KAPITEL 5
DIE NUMMER ZWEI
I
N DEN FOLGENDEN DREI JAHREN
führte Michael den Konzern ohne eine Nummer zwei. Nach Ovitz’ Ausscheiden wurde unsere Beziehung enger, von Zeit zu Zeit verspürte ich allerdings eine gewisse Reserviertheit auf Michaels Seite – ein Misstrauen, dass ich auf seine Position spekulierte und an seinem Stuhl sägen wollte. Er konnte mir nicht voll und ganz trauen. Das führte zu einem ständigen Wechselbad zwischen Annäherung und Distanz. Gelegentlich beteiligte mich Michael an seinen Entscheidungen und dann wieder hielt er mich auf Abstand.
Es stimmte, dass ich nach der Fusion zum Teil deswegen geblieben war, weil ich dachte, dass ich eines Tages vielleicht eine Chance haben könnte, Michael als CEO zu beerben. Dennoch hieß das nicht, dass ich aktiv versuchte, ihn zu verdrängen. Ich konzentrierte mich voll und ganz auf meinen Job und versuchte, über alle Aspekte des Unternehmens so viel wie möglich zu lernen. Wie es in meiner Karriere schon immer gewesen war, wollte ich einfach vorbereitet sein, wenn der Zeitpunkt kam, an dem Michael für einen Rückzug bereit war.
Ich wurde in all den Jahren oft gefragt, wie man am besten mit Ehrgeiz umgeht – sowohl dem eigenen als auch dem der Leute, für die man verantwortlich ist. Als Führungskraft will man, dass die eigenen Mitarbeiter aufsteigen und mehr Verantwortung übernehmen wollen, solange der Traum von dem ersehnten Job sie
nicht von ihren aktuellen Aufgaben ablenkt. Man darf nicht zulassen, dass der Ehrgeiz die Chancen überholt. Ich habe viele Menschen erlebt, die ihren Blick auf eine bestimmte Position oder ein Projekt in der Zukunft gerichtet hatten, obwohl die Chance, dass ihr Traum in Erfüllung gehen würde, sehr gering war. Ihre Fixierung auf ein weit entferntes Ziel wurde schließlich zum Problem, weil sie ungeduldig mit ihrer gegenwärtigen Situation wurden. Das führte dazu, dass sie ihre aktuelle Verantwortung vernachlässigten, weil sie sich so sehr nach etwas anderem sehnten. Ihr Ehrgeiz wirkte schließlich kontraproduktiv. Es ist wichtig zu wissen, wie man das richtige Gleichgewicht findet: Man muss seine vorliegenden Aufgaben so gut wie möglich erledigen; gleichzeitig muss man Geduld haben; man muss nach Chancen Ausschau halten, um zu wachsen und sich weiterzuentwickeln; und man muss mit der richtigen Haltung und entsprechender Energie und Fokussierung eine der Personen sein, die in Betracht gezogen wird, wenn sich eine Chance auftut. Umgekehrt, wenn man selbst der Vorgesetzte ist, sind genau das die Mitarbeiter, die man fördern muss – nicht diejenigen, die nach Beförderung schreien und sich beklagen, dass ihr Potenzial nicht erkannt wird, sondern diejenigen, die sich tagein, tagaus unersetzlich machen.
Ich wurde in all den Jahren oft gefragt, wie man am besten mit Ehrgeiz umgeht – sowohl dem eigenen als auch dem der Leute, für die man verantwortlich ist.
Wie auf so vielen anderen Gebieten waren Tom und Dan auch in dieser Hinsicht vorbildlich. Sie förderten mein Wachstum, vermittelten mir, wie sehr sie an meinem Erfolg interessiert waren, und sorgten dafür, dass ich lernen konnte, was ich lernen musste, um in der Unternehmenshierarchie weiter aufzusteigen und irgendwann den ganzen Konzern leiten zu können. Auf jeder Stufe der Karriereleiter gab ich mein Bestes, um so viel aufzunehmen, wie ich konnte, in dem Wissen, dass sie Größeres mit mir vorhatten, wenn ich die erwartete Leistung erbrachte. Ich empfand ihnen gegenüber daher eine tiefe Loyalität.
