KAPITEL 14
DIE ZENTRALEN WERTE
A M 12. JUNI 2018 fällte das Bezirksgericht von Lower Manhattan sein Urteil zugunsten der Übernahme von Time Warner durch AT&T. Am folgenden Tag verkündete Brian Roberts Comcasts neues Kaufangebot an Fox: Eine reine Barofferte in Höhe von 35 Dollar pro Anteilsschein (insgesamt 64 Milliarden Dollar) gegenüber unserem Angebot von 28 Dollar. Diese Summe lag nicht nur deutlich über unserem Angebot, die Cash-Offerte wäre für viele Aktionäre, die lieber Bargeld als Aktien hätten, auch wesentlich attraktiver. Auf einen Schlag drohte unser Deal, von dem wir geträumt und für den wir uns in den vergangenen sechs Monaten so hart ins Zeug gelegt hatten, zu platzen.
Der Verwaltungsrat von Fox hatte für eine Woche später eine Sitzung in London angesetzt, auf der er über das Angebot von Comcast abstimmen wollte. Wir hatten die Möglichkeit, ein verbessertes Angebot abzugeben, und mussten schnell entscheiden, welche Summe wir bieten wollten. Wir konnten unser Angebot erhöhen und dabei knapp unter der Comcast-Offerte bleiben und hoffen, dass der Verwaltungsrat von Fox trotz des AT&T-Urteils nach wie vor davon überzeugt wäre, dass eine Fusion mit uns eher von der Wettbewerbsbehörde durchgewinkt werden würde als eine Fusion mit Comcast. Wir konnten mit Comcast gleichziehen und hoffen, dass Comcast unseren Deal nicht ruinieren würde, selbst wenn viele Aktionäre Bargeld Aktien vorziehen würden. Oder wir konnten mehr bieten als Comcast und hoffen, dass sie keine Luft mehr nach oben hatten, um unser Angebot zu toppen.
Verschiedene Führungskräfte und Banker waren an der Diskussion beteiligt. Alle rieten mir, niedrig einzusteigen oder höchstens mit Comcast gleichzuziehen und darauf zu setzen, dass die kartellrechtlichen Bedenken nach wie vor zu unseren Gunsten wirkten. Ich beschloss, ein K.-o.-Angebot abzugeben, und der Verwaltungsrat genehmigte mir die Erhöhung der Summe. Währenddessen befand sich Alan Braverman in ständigen Gesprächen mit dem Justizministerium, um zu versuchen, den Weg für eine Genehmigung freizumachen, für den Fall, dass wir den Bieterkampf um Fox gewinnen sollten.
Zwei Tage bevor der Verwaltungsrat von Fox über das Angebot von Comcast abstimmte, flog ich mit Alan, Kevin, Christine und Nancy Lee nach London. Ich sorgte dafür, dass nur wenige Leute in unserem Team wussten, wie hoch unser Angebot war, und warnte jeden, dass absolute Vertraulichkeit unabdingbar sei. Wir wollten auf keinen Fall, dass Comcast Wind von unserem Plan bekäme, unser Angebot nachzubessern. Wir reservierten unter anderen Namen ein Zimmer in einem Hotel in London, in dem wir sonst nie übernachteten. Ich weiß nicht, ob es stimmt, aber einige Leute erzählten uns, dass Comcast manchmal die Bewegungen der Privatjets seiner Wettbewerber verfolgt, daher flogen wir einen Umweg über Belfast und charterten für den kurzen Flug nach London ein anderes Flugzeug.
Kurz bevor wir in London landeten, rief ich Rupert an und sagte: »Ich möchte mich morgen mit Ihnen treffen.« Am Spätnachmittag des folgenden Tages trafen Kevin und ich uns mit Rupert und John Nallen in Ruperts Büro. Zu viert saßen wir an seinem eleganten Marmortisch und blickten auf den Balkon, auf dem er und ich im vorhergehenden Dezember für ein Foto posiert hatten. Ich kam gleich zur Sache. »Wir möchten unser Angebot auf 38 Dollar erhöhen«, sagte ich. »Zur Hälfte bar, zur Hälfte Aktien.« Ich sagte ihm auch, höher könnten wir nicht gehen.
Was den Preis von 38 Dollar betraf, vermutete ich, dass Comcast sein Angebot möglicherweise erhöhen würde. Wenn wir 35 Dollar geboten hätten, hätten sie 36 Dollar geboten. Hätten wir 36 Dollar angeboten, hätten sie auf 37 Dollar erhöht. In jeder Phase hätten sie sich eingeredet, dass es nur ein wenig mehr sei, bis wir schließlich bei 40 Dollar pro Aktie gelandet wären. Wenn ich jedoch gleich 38 Dollar bot, müssten sie sich gut überlegen, ob sie mindestens 3 Dollar pro Aktie mehr zahlen wollten. (Da sie eine reine Barofferte gemacht hatten, würde es bedeuten, dass sie sich noch mehr Geld leihen und damit ihre Schulden erheblich steigern mussten.)
Comcast ging davon aus, dass der Verwaltungsrat von Fox am folgenden Morgen über sein Angebot abstimmen würde. Stattdessen präsentierte Rupert dem Gremium unsere neue Offerte, und der Verwaltungsrat stimmte zu. Nach der Sitzung teilten sie Comcast mit, dass sie unser neues Angebot annehmen würden, was wir unverzüglich gemeinsam bekannt gaben. Wir mussten diesen Schritt unseren Investoren erklären, aber wir hatten keinen Konferenzraum in London angemietet, weil wir nicht wollten, dass unsere Anwesenheit durchsickerte. Also wurde ein Freisprechtelefon in meinem Hotelzimmer installiert und wir hielten eine Telefonkonferenz ab. Es war eine surreale Szene: Unsere kleine Gruppe saß in einem Hotelzimmer und Christine und ich sprachen mit den Investoren, während im Fernsehen, das im Hintergrund lief, auf CNBC über die brandneuen Nachrichten berichtet wurde.
Kurz nachdem wir unser abschließendes Angebot abgegeben hatten, bat ich Alan Braverman eindringlich, zu versuchen, mit dem Justizministerium zu einer Einigung im Hinblick auf die Akquisition zu kommen. Er kannte unsere Marktkonzentration im Fernsehsport, und die Übernahme der regionalen Sportnetzwerke von Fox würde ein großes Problem sein. Wir beschlossen, dass es besser wäre, einem Verkauf dieser Bereiche zuzustimmen, damit die Akquisition insgesamt schnell durchgewinkt wurde. So geschah es auch. Das verlieh uns einen gewaltigen Vorteil gegenüber Comcast, das mit dem Risiko einer komplizierten, langwierigen Wettbewerbsprüfung konfrontiert war – abgesehen von der Notwendigkeit, unser neues Angebot von 38 Dollar zu toppen. Innerhalb von zwei Wochen erhielten wir eine Garantie des Justizministeriums, dass es auf eine Klage zur Verhinderung der Übernahme verzichten würde, falls wir uns bereit erklärten, die Sportnetzwerke zu verkaufen. Diese Garantie sollte sich als erfolgsentscheidend erweisen.
Nach dem Votum des Verwaltungsrats von 21th Century Fox erhielten seine Aktionäre zusammen mit der einstimmigen Empfehlung, der Transaktion zuzustimmen, einen neuen Proxy-Stimmzettel. Das Votum sollte Ende Juli stattfinden, was Comcast viel Zeit bot, sein Angebot nachzubessern. Es waren nervenzermürbende Wochen. Immer wenn ich meinen Computer einschaltete oder eine E-Mail öffnete oder CNBC anstellte, erwartete ich die Nachricht, dass Comcast unser Angebot übertrumpft hatte. Ende Juli flog ich mit Kevin zu einem dreitägigen Meeting nach Italien und von dort aus weiter nach London.
Wir fuhren gerade in London im Auto, als ich einen Anruf von David Faber, dem Moderator der CNBC-Sendung Squawk on the Street erhielt. Als ich mich meldete, sagte David unverzüglich: »Haben Sie einen Kommentar zu dieser Erklärung?«
»Welche Erklärung?«
»Comcasts Erklärung.»
Augenblicklich stieg meine Nervosität ins Unermessliche. »Ich weiß nichts davon«, sagte ich. David teilte mir mit, die Nachricht sei brandneu: »Brian Roberts hat verkündet, sie seien draußen.«
Ich hatte so fest damit gerechnet, dass er sagen würde, Comcast hätte unser Angebot getoppt, dass ich spontan ausrief: »Heilige Scheiße!« Dann hielt ich kurz inne und diktierte ihm eine formellere Stellungnahme. »Sie können Ihren Zuschauern sagen, dass ich es von Ihnen erfahren habe«, sagte ich. Das tat er – und er sagte ihnen auch, dass ich »Heilige Scheiße« gesagt hatte.
BEVOR WIR DIE TRANSAKTION wirklich abschließen konnten, mussten wir noch die globale Wettbewerbsprüfung außerhalb der Vereinigten Staaten in den Ländern bestehen, in denen wir nun operierten – unter anderem Russland, China, Ukraine, die EU, Indien, Südkorea, Brasilien und Mexiko. Nacheinander gingen die Genehmigungen für die einzelnen Regionen ein. Das Ganze zog sich über viele Monate hin, bis wir im März 2019 – 19 Monate nach unseren ersten Gesprächen mit Rupert – die Transaktion offiziell abschließen und als ein Unternehmen auftreten konnten.
All das geschah genau rechtzeitig. Im folgenden Monat, konkret am 11. April, hielten wir ein ausgefeiltes, streng choreografiertes und genau einstudiertes Event auf dem Disney-Gelände ab, um unseren Investoren die Details unserer neuen D2C-Geschäfte zu präsentieren. Diese Konferenz wäre völlig anders ausgefallen, wenn wir die Übernahme von Fox nicht rechtzeitig hätten abschließen können. Nun füllten jedoch mehrere hundert Investoren und Medienvertreter die Stuhlreihen in einer unserer Klangbühnen und blickten auf eine riesige Leinwand.
Wir hatten unsere Herausforderungen in der Vergangenheit stets offen und transparent kommuniziert.
Wir hatten der Wall Street versprochen, einige Informationen über unsere neuen Streamingdienste preiszugeben, wenn wir so weit wären. Das löste eine interne Debatte über die Frage aus, wie detailliert die Information sein sollte. Ich wollten ihnen alles zeigen. Wir hatten unsere Herausforderungen in der Vergangenheit stets offen und transparent kommuniziert – zum Beispiel in der schicksalhaften Investoren-Telefonkonferenz im Jahr 2015, als ich über die Disruption sprach, die wir alle kommen sahen. Nun wollte ich genauso offen und transparent über die Dinge sprechen, die wir getan hatten, um für diese Disruption gewappnet zu sein und sogar selbst zu einem Disruptor zu werden. Ich wollte ihnen die Inhalte präsentieren, die wir erschaffen, und die Technologie, die wir entwickelt hatten, um unsere Inhalte bereitzustellen. Außerdem war es überaus wichtig, zu demonstrieren, dass Fox nicht nur perfekt in diese neue Strategie passte, sondern sie auf dramatische Weise beflügelte. Ebenso wichtig war die Kommunikation der Kosten, die Höhe der kurzfristigen Gewinneinbußen und unsere langfristigen Gewinnprojektionen.
Wir bewegen uns in eine neue Richtung, aber die Kreativität bleibt das Herzstück aller unserer Aktivitäten.
Ich betrat die Bühne und sprach einige einleitende Worte, gefolgt von einem wunderbar produzierten Film, mit dem wir die Geschichte dieser frisch fusionierten Unternehmen, Disney und 21st Century Fox, präsentierten. Das war unsere Art zu kommunizieren: Wir bewegen uns in eine neue Richtung, aber die Kreativität bleibt das Herzstück aller unserer Aktivitäten. Über viele Jahre haben diese beiden Unternehmen außerordentliche, unvergessliche Un terhaltung geboten, und von nun an würden wir dies mit vereinten Kräften und noch mehr Nachdruck weiterführen.
Diese Konferenz war eine Bekräftigung meines ersten Gesprächs mit dem Disney-Verwaltungsrat im Jahr 2004. Es ging allein um unsere Zukunft, und diese hing von drei Dingen ab: der Schaffung qualitativ hochwertiger Markeninhalte, der Investition in Technologie und unserem globalen Wachstum. Ich hätte damals nicht antizipieren können, dass alles, was wir unternahmen, auf der Grundlage dieser drei Prinzipien geschehen würde, und ich hätte nie einen Tag wie diesen vorhersagen können, an dem sich diese drei Säulen in den vorgestellten Zukunftsplänen unseres Unternehmens so offen präsentierten.
Nacheinander traten die Leiter zahlreicher unserer Sparten auf die Bühne und präsentierten die kuratierten und die Originalinhalte, die über unsere Streamingdienste abrufbar sein würden. Disney. Pixar. Marvel. Star Wars . National Geographic. Wir würden drei neue originale Marvel-Serien und zwei neue Serien von Lucasfilm herausbringen, darunter auch die erste Star-Wars -Realfilm-Serie, The Mandalorian . Daneben würde es eine Pixar-Serie, neue Disney-Fernsehserien und Realfilme geben, darunter auch Susi und Strolch . Insgesamt sollten allein im ersten Jahr des Streamingdienstes mehr als 25 neue Serien und zehn Originalfilme oder Specials erscheinen, die alle mit dem gleichen Ehrgeiz und Qualitätsstreben produziert worden waren wie alle unsere Filme und Fernsehserien. Außerdem würde praktisch die komplette Disney-Mediathek, jeder Zeichentrickfilm seit Schneewittchen und die sieben Zwerge aus dem Jahr 1937 zur Verfügung stehen, darunter auch mehrere Marvel-Titel, zum Beispiel Captain Marvel und Avengers: Endgame . Die Integration von Fox bedeutete, dass wir außerdem alle rund 600 Folgen von Die Simpsons anbieten konnten.
Später betrat Uday Shankar, der neue Präsident unserer Niederlassungen in Asien, die Bühne, um über Indiens größten Streamingdienst Hotstar zu sprechen. Wir hatten beschlossen, auf eine D2C-Strategie zu setzen, und als Folge der Übernahme von Fox gehörte uns nun das größte D2C-Geschäft in einem der dynamischsten und prosperierendsten Märkte der Welt. Das globale Wachstum war Realität.
Als Kevin Mayer die Bühne betrat, um die Funktionsweise der App vorzuführen – auf einem Smart TV, einem Tablet oder einem Smartphone – musste ich unwillkürlich an Steve denken, wie er 2005 in meinem Büro gestanden und mir den Prototyp unseres neuen Video-iPods gezeigt hatte. Sehr zum Leidwesen der übrigen Industrie hatten wir schon damals den Wandel aktiv angenommen. Jetzt taten wir es erneut und stellten uns die gleichen Fragen, die wir uns bereits 15 Jahre zuvor gestellt hatten: Werden hochwertige Markenprodukte in einem veränderten Markt eher noch an Wert gewinnen? Wie können wir den Konsumenten unsere Produkte auf noch relevantere und innovativere Weise zur Verfügung stellen? Welche neuen Konsumgewohnheiten bilden sich heraus, und wie können wir uns daran anpassen? Wie können wir Technologie zu einem einflussreichen neuen Instrument machen und zur Erzielung von Wachstum einsetzen, anstatt der Disruption und Zerstörung zum Opfer zu fallen?
Die Kosten der App-Entwicklung und der Schaffung der Inhalte in Kombination mit den Verlusten, die aus der Unterminierung unserer traditionellen Geschäfte entstanden, bedeuteten Gewinneinbußen in den ersten Jahren in Höhe von einigen Milliarden Dollar pro Jahr. Es würde einige Zeit in Anspruch nehmen, bis sich der Erfolg in Gewinnen ausdrücken würde. Die erste Messgröße würde die Zahl der Abonnenten sein. Wir wollten, dass möglichst viele Menschen weltweit Zugang zu unseren Streamingdiensten hatten, daher legten wir den Preis so fest, dass wir nach unserer Einschätzung in den ersten fünf Jahren zwischen 60 und 90 Millionen Abonnenten gewinnen würden. Als Kevin verkündete, wir hätten den Preis auf 6,99 Dollar pro Monat festgelegt, schnappten die Anwesenden hörbar nach Luft.
Die Reaktion der Börse überstieg unsere kühnsten Erwartungen. Als ich im Jahr 2015 über Disruption gesprochen hatte, war unser Aktienkurs im Anschluss steil eingebrochen. Nun stieg er sprunghaft an. Am Tag nach unserer Investorenkonferenz legte er um 11 Prozent zu und erreichte ein Rekordhoch. Am Ende des Monats war unser Aktienkurs um fast 30 Prozent gestiegen. Diese Phase, die sich über das Frühjahr 2019 erstreckte, war die beste Zeit in meiner Amtszeit als CEO. Wir brachten den Film Avengers: Endgame heraus, der die höchsten Bruttoeinnahmen aller Zeiten einspielte. Darauf folgte die Eröffnung unseres neuen Star -Wars -Land, Galaxy’s Edge, im Themenpark Disneyland, und darauf wiederum folgte eine Vereinbarung über den Kauf Comcasts verbliebener Anteile an Hulu, der zum Streamingdienst für alle Inhalte werden sollte, die nicht auf Disney+ angeboten werden – ein weiterer Schritt, der von den Investoren honoriert wurde. Wenn mich die Vergangenheit irgendetwas gelehrt hat, dann, dass bei einem Unternehmen dieser Größe mit so vielen Mitarbeitern und weltweiten Aktivitäten jederzeit etwas Unvorhersehbares geschehen kann; schlechte Nachrichten sind unvermeidlich. Einstweilen fühlte es sich aber umwerfend an, dass sich 15 Jahre harter Arbeit ausgezahlt hatten.
Wenn mich die Vergangenheit irgendetwas gelehrt hat, dann, dass bei einem Unternehmen dieser Größe jederzeit etwas Unvorhersehbares geschehen kann.
BEVOR WIR MIT FOX in die Übernahmeverhandlungen einstiegen, war mein Ausscheiden aus der Walt Disney Company für den Juni 2019 vorgesehen. (Ich hatte zuvor schon Pläne für meinen Rückzug in den Ruhestand geschmiedet, die sich dann aber zerschlugen. Nun, 45 Jahre, nachdem ich bei ABC begonnen hatte, war ich fest entschlossen, zu gehen.) Doch statt des wohlverdienten Ruhestands arbeitete ich nun härter denn je und empfand mehr Verantwortung als in den vorhergehenden 14 Jahren als CEO. Das soll nicht heißen, dass ich nicht beruflich voll engagiert oder erfüllt gewesen wäre, sondern nur, dass es nicht das war, wie ich mir mein Leben mit 68 Jahren vorgestellt hatte. Die hohe Arbeitsintensität schützte mich aber nicht dagegen, dass sich eine gewisse Wehmut einschlich. Die Zukunft, die wir planten und an der wir so fieberhaft arbeiteten, würde ohne mich stattfinden. Beim Schreiben dieser Zeilen kann ich mein Rückzugsdatum aus den Augenwinkeln bereits herannahen sehen, und es schiebt sich in unerwarteten Momenten in den Vordergrund. Es ist nicht dominant genug, um mich abzulenken, aber doch so präsent, dass es mich daran erinnert, dass meine Zeit sich allmählich dem Ende zuneigt. Vor einigen Jahren schenkten mir liebe Freunde zum Spaß einen Nummernschildhalter, den ich sofort an meinem Wagen anbrachte. Darauf steht: »Gibt es ein Leben nach Disney?« Die Antwort lautet natürlich Ja, aber die Frage fühlt sich existenzieller an als bisher.
Ich vertrete die Überzeugung, dass es nicht gut ist, wenn ein Mensch zu lange in einer Machtposition verharrt. Selbst wenn ein CEO produktiv und effektiv arbeitet, ist es für ein Unternehmen wichtig, dass ein Wechsel an der Spitze stattfindet. Ich weiß nicht, ob andere CEOs mir zustimmen, aber mir ist aufgefallen, dass man in einer Position so viel Macht ansammeln kann, dass es zunehmend schwieriger wird, die eigene Machtausübung zu kontrollieren. Kleine Dinge können sich verändern. Ihr Selbstvertrauen kann umkippen in Überheblichkeit und wird zu einer Bürde. Sie können das Gefühl bekommen, Sie hätten jede Idee schon einmal gehört, und werden unduldsam und beginnen, die Meinung anderer zu geringschätzen. Das geschieht nicht bewusst, sondern ist vielmehr eine Begleiterscheinung Ihrer Aufgabe. Sie müssen die bewusste Anstrengung unternehmen, zuzuhören und der Vielzahl der unterschiedlichen Meinungen Aufmerksamkeit zu schenken. Als Schutzmaßnahme habe ich die Führungskräfte, mit denen ich am engsten zusammenarbeite, um etwas gebeten: »Wenn Sie merken, dass ich zu abschätzig oder unduldsam werde, dann müssen Sie mir das sagen.« Gelegentlich mussten sie das, aber ich hoffe, nicht zu oft.
Kleine Dinge können sich verändern. Ihr Selbstvertrauen kann umkippen in Überheblichkeit und wird zu einer Bürde.
In einem Buch wie diesem wäre es ein Leichtes, alle Erfolge, die ich während meiner Zeit als CEO erzielt habe, als Ergebnis einer perfekt umgesetzten Vision zu präsentieren, die ich von Anfang an hatte; zum Beispiel vorzugeben, ich hätte von Anfang an gewusst, dass die Konzentration auf drei spezifische Kernstrategien uns dort hinführen würden, wo wir heute stehen. Diese Geschichte lässt sich jedoch nur im Rückblick konstruieren. Die Wahrheit ist, dass ich einen Zukunftsplan brauchte, um das Unternehmen führen zu können. Ich war davon überzeugt, dass Qualität höchste Priorität genießen sollte. Außerdem war ich davon überzeugt, dass wir auf Technologie und Disruption setzen mussten, anstatt uns vor beidem zu fürchten. Und ich war davon überzeugt, dass es erfolgsentscheidend sein würde, in neue Märkte zu expandieren. Ich hatte damals jedoch keine konkrete Vorstellung davon, wohin uns diese Reise führen würde.
Ohne Erfahrung ist es unmöglich, Führungsprinzipien zu bestimmen. Ich hatte jedoch das Glück, ausgezeichnete Mentoren zu haben. Michael gehört auf alle Fälle dazu, und vor ihm Tom und Dan und vor ihnen Roone. Jeder war auf seine eigene Weise ein Meister, und ich habe alles, was ich von ihnen lernen konnte, wie ein Schwamm aufgesogen. Abgesehen davon habe ich stets meinen Instinkten vertraut und meine Mitarbeiter dazu ermutigt, den ihren zu vertrauen. Erst sehr viel später begannen sich diese Instinkte in spezielle Führungseigenschaften zu verwandeln, die ich klar artikulieren konnte.
Ich hatte jedoch das Glück, ausgezeichnete Mentoren zu haben. Abgesehen davon habe ich stets meinen Instinkten vertraut und meine Mitarbeiter dazu ermutigt, den ihren zu vertrauen.
Vor Kurzem habe ich die E-Mail erneut gelesen, die ich an meinem ersten Tag als CEO an die gesamte Belegschaft gesendet hatte. Darin sprach ich über die drei Säulen unserer Strategie für die Zukunft, teilte aber auch einige Erinnerungen, nämlich dass ich als Kind The Wonderful World of Disney und The Mickey Mouse Club gesehen und mir damals vorgestellt hatte, wie wunderbar es sein würde, eines Tages Disneyland besuchen zu können. Ich erinnerte mich auch an meine erste Zeit bei ABC und wie nervös ich war, als ich im Sommer 1974 dort begann. »Ich habe mir nie träumen lassen, dass ich eines Tages ein Unternehmen führen würde, dem ich so viele meiner schönsten Kindheitserinnerungen verdanke«, schrieb ich, »oder dass mein beruflicher Weg mich eines Tages hierherführen würde.«
In gewisser Hinsicht kann ich es immer noch nicht ganz glauben. Es ist eine merkwürdige Sache; einerseits denkt man, dass die Erzählung des eigenen Lebens einen vollkommenen Sinn ergibt – der Handlungsleitfaden ist kohärent und durchgehend. Und doch gibt es so viele Momente entlang des Weges, in denen alles anders hätte kommen können. Wenn da nicht eine Glückssträhne oder der richtige Mentor gewesen wäre oder ich nicht den richtigen Instinkt gehabt hätte, der mir sagte, mach dies und nicht das , dann würde ich diese Geschichte nicht erzählen können. Ich kann gar nicht genug betonen, wie sehr Erfolg auch von Glück abhängt, und ich habe auf meinem Weg großes Glück gehabt. Im Rückblick kann ich sagen, dass das Ganze etwas Traumhaftes hat.
Wie konnte ein Kind, das in seinem Wohnzimmer in Brooklyn den Disney-Star Annette Funicello und den Mickey Mouse Club sah oder mit seinen Großeltern zum ersten Mal im Kino Cinderella ansah oder einige Jahre später in seinem Bett lag und immer wieder Szenen aus Davy Crockett in seinem Kopf nachspielte – wie konnte dieses Kind viele Jahre später zum Hüter des Vermächtnisses von Walt Disney werden?
Egal wer wir werden oder was