Kameras mit Rückwärtsperspektive, Wiederholungen in Zeitlupe, Satellitenübertragung von Sportereignissen – das war Roone, wie er leibt und lebt. Er wollte jede technische Neuerung ausprobieren und jedes etablierte Format aufbrechen. Ständig hielt er Ausschau nach neuen Wegen, die Zuschauer und ihre Aufmerksamkeit zu fesseln. Roone brachte mir den Leitsatz bei, den ich mir seitdem in jeder meiner Positionen zu eigen gemacht habe: Mach etwas Neues oder stirb; wenn du Furcht vor dem Neuen oder Unerprobten hast und danach handelst, gibt es keine Innovation.
Außerdem war er ein unermüdlicher Perfektionist. In meinen ersten Jahren bei ABC Sports verbrachte ich die meisten meiner Wochenenden in einem Regieraum im Keller der 66. Straße. Zu meinen Aufgaben gehörte es, Beiträge aus der ganzen Welt anzunehmen und sie an die Produzenten und Editoren weiterzuleiten, die sie schnitten und Voiceovers darüberlegten, bevor sie ausgestrahlt wurden. Roone tauchte oft im Regieraum auf, und wenn er nicht persönlich erscheinen konnte, rief er von irgendwo unterwegs an. (In jedem der Kontrollräume und in jeder mobilen Kabine bei den Veranstaltungen, über die wir berichteten, gab es ein rotes »Roone-Telefon«.) Wenn er zu Hause war und sich die Übertragung im Fernsehen ansah – er sah immer von irgendwo zu – und etwas entdeckte, das ihm nicht gefiel, rief er sofort an: Falscher Kamerawinkel! Die Story braucht mehr Nachdruck! Wir sagen den Leuten nicht, was als Nächstes kommt!
Kein Detail war für Roone zu geringfügig. Perfektion war das Ergebnis einer Sache, an der alles bis ins kleinste Detail stimmte. Bei zahllosen Gelegenheiten zerriss er das ganze Programm in der Luft – wie ich es beim Sinatra-Konzert erlebt hatte – und verlangte, dass das Team alles noch einmal neu machte, selbst wenn es bedeutete, dass alle bis zum Morgengrauen in einem Bearbeitungsraum schuften mussten. Er schrie nie, aber er war hart, zäh und fordernd und nahm kein Blatt vor den Mund, wenn er erklärte, was nicht stimmte, und seiner Erwartung Ausdruck verlieh, dass die Fehler korrigiert wurden. Es ging nur um die Sendung; sie war sein ein und alles. Ihm war sie wichtiger als den Leuten, die die Sendung fuhren, und damit musste man sich abfinden, wenn man für ihn arbeiten wollte. Sein Engagement für Perfektion hatte eine elektrisierende Wirkung. Oft war es ermüdend und frustrierend (zumeist, weil er immer erst in der letzten Sekunde des Produktionsprozesses maßgebliche Anweisungen erteilte oder Änderungen verlangte), aber zugleich war es inspirierend, und diese Inspiration machte die Frustration mehr als wett. Alle wussten, wie wichtig ihm Perfektion war, und man wollte einfach seine Erwartungen erfüllen.
Sein Mantra lautete schlicht und einfach: »Tu, was du tun musst, um es besser zu machen.« Von allen Dingen, die ich von Roone lernte, hat mich dieser Satz am stärksten geprägt. Wenn ich über diese besondere Führungsqualität spreche, bezeichne ich sie als »unermüdlichen Perfektionsdrang«. In der Praxis bedeutet das vielerlei und lässt sich daher schwer konkretisieren. Eigentlich ist es mehr eine grundlegende Denkhaltung als ein spezifischer Regelkatalog. Es geht nicht um Perfektion um jeden Preis (um den sich Roone relativ wenig scherte) – zumindest habe ich es so verinnerlicht –, sondern um die Schaffung einer Umgebung, in der man sich weigert, sich mit Mittelmäßigkeit zufriedenzugeben. Eine Denkhaltung, die instinktiv das Bedürfnis erstickt, Dinge zu sagen wie: Dafür reicht die Zeit nicht oder Ich habe keine Energie oder Dafür muss ich ein unangenehmes Gespräch führen, das ich gerne vermeiden möchte oder irgendeinen der zahlreichen anderen Sätze, mit denen wir uns selbst davon überzeugen, dass »gut genug« gut genug ist.
Sein Mantra lautete schlicht und einfach: »Tu, was du tun musst, um es besser zu machen.«
Jahrzehnte nachdem ich aufgehört hatte, für Roone zu arbeiten, sah ich einen Dokumentarfilm mit dem Titel Jiro Dreams of Sushi über einen Meister-Sushi-Koch aus Tokio namens Jiro Ono, dessen Restaurant drei Michelin-Sterne hat und eines der meistbesuchten Restaurants der Welt ist. In dem Film ist Jiro bereits Ende 80 und versucht noch immer, seine Kunst zu perfektionieren. Einige beschreiben ihn als leibhaftige Verkörperung des japanischen Wortes shokunin , was so viel bedeutet wie »endlose Verfolgung von Perfektion zugunsten eines höheren Wohls«. Als ich diesen Dokumentarfilm sah, war ich völlig begeistert von Jiro und fasziniert von dem Shokunin-Konzept. Im Jahr 2013 reiste ich beruflich nach Tokio und besuchte mit einigen Kollegen sein Restaurant. Dort lernten wir Jiro kennen, der unsere Mahlzeiten zubereitete, und ich sah ihm ehrfürchtig dabei zu, wie er mit außerordentlichem Geschick im Verlauf von 35 Minuten 19 köstliche Sushi-Häppchen arrangierte – eines nach dem anderen. (Es ging so schnell, weil er die Sushis grundsätzlich auf Reis serviert, der Körpertemperatur hat. Wenn es zu lange dauert, sinkt die Reistemperatur auf unter 37 Grad Celsius, und das ist für Jiro völlig inakzeptabel.)
Ich war von dem Dokumentarfilm so begeistert, dass ich 250 Führungskräften bei einer späteren Disney-Klausurtagung Ausschnitte daraus vorführte. Ich wollte, dass sie anhand von Jiros Beispiel besser verstünden, was ich meinte, wenn ich von einem »unermüdlichen Perfektionsdrang« sprach. So sieht es aus, wenn man großen Stolz auf die eigene Arbeit empfindet und sowohl ein Gespür für Perfektion besitzt als auch die Arbeitsethik, sie bis ins kleinste Detail zu verfolgen.
EINE MEINER LIEBLINGSBEGEGNUNGEN mit Roone fand gleich zu Beginn meiner Zeit bei ABC Sports statt. Zwar arbeiteten wir auf demselben Flur und Sports war eine relativ kleine Abteilung, aber Roone wirkte damals nicht sehr umgänglich auf mich. Abgesehen von einem knappen »Hallo« schenkte er mir kaum Beachtung. Eines Tages stand ich neben ihm vor dem Urinal. Zu meiner Überraschung sprach Roone mich an: »Und, wie läuft’s?«
Nach einem kurzen Augenblick des verblüfften Schweigens sagte ich: »Tja, an manchen Tagen finde ich es schwierig, den Kopf über Wasser zu halten.«
Roone blickte star geradeaus. Wie aus der Pistole geschossen erwiderte er: »Dann brauchen Sie einen längeren Schnorchel.« Dann war er fertig und ging.
Er konnte Ausreden nicht ausstehen. Erst später, als ich enger mit ihm zusammenarbeitete, fand ich heraus, was die Leute meinten, wenn sie sagten, er würde nie ein Nein als Antwort akzeptieren. Wenn er einen aufforderte, etwas Bestimmtes zu tun, dann erwartete er, dass man alles Menschenmögliche unternahm, um es zu erledigen. Wenn man ihm sagte, man habe es versucht, aber es sei unmöglich, sagte er nur: »Dann finden Sie einen anderen Weg.«
Im Jahr 1979 fand die Tischtennis-Weltmeisterschaft in Pjöngjang, Nordkorea, statt. Eines Tages rief mich Roone in sein Büro und sagte: »Das wird interessant. Wir berichten darüber in Wide World Sports .« Ich dachte, er würde einen Scherz machen. Bestimmt wusste er, dass es unmöglich war, Übertragungsrechte für eine Veranstaltung in Nordkorea zu bekommen.
Er scherzte nicht.
Also begab ich mich auf eine weltumspannende Mission zur Sicherung der Übertragungsrechte. Mein erster Stopp führte mich nach Cardiff, Wales, wo ich mich mit dem Präsidenten des Tischtennis-Dachverbands International Table Tennis Federation traf. Da ich keine Erlaubnis hatte, nach Nordkorea zu reisen, flog ich nach Peking und traf mich dort mit der nordkoreanischen Delegation. Nach einigen Monaten intensiver Verhandlungen standen wir kurz vor dem Vertragsabschluss, als ich einen Anruf von jemandem aus der Asien-Abteilung des US-Außenministeriums erhielt. »Alles, was Sie mit ihnen vereinbaren, ist illegal«, sagte die Stimme. »Sie verletzen strenge US-Sanktionen. Sämtliche Geschäfte mit Nordkorea sind verboten.«
Das schien das Ende zu sein, aber ich musste dabei auch an Roone denken, der mir sagen würde, ich solle einen anderen Weg finden. Wie sich herausstellte, hatte das US-Außenministerium nichts dagegen, dass wir uns nach Nordkorea begaben; ihnen gefiel die Idee sogar, dass wir Kameras dabeihätten und dort alles filmen würden, was wir konnten. Sie würden uns nur nicht gestatten, Nordkorea Geld für die Übertragungsrechte zu bezahlen oder sonstige Verträge mit ihnen abzuschließen. Als ich das der nordkoreanischen Delegation mitteilte, gingen sie an die Decke, und es sah so aus, als würde die ganze Sache platzen. Schließlich fand ich aber einen Weg, die Sanktionen zu umgehen, indem wir die Rechte nicht direkt vom Austragungsland, sondern über die International Table Tennis Federation einkauften. Zwar bezahlten wir die nordkoreanische Regierung auf diese Weise nicht, aber sie ließen uns trotzdem ins Land, und so wurden wir das erste US-Medienteam seit Jahrzehnten, das nach Nordkorea reiste – ein historischer Moment in der TV-Übertragung von Sportereignissen. Roone erfuhr nie, welche Verrenkungen ich anstellen musste, um das zu ermöglichen, aber ich wusste, dass ich mich nie so angestrengt hätte, wenn ich nicht zum Teil von seinen Erwartungen und meinem Wunsch, ihm zu gefallen, angetrieben gewesen wäre.
Einerseits Leistung einzufordern, aber andererseits darauf zu achten, dass die Mitarbeiter nicht von der Angst vor Misserfolg gelähmt werden, ist ein Drahtseilakt. Die meisten von uns, die für Roone arbeiteten, wollten seinen Standards genügen, aber wir wussten auch, dass er keine Geduld für Ausreden und Erklärungen hatte und dass er jeden in seiner einzigartigen schneidenden, beinahe grausamen Art aufs Korn nehmen konnte, wenn er das Gefühl hatte, dass wir nicht die Leistung erbrachten, die er erwartete. Jeden Montagmorgen versammelten sich die Topmanager von ABC Sports um einen Konferenztisch, um die Berichterstattung der vorhergehenden Woche zu prüfen und die kommenden Ereignisse zu planen. Wir übrigen saßen wie echte Hinterbänkler in kreisförmigen Stuhlreihen dahinter und warteten erst auf die Kritik der Arbeit, die wir geleistet hatten, und dann auf die Order für die kommende Woche.
Eines Morgens – das war in der Anfangsphase meiner Zeit bei Wide World of Sports , ungefähr zu der Zeit, als Roone vor dem Urinal die Bemerkung über einen längeren Schnorchel machte – kam Roone herein und begann, das gesamte Team auseinanderzunehmen, weil wir einen Weltrekord verpasst hatten, den der herausragende britische Mittelstreckenläufer Sebastian Coe beim 1-Meilen-Lauf bei einem Leichtathletikturnier in Oslo aufgestellt hatte. Normalerweise hatten wir solche Ereignisse immer auf dem Schirm, aber in diesem Fall gab es unerwartete Komplikationen, und es war mir nicht gelungen, die Rechte rechtzeitig vor der Übertragung einzuholen. Ich ahnte, dass das am darauffolgenden Montag zur Sprache kommen würde, aber irgendwie klammerte ich mich an die unrealistische Hoffnung, es würde unbemerkt durchrutschen.
Keine Chance. Roone blickte in die Runde seines Führungsteams und wollte wissen, wer das zu verantworten hatte. In der hintersten Ecke sitzend, hob ich die Hand und sagte, es sei mein Fehler gewesen. Augenblicklich wurde es im Raum mucksmäuschenstill. Zwei Dutzend Köpfe flogen herum und starrten mich an. Niemand sagte etwas – und dann machten wir weiter. Nach der Besprechung kamen mehrere Leute auf mich zu und murmelten: »Ich kann nicht glauben, dass du das getan hast.«
»Dass ich was getan habe?«
»Dass du zugegeben hast, dass es dein Fehler war.«
»Was meinst du damit?«
»Das macht nie jemand.«
Roone sprach mich nie darauf an, aber von da an behandelte er mich anders, mit einer höheren Wertschätzung, wie mir schien. Damals dachte ich, aus dieser Geschichte lasse sich nur eine Lehre ziehen, nämlich die offensichtliche, dass es wichtig ist, Verantwortung für seine Fehler zu übernehmen. Das stimmt, und es ist wichtig. Ob in Ihrem Berufs- oder Ihrem Privatleben, man wird Sie mehr respektieren und Ihnen mehr vertrauen, wenn Sie Verantwortung für Ihre Fehler übernehmen. Es ist unmöglich, nie Fehler zu machen. Aber man kann sie eingestehen, aus ihnen lernen und ein Beispiel dafür setzen, dass es in Ordnung ist, gelegentlich einen Fehler zu machen. Nicht in Ordnung ist, wenn man andere untergräbt, indem man lügt und versucht, Dinge zu vertuschen, oder nur darauf bedacht ist, seine eigene Haut zu retten.
Es ist unmöglich, nie Fehler zu machen.
Es gibt aber noch eine weitere Lehre, die sich daraus ziehen lässt, und ich habe sie erst Jahre später wirklich erkannt, als ich selbst in einer echten Führungsposition war. Sie ist so simpel, dass man meinen könnte, es lohne sich nicht, sie zu erwähnen, aber sie ist auch sehr wichtig: Verhalten Sie sich anständig gegenüber anderen. Behandeln Sie jeden Menschen mit Fairness und Empathie. Das heißt nicht, dass Sie Ihre Erwartungen senken oder die Botschaft vermitteln sollen, Fehler seien egal. Vielmehr heißt es, dass Sie für eine Umgebung sorgen, in der die Menschen wissen, dass Sie sie anhören werden, dass Sie emotional beständig und auf Fairness bedacht sind, und dass Ihre Mitarbeiter bei ehrlichen Fehlern eine zweite Chance erhalten. (Etwas anderes ist es, wenn Mitarbeiter ihre Fehler leugnen oder die Schuld auf andere schieben, oder wenn der Fehler das Ergebnis unethischen Verhaltens ist. Das darf man nicht tolerieren.)
Verhalten Sie sich anständig gegenüber anderen. Behandeln Sie jeden Menschen mit Fairness und Empathie.
Es gab Leute bei ABC Sports, die sich ständig davor fürchteten, Roones Zorn auf sich zu ziehen. Als Folge vermieden sie es, Risiken einzugehen oder sich zu weit aus dem Fenster zu lehnen. Ich habe mich zwar nie so gefühlt, aber ich konnte es bei anderen sehen und verstand die Gründe dafür. Roone war ein launischer Chef, und mit der Zeit beeinträchtigte sein launisches Verhalten die Moral seiner Mitarbeiter. An einem Tag konnte er einem das Gefühl geben, man sei die wichtigste Person in der Abteilung, und am nächsten Tag war man Zielscheibe schneidender Kritik, oder er stieß einem ein Messer in den Rücken, ohne dass man wusste, weshalb. Er hatte so eine Art, die Menschen gegeneinander auszuspielen, und ich konnte nie genau sagen, ob das eine bewusste Strategie war oder eine Funktion seiner Persönlichkeit. Bei all seinem ungeheuren Talent und Erfolg war Roone tief in seinem Inneren unsicher, und diese Unsicherheit bekämpfte er, indem er andere so behandelte, dass sie sich unsicher fühlten. Oft funktionierte das, sodass man sich noch mehr anstrengte, um ihm zu gefallen, aber es gab auch Zeiten, in denen er mich so verrückt machte, dass ich dachte, ich würde kündigen. Ich war nicht der Einzige, der das so empfand.
Ich kündigte aber nicht. Irgendwie konnte ich meinen Frieden mit der Art machen, wie Roone seine Macht ausspielte, ließ mich im Guten motivieren und nahm seine schlechten Seiten nicht allzu persönlich. Ich denke, ich hatte eine natürliche Widerstandsfähigkeit, und meine Arbeit für Roone stärkte diese noch. Ich war stolz darauf, hart zu arbeiten, vor allem an einem Ort, an dem so viele Menschen um mich herum eine bessere Ausbildung besaßen und aus privilegierteren Familien stammten. Für mich war es wichtig zu wissen, dass ich, wenn es darauf ankam, mehr leisten konnte als alle anderen. Also konzentrierte ich mich eher auf diese Aspekte als auf die Wechselbäder, in die uns Roones Launen tauchten.
Exzellenz und Fairness müssen sich nicht gegenseitig ausschließen.
Erst später im Rückblick erkannte ich, dass sehr viel von dem, was wir erreicht hatten, nicht zu diesem Preis hätte sein müssen. Ich war von Roones Perfektionsdrang motiviert und habe mir diesen zu eigen gemacht. Aber ich habe in dieser Zeit auch noch etwas anderes gelernt: Exzellenz und Fairness müssen sich nicht gegenseitig ausschließen. Ich hätte das damals so nicht gesagt; zumeist war ich voll darauf konzentriert, gute Arbeit zu leisten, und dachte ganz gewiss nicht darüber nach, was ich anders machen würde, wenn ich an Roones Stelle wäre. Aber Jahre später, als ich selbst die Gelegenheit hatte zu führen, war ich mir instinktiv der Notwendigkeit bewusst, nach Perfektion zu streben, hatte aber auch ein Gespür für die Fallstricke, in denen man sich verfangen kann, wenn man sich immer nur auf das Produkt konzentriert und die Menschen dabei vernachlässigt.