Die Dynamiken, die zwischen einem CEO und seiner Nummer zwei und damit seinem potenziellen Nachfolger bestehen, sind allerdings oft ausgeprägt. Jeder möchte gerne glauben, er sei unersetzlich. Der Trick ist, eine so gute Selbstwahrnehmung zu haben, dass man sich nicht an die Vorstellung klammert, man sei der Einzige, der diesen Job machen kann. Im Wesentlichen hat gute Führung nichts damit zu tun, unverzichtbar zu sein. Es geht darum, anderen dabei zu helfen, möglicherweise in Ihre Fußstapfen zu treten, indem Sie sie in Ihre Entscheidungsprozesse einbinden, Entwicklungsziele definieren und ihnen dabei helfen, sich zu verbessern. Gleichzeitig geht es darum, ehrlich zu sein – so, wie ich es gelegentlich sein musste –, wenn Sie das Gefühl haben, jemand sei nicht bereit für den nächsten Karriereschritt.
Der Trick ist, eine so gute Selbstwahrnehmung zu haben, dass man sich nicht an die Vorstellung klammert, man sei der Einzige, der diesen Job machen kann.
Michaels Beziehung zu mir war kompliziert. Manchmal hatte ich das Gefühl, er stellte meine Kompetenzen infrage, zu anderen Gelegenheiten war er großzügig und ermutigend und nahm meine Unterstützung in Anspruch, um sich selbst zu entlasten. Ein Höhepunkt unserer Beziehung ergab sich Ende 1998, als Michael in mein New Yorker Büro hereinkam und mir sagte, er wolle, dass ich eine neue internationale Organisation aufbaue und leite. Ich war zu diesem Zeitpunkt Chairman der ABC Group, was bedeutete, dass ich das Fernsehnetzwerk ABC, ESPN und Disney TV leitete. Eine neue Organisation aufzubauen, würde eine gewaltige zusätzliche Belastung darstellen, aber ich wollte es unbedingt machen und war Michael dankbar, dass er sich an mich gewandt hatte.
Disney war damals überraschend provinziell. Wir hatten Niederlassungen in der ganzen Welt, von Lateinamerika über Indien bis zu Japan, aber wir hatten keine kohärente globale Strategie oder wenigstens globale Strukturen. In Japan zum Beispiel hatten wir in dem einen Stadtviertel von Tokio ein Studio, in einem anderen eine Fernsehstation und in einem dritten ein Merchandising-Geschäft.
Und zwischen all diesen Einheiten gab es weder eine Kommunikation noch koordinierte Back-Office-Funktionen wie Buchhaltung oder IT. Diese Art Redundanz herrschte überall. Vor allem aber hatten wir in keinem der anderen Länder jemanden mit Markenverantwortung, der unsere Marke vor Ort steuerte und nach vielversprechenden Chancen Aussicht hielt. Insgesamt verfolgte Disney einen sehr passiven, im kalifornischen Burbank zentrierten Ansatz.
Michael erkannte das Problem und wusste, dass sich das ändern musste. Er wusste, dass wir international wachsen mussten. Schon Jahre zuvor hatte er die Idee, einen Themenpark in China aufzubauen. Frank Wells, Michaels Nummer zwei in den ersten zehn Jahren seiner Amtszeit als CEO von Disney, hatte Anfang der 1990er-Jahre bereits bei chinesischen Regierungsbehörden die Fühler ausgestreckt. Doch er war mit seinen Bemühungen nicht weit gekommen. Aus diesen ersten Gesprächen wusste China jedoch, dass wir an einem Themenpark in der Volksrepublik interessiert waren, und in jüngster Vergangenheit hatten sie signalisiert, dass sie für dieses Projekt bereit waren.
Ich war eine der wenigen ranghohen Führungskräfte mit internationaler Erfahrung – die ich in meiner Zeit bei ABC Sports und Wide World of Sports
gesammelt hatte. Zudem war ich der Einzige, der etwas über China wusste, weil es mir in den Tagen vor der Fusion gelungen war, einige von ABCs Kinderprogrammen nach China zu verkaufen. Michael machte mich also zum Präsidenten von Walt Disney International und beauftragte mich, nicht nur eine internationale Strategie zu entwickeln, sondern auch einen Ort in China zu finden, an dem wir einen Themenpark bauen konnten.
Eine erste Diskussion über mögliche Standorte brachte Shanghai ins Spiel und aufgrund verschiedener Faktoren – Wetter, Bevölkerung, verfügbare Fläche – kamen wir schon bald zu dem Schluss, dass Shanghai die einzige Option war. Im Oktober 1998, als Willow mit unserem ersten gemeinsamen Kind im neunten Monat schwanger war, reiste ich zum ersten Mal im Auftrag von Disney nach Shanghai, wo ich herumgeführt wurde und mir drei mögliche Standorte ansah. »Sie können eines von diesen Arealen haben«, sagten die chinesischen Regierungsvertreter. »Aber Sie müssen sich
schnell entscheiden.«
Wir entschieden uns für ein Grundstück in Pudong, am Stadtrand von Shanghai. Allerdings fiel es uns bei unserem ersten Besuch etwas schwer, uns dort ein Disney-Schloss inmitten eines voll ausgestatteten Disneylands vorzustellen: Pudong war damals lediglich ein kleines Bauerndorf am Rand einer rasant wachsenden Großstadt. Es war von Kanälen durchzogen, und durch die Straßen stromerten kleine Kinder und Straßenhunde. Zwischen den baufälligen Hütten und den wenigen kleinen Lebensmittelgeschäften waren kleine Gemüsefelder verstreut. Es gab weitaus mehr Fahrräder als Autos, aber nichts, das wir auch nur im Entferntesten als »Modernität« bezeichnen würden. Das Areal lag jedoch perfekt zwischen Shanghais neuem internationalen Flughafen, der in Kürze eröffnet werden sollte, und der zukünftigen »Innenstadt« einer der größten und dynamischsten Städte der Welt. Das war der Auftakt zu einer 18 Jahre dauernden Reise, die mich mehr als 40 Mal nach Pudong führen sollte.
WÄHRENDDESSEN TRAT ABC
in die erste Phase einer langen Abwärtsentwicklung ein. Den erfolgreichen Serien, die wir entwickelt hatten, als ich noch für das Primetime-Programm verantwortlich war, war inzwischen die Luft ausgegangen, und unser Entwicklungsprozess war selbstgefällig und fantasielos geworden. NYPD Blue
befand sich immer noch unter den Top 20, und wir hatten auch noch einige andere erfolgreiche Serien – Home Improvement
und The Drew Carey Show
bewährten sich gut –, aber der Rest unserer Serien mit Ausnahme des ewigen Renners Monday Night Football
war ziemlich langweilig.
Im Jahr 1999 erholten wir uns kurz, als wir Wer wird Millionär?
starteten. Zunächst hatten wir die Sendung abgelehnt, hatten unsere Meinung aber geändert, als der Erschaffer der Gewinnshow mit Regis Philbin im Schlepptau zurückkehrte, einem der bekanntesten Moderatoren des amerikanischen Fernsehens. Zu diesem Zeitpunkt war die Sendung ein Geschenk des Himmels; später war sie unsere Stütze. Die Einschaltquoten der ersten Folge waren erstaunlich, und zwar nicht nur für eine Gewinnshow, sondern für jede Sendung. In
der ersten Saison lockte sie dreimal die Woche 30 Millionen Zuschauer an, eine Zahl, die für einen Fernsehsender damals unvorstellbar hoch war. In der Saison 1999/2000 hatte sie die höchsten Einschaltquoten überhaupt und war unser Rettungsanker. Allerdings konnte sie unsere tieferliegenden Probleme nicht vollständig verdecken.
In jenem Jahr gab es aber auch noch einen anderen Anlass zu Optimismus. Mitte 1998 hatte ich begonnen, intensiv über unsere Berichterstattung zum Millenniumswechsel nachzudenken. Ich war mir sicher, dass die Menschen auf der ganzen Welt von diesem Moment fasziniert sein würden und dass das gesamte Unternehmen, angeführt von ABC News, seine Aufmerksamkeit und seine Ressourcen darauf richten sollte. Achtzehn Monate vor der Jahrtausendwende berief ich eine Besprechung mit den Topführungskräften der Sparten News, Entertainment und Sports ein und sagte ihnen, was wir vorhatten: Wir würden eine nahtlose 24-Stunden-Berichterstattung bieten und dabei mit den Zeitzonen gehen und den Eintritt jeder Region der Welt in das neue Jahrtausend live verfolgen. Ich erinnere mich, dass ich voller Enthusiasmus sagte, wir müssten uns »das Event zu eigen machen«. Dann sah ich Roone an und merkte, dass er still und ausdruckslos am Tisch saß. Ganz eindeutig war ihm diese Idee zuwider. Nachdem die Besprechung zu Ende war, nahm ich ihn beiseite. »Halten Sie mich für verrückt?«, fragte ich.
»Wie wollen sie einen Jahreswechsel über 24 Stunden visuell spannend darstellen?«, fragte er zurück.
Ich hätte darauf zahlreiche Antworten geben können (es war übrigens eine interessante Herausforderung), aber irgendetwas an Roones Ton und Körpersprache sagte mir, dass sein Problem nicht die visuelle Herausforderung war. Sein Problem war, dass er aufgefordert wurde, eine großartige Idee umzusetzen, die nicht auf seinem Mist gewachsen war, sondern von dem Mann stammte, der immer gefragt hatte »Wie hoch?«, wenn Roone gesagt hatte »Spring.«
Seit meiner Ernennung zum Präsidenten von ABC im Jahr 1993 war ich Roones Vorgesetzter. Wir hatten in all den Jahren gut
zusammengearbeitet. Er war stolz, dass ich es bis an die Spitze des Unternehmens geschafft hatte, aber er betrachtete mich noch immer als seinen Schützling, der unter ihm seine ersten Erfahrungen gesammelt hatte und sein Verbündeter im Front-Office war. Und er betrachtete sich selbst als denjenigen, der mich vor Einmischung von oben geschützt und mir erlaubt hatte, mein Ding zu machen. Ich war ihm weniger blind ergeben, als er glaubte, aber es konnte nicht schaden, dass er so dachte, und ich hatte keinen Grund, ihm die Augen zu öffnen. Roone war am besten, wenn sein Ego möglichst nicht bedroht wurde.
Allerdings war ich darauf angewiesen, dass er die Dinge umsetzte, um die ich ihn bat. Es ist eine heikle Angelegenheit, Menschen auf seine Seite zu bringen und ihr begeistertes Engagement zu wecken. Manchmal lohnt es sich, über ihre Vorbehalte zu sprechen und geduldig ihre besorgten Fragen zu beantworten. Bei anderen Gelegenheiten muss man einfach klar kommunizieren, dass man selbst der Boss ist und dass man erwarte, dass die Anordnungen ausgeführt werden. Es ist nicht so, dass ein Ansatz »netter« wäre als der andere. Es ist vielmehr so, dass der eine Ansatz eher subtil und der andere unverblümt und nicht verhandelbar ist. Letztlich geht es darum, was man in dem betreffenden Augenblick für das Richtige hält. Sie allein entscheiden, wann ein demokratischerer Ansatz hilfreich ist, um das beste Ergebnis zu erzielen und die Moral zu stärken, und wann Sie die nötige Sicherheit besitzen, um autokratisch zu handeln, selbst wenn Sie damit Unmut auslösen.
Es ist eine heikle Angelegenheit, Menschen auf seine Seite zu bringen und ihr begeistertes Engagement zu wecken.
In diesem Fall war ich absolut davon überzeugt, dass ich mit meiner Idee richtiglag, und ich wollte nicht zulassen, dass irgendjemand, auch nicht der vielgerühmte Roone Arledge, versuchte, mich davon abzubringen. Natürlich hätte er mein Vorhaben durch einen Mangel an Anstrengung und Enthusiasmus und eine entsprechende Kommunikation an seine Leute sabotieren können. Wie viele Menschen, mit denen ich im Verlauf der Jahre
zusammengearbeitet oder mit denen ich verhandelt habe, konnte Roone es nicht ausstehen, wenn ihm jemand vorschrieb, was er zu tun hatte. Daher griff ich zu einer Art »sanfter Autorität« und zeigte Respekt, kommunizierte aber auch, dass das, was ich wollte, auf jeden Fall geschehen würde.
»Roone«, sagte ich, »wenn es je eine Idee gegeben hat, von der die Leute annehmen würden, dass sie von Ihnen stammt, ist es diese. Sie ist groß und kühn. Vielleicht ist sie unmöglich umzusetzen, aber wann hat Sie das je aufgehalten?«
Ich war mir nicht hundertprozentig sicher, ob er die Idee nicht mochte oder ob er an diesem Punkt das Gefühl hatte, er habe keine Energie mehr für ein so großes Vorhaben. Aber ich wusste, dass er keine Herausforderung scheuen würde, daher appellierte ich an seinen Stolz, um ihn an Bord zu holen. Er sagte nichts, aber er lächelte und nickte, so als würde er sagen: Okay, ich habe verstanden
.
Am Ende schufen wir etwas ganz Großes. Es nahm Monate an Vorbereitungen durch Roones Team in Anspruch, und wie immer schneite er in der letzten Minute hinein und hob die gesamte Produktion auf eine andere Ebene. Peter Jennings moderierte unsere Berichterstattung zur Jahrtausendwende vom Times Square aus. Wir waren Punkt Mitternacht Ortszeit in Vanuatu auf Sendung, der ersten Zeitzone, die das neue Jahrtausend begrüßte. In den folgenden 24 Stunden sendeten wir live aus China, Paris, Rio de Janeiro, aus Walt Disney World und vom Times Square und ganz am Ende aus Los Angeles. Peter, der im Smoking in einem Studio saß und von oben auf die vielen Tausend Feiernden herabblickte, war brillant; er führte die Zuschauer durch dieses Erlebnis, das von allen Menschen auf der ganzen Welt geteilt wurde und sich zu unseren Lebzeiten nicht wiederholen würde. Kein Fernsehnetzwerk investierte so umfangreiche Ressourcen wie wir und niemand hatte auch nur annähernd so viele Zuschauer.
Am Ende schufen wir etwas ganz Großes.
Ich besuchte das Studio mehrmals im Verlauf des Tages. Schon
früh während der Ausstrahlung wurde klar, dass unser Programm ein Riesenerfolg werden würde. Man konnte die Aufregung und Spannung im Studio spüren, als der Tag voranschritt. Der befriedigendste Augenblick war für mich der Moment, in dem ich sah, wie Roone über die gesamte Produktion wachte, den Teams an den jeweiligen Sendestandorten Anweisungen erteilte, in Peters Kopfhörer sprach, um eine Storyline in die Berichterstattung einzufügen, verschiedene Kameraperspektiven verlangte und die Übergänge zwischen den Sendestandorten antizipierte. Es war, als würde ich den Meisterregisseur beobachten, den ich ein 25 Jahre zuvor erstmalig beim Frank-Sinatra-Konzert in Madison Square Garden gesehen hatte.
Gegen 20 Uhr traf ich Roone im Regieraum. Ein breites Lächeln stand ihm im Gesicht. Er ergriff meine Hand und schüttelte sie lange und herzlich. Er war stolz auf sich selbst und stolz auf mich und dankbar, dass ich ihm die Chance geboten hatte, dieses Projekt durchzuziehen. Er war zu diesem Zeitpunkt fast 70 Jahre alt, und es war das letzte große Event, das er in seinem Leben voller großer Events produzieren sollte.
Zwei Jahre später starb Roone nach einem langen Kampf gegen den Krebs. In der Woche, bevor er starb, war ich für das Thanksgiving-Wochenende nach New York gekommen, und an jenem Samstagabend war ich zu Hause und sah mir das Spiel USC-Notre Dame auf ABC an. Um 22 Uhr klingelte mein Telefon. Ich nahm ab und ein Mitarbeiter der Telefonzentrale von ABC sagte: »Mr. Iger, Roone Arledge will Sie sprechen.« Wenn man die Telefonnummer hatte und es sich um einen Notfall handelte, konnte man bei der Telefonzentrale anrufen und ein Mitarbeiter suchte die Person heraus, mit der man sprechen wollte. Roone hatte die Nummer noch und offenbar irgendein dringendes Anliegen.
Der Mitarbeiter der Telefonzentrale verband uns. »Roone?«
»Bob, sitzen Sie vor dem Fernseher?«
»Sie meinen das Football-Spiel?«
»Ja, das Football-Spiel! Haben Sie gemerkt, dass da überhaupt kein Ton ist?«
Ich war mir sicher, dass er Halluzinationen hatte, aber ein altes, sentimentales Pflichtgefühl rief mich.
Was die Sprecher sagten, ergebe keinen Sinn, meinte Roone, alles sei ein einziger Wortsalat. Ich wusste, dass sich Roones Zustand verschlechtert hatte und dass er im Krankenhaus lag. Ich war mir sicher, dass er Halluzinationen hatte, aber ein altes, sentimentales Pflichtgefühl rief mich. Roone sagte, etwas stimme nicht, und ich musste versuchen, es zu korrigieren.
»Roone, ich werde es überprüfen«, sagte ich. »Ich rufe Sie zurück.«
Ich rief im Regieraum an und fragte, ob es irgendwelche Beschwerden über den Ton gab. »Nein, Bob, nichts«, war die Antwort des Master Control Centers von ABC in New York.
»Können Sie in der Telefonzentrale anrufen und sich erkundigen, ob sie Beschwerden bekommen haben?«
Nach einigen Augenblicken bekam ich die Antwort: »Nein, nichts.«
Ich rief Roone an. »Ich habe gerade mit dem Regieraum gesprochen. Sie haben sich vergewissert, dass alles in Ordnung ist.« Bevor wir weiter darüber sprechen konnten, was er zu hören glaubte, fragte ich: »Roone, wie geht es Ihnen?«
Seine Stimme war ein Flüstern. »Ich liege im Sloan Kettering Hospital«, sagte er. »Was glauben Sie, wie es mir geht?«
Ich fragte, ob er Besuch empfangen würde, und am folgenden Tag ging ich ins Krankenhaus. Als ich seinen Raum betrat, lag er im Bett. In dem Moment, in dem ich ihn erblickte, wusste ich, dass er nicht mehr lange leben würde. Im Fernsehen lief ein Eiskunstlaufwettbewerb, den er aufmerksam verfolgte. Ich ging an sein Bett. Er blickte zu mir auf und dann auf den Eiskunstläufer auf dem Bildschirm. »Es ist nicht mehr so, wie es war«, sagte er. »Stimmt’s?«
Das Geschäft hatte sich verändert – der Boden unter seinen Füßen war ein anderer.
Ich weiß nicht, ob er an die alte Zeit zurückdachte, in der er tun und lassen konnte, was er wollte, als es keine Topmanager gab, die ihn wegen der Summen, die er ausgab, an den Ohren zogen. Oder ob er an die Zeit dachte, in der er eine Legende war und niemand es wagte, seine Autorität anzuzweifeln. Vielleicht war seine Bemerkung aber auch existenziellerer Natur. Das Geschäft hatte sich verändert – der Boden unter seinen Füßen war ein anderer. Die Welt hatte sich verändert. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit. Ich blickte auf ihn hinunter, wie er in seinem Bett lag, und wusste, dass ich ihn zum letzten Mal sah. »Nein, Roone«, sagte ich. »Es ist nicht mehr dasselbe.«
NACH DER GELUNGENEN BERICHTERSTATTUNG
zur Jahrtausendwende verließ ABC das Glück. Wer wird Millionär?
war in der Saison 2000/2001 immer noch populär, aber hatte längst nicht mehr die sensationellen Einschaltquoten wie in der Saison zuvor. Wir konnten die schwindenden Renditen sehen, aber wir hatten keine gute neue Serie in der Entwicklung. Anstatt umfassende Veränderungen vorzunehmen, um der Unterhaltungssparte neues Leben einzuhauchen, stützten wir uns noch mehr auf diese eine Gewinnshow als Quotenbringer und Gewinnquelle. Wir sendeten die Show inzwischen an fünf Abenden die Woche. Wir mussten irgendwie gegen NBC konkurrieren, das mit seinem Donnerstagabendprogramm extrem erfolgreich war, und gegen CBS, das mit Sendungen wie Survivor
und CSI
wieder an Boden gewonnen hatte.
Innerhalb von wenigen Jahren waren wir von dem Fernsehnetzwerk mit den meisten Zuschauern an die letzte Stelle der »großen Drei« gerutscht. Und selbst diese Position konnten wir nur mit Mühe verteidigen, denn auch Fox wurde immer größer. Ich übernehme einen Teil der Verantwortung für diese Entwicklung. Ich leitete ABC und unterstützte die Entscheidung, Wer wird Millionär?
an mehreren Abenden die Woche auszustrahlen. Zunächst war das eine einfache Methode, um die Probleme von ABC zu flicken. Als die Serie aber an Popularität verlor, kamen unsere zugrunde liegenden Probleme wieder an die Oberfläche.
Gegen Ende 1999 forderte die Belastung, die Verantwortung für den gesamten Konzern ganz allein zu schultern, ihren Tribut von Michael. Er isolierte sich immer stärker und wurde immer misstrauischer. Er ließ an niemandem ein gutes Haar. Er wusste, dass er jemanden brauchte, um die Last auf zwei Schultern zu verteilen, und er spürte den Druck des Verwaltungsrats, der ihm signalisierte, nach 16 Jahren an der Spitze des Konzerns möge er allmählich über die Nachfolgeplanung nachdenken. Das fiel ihm nicht leicht. Nach dem Fiasko mit Ovitz hatte Michael Vorbehalte dagegen, eine Nummer zwei zu ernennen. Ihm war klar, dass er die Dinge nicht so weiterlaufen lassen konnte, aber er wollte sich nicht den Komplikationen stellen, die eine geteilte Verantwortung, gemeinsame Entscheidungsprozesse und die Einweihung einer anderen Person in seine Vorhaben unweigerlich mit sich bringen würden.
Michaels mangelnde Bereitschaft, eine Nummer zwei zu ernennen, hatte Konsequenzen für das gesamte Unternehmen. Es war eindeutig, dass er Entlastung brauchte, aber da er die Position der Nummer zwei vakant ließ, versuchten andere, die Lücke zu füllen. Sandy Litvack, unser damaliger Chefjustiziar, wurde zum Vice Chairman befördert und begann sich als De-facto-COO zu betrachten. Die Abteilung Strategische Planung, die inzwischen von Peter Murphy geleitet wurde (keine Querverbindungen zu seinem Vorgänger Larry Murphy), mischte sich immer stärker in die Entscheidungsprozesse aus dem Tagesgeschäft ein, anstatt sich auf die langfristige Strategie zu konzentrieren. Jeder versuchte, sein Claim abzustecken beziehungsweise auszudehnen, die Grenzen und Verantwortlichkeiten begannen zu verschwimmen, und das hatte negative Auswirkungen auf die allgemeine Stimmung.
Über Monate tauchte mich Michael in heiße und kalte Wechselbäder. Mal verließ er sich auf mich und ich dachte, es wäre nur noch eine Frage der Zeit, bis er mich zum COO ernennen würde. Dann wieder hielt er mich auf Abstand und ich fühlte mich wieder unsicher, was meine Zukunft anging. Im August 1999 machte ich zum ersten Mal zwei Wochen Urlaub und mietete mit Willow und unserem fast zweijährigen Sohn Max ein Haus auf Martha’s Vineyard. An unserem ersten Abend rief
mich Tom Murphy an. Er war in Los Angeles mit Michael und einigen anderen Mitgliedern des Verwaltungsrats bei einem Dinner gewesen, und in einer Diskussion über die Nachfolgeplanung habe Michael gesagt, ich würde niemals sein Nachfolger werden. Tom sagte, er sei »total entsetzt«, wie er es ausdrückte, vor allem, weil er mich Jahre zuvor während der Fusionsverhandlungen angefleht hatte zu bleiben. »Mann«, sagte er, »ich hasse es, Ihnen die schlechten Nachrichten zu überbringen, aber Sie müssen Disney verlassen. Michael glaubt nicht an Sie, und er hat dem Verwaltungsrat mitgeteilt, dass Sie nicht sein Nachfolger werden können. Sie müssen Ihre Kündigung einreichen.«
Ich war am Boden zerstört. In den vergangenen Jahren hatte ich die konstante Frustration und Ablenkung ertragen, an Michael Ovitz berichten zu müssen. Ich hatte unglaublich hart gearbeitet, um ABC in Disney zu integrieren, und darauf geachtet, dass unsere Leute Respekt und Wertschätzung erfuhren. Ich hatte dazu beigetragen, einen Verschmelzungsprozess zu initiieren, der von Disney nie zu Ende gedacht worden war. Ich hatte eine internationale Struktur für ein Unternehmen entworfen und eingeführt, für die ich das ganze Jahr auf Reisen war und ein ums andere Mal meine Familie zurücklassen musste. Bei allem hatte ich Michael stets verteidigt und war loyal, und nun musste ich mir fast 25 Jahre nachdem mir mein erster Vorgesetzter mitgeteilt hatte, ich sei »nicht beförderungsfähig«, erneut sagen lassen, dass ich am Ende der Fahnenstange angekommen war.
Ich teilte Tom mit, ich dächte gar nicht daran, zu kündigen. Am Ende des Jahres stünde mir ein Bonus zu, auf den ich gewiss nicht verzichten würde. Wenn Michael mich feuern wollte, sollte er es mir direkt ins Gesicht sagen. Dann legte ich auf und rang um Fassung. Ich beschloss, Willow während unseres Urlaubs nichts davon zu erzählen. Sie war eine prominente Moderatorin bei CNN und Co-Moderatorin von Moneyline
, einer einstündigen Sendung über Finanznachrichten. Ihre Karriere verlief prächtig, aber der Job war sehr anstrengend, und neben den beruflichen Anforderungen hatte sie irgendwie noch die Zeit und Energie gefunden, eine wunderbare Mutter für Max zu sein. Sie brauchte eine Verschnaufpause, daher
behielt ich meine Empfindungen für mich, bis wir wieder zurück in New York waren.
Dann wartete ich auf den Eklat. Im September befand ich mich in der Konzernzentrale in Burbank, als Michael mit mir sprechen wollte. Ich war mir sicher, dass dies das Ende war, begab mich in sein Büro und stählte mich innerlich für das, was kommen sollte. Ich setzte mich ihm gegenüber und wartete. »Glauben Sie, dass Sie bereit sind, dauerhaft nach L.A. zu ziehen und mir dabei zu helfen, diesen Konzern zu führen?«, fragte er.
Ich brauchte einen Moment, bis ich begriffen hatte, was er sagte. Ich war verwirrt, dann erleichtert und dann unsicher, ob ich dieser Ankündigung trauen konnte. »Michael«, sagte ich schließlich. »Haben Sie auch nur die leiseste Vorstellung davon, wie unbeständig Sie mir gegenüber gewesen sind?« Er bat mich, mit meiner gesamten Familie nach Kalifornien zu ziehen, und implizit bat er Willow, einen großartigen Job aufzugeben – und das keine vier Wochen nachdem er vor versammelter Runde verkündet hatte, dass ich niemals sein Nachfolger werden würde. »Sie müssen aufrichtig zu mir sein, worum es hier eigentlich geht«, sagte ich.
Seine Reaktion war aufrichtiger, als ich erwartet hatte. Er sagte, er sei sich nicht sicher gewesen, ob ich zurück nach L.A. ziehen wollte, das sei eine Befürchtung gewesen. Das größere Problem sei jedoch, dass er »gegen sich selbst konkurrieren« würde, wenn er mich zur Nummer zwei machen würde. Ich glaube, er meinte, dass der Verwaltungsrat dann jemanden haben würde, mit dem er ihn ersetzen könnte, falls sie das wollten, aber ich war mir nie wirklich sicher.
»Michael«, sagte ich. »Ich habe nicht die geringste Absicht, an Ihrem Stuhl zu sägen oder irgendetwas zu tun, um Sie zu untergraben.« Ich sagte ihm, dass ich für mein Leben gern die Chance hätte, eines Tages den Konzern zu leiten, aber dass ich das auf absehbare Zeit nicht sehen würde. »Ich konnte mir nie vorstellen, dass Sie aufhören würden«, sagte ich. »Und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass der Verwaltungsrat möchte, dass Sie aufhören.« Es stimmte, ich konnte es mir nicht vorstellen. Die Zeiten waren zwar nicht ganz einfach, aber es gab nie eine Vertrauenskrise,
was Michael betraf. Er war nach wie vor einer der am meisten respektierten CEOs der Welt.
Das Meeting endete ohne ein klares Ergebnis. Michael bot mir keine Position an und setzte auch keinen formalen Plan in Bewegung. Ich flog zurück nach New York und wartete darauf, mehr zu hören, aber es wurde erst einen Monat später wieder Thema. Wir besuchten die Bühnenpremiere von Der König der Löwen
in London, und Michael regte an, ich solle mit ihm zusammen nach L.A. zurückfliegen, um über meine Zukunft zu sprechen. Ich sollte aber eigentlich von London aus nach China fliegen, und so kamen wir überein, dass ich einige Wochen später nach L.A. kommen würde, um die Einzelheiten zu besprechen.
Anfang Dezember machte Michael schließlich den offiziellen Vorschlag, mich zum Präsidenten und COO und Mitglied des Verwaltungsrats zu ernennen. Das war ein unleugbares Vertrauensvotum und war gewissermaßen ein Schock, wenn man das Telefonat bedenkt, dass ich nur wenige Monate zuvor mit Tom geführt hatte.
Ich handelte – diesmal ohne anwaltliche Vertretung – sehr schnell meinen Vertrag mit Sandy Litvack aus, der neben seiner Rolle als Quasi-COO immer noch unser Chefjustiziar war. Sandy war nicht glücklich über meine Beförderung. Am Tag vor der öffentlichen Bekanntmachung rief er mich an, um die Vereinbarung zu ändern. Im Vertrag sollte Executive Vice President stehen und nicht Präsident und COO. Zudem wollte er den Sitz im Verwaltungsrat streichen. Ich sagte Sandy, meine Position sei Präsident, COO und Mitglied des Verwaltungsrats oder gar nichts. Eine Stunde später rief er mich zurück und bestätigte alle drei Titel, und so wurde es auch am nächsten Tag veröffentlicht.
Es gab keine Garantie, dass ich eines Tages CEO werden würde, aber zumindest hatte ich die Gelegenheit, mich zu beweisen. Auf der privaten Ebene war es ein weiterer schwieriger Schritt.
Beruflich betrachtet war es eine außerordentliche Chance. Es gab keine Garantie, dass ich eines Tages CEO werden würde, aber
zumindest hatte ich die Gelegenheit, mich zu beweisen. Auf der privaten Ebene war es ein weiterer schwieriger Schritt. Meine Eltern waren Ende 70 und benötigten mehr Unterstützung als zuvor. Meine Töchter waren 21 und 18 Jahre alt, und ich wollte nicht schon wieder so weit weg von ihnen auf der anderen Seite des Landes leben. CNN willigte ein, dass Willow ihre Sendung von L.A. aus moderierte, und zwar mit Fokus auf die Technologie- und Unterhaltungsindustrie, aber die Umsetzung war schwierig. Zwar war Willow unglaublich anpassungsbereit, wie sie es zu jedem Zeitpunkt gewesen ist, aber mir war sehr wohl bewusst, dass ich nun, zehn Jahre nach dem ersten Mal, eine zweite Ehefrau darum bat, ihre eigene Karriere für mich zu opfern, damit wir zugunsten meiner Karriere nach Los Angeles ziehen konnten.
Nicht in Millionen Jahren hätte ich mir vorstellen können, was die Zukunft bereithielt – für Disney, für Michael und für mich. Wie es im Leben so oft geschieht, hatte sich der Traum, den ich so lange herbeigesehnt hatte, endlich erfüllt, und nun sollten harte Zeiten anbrechen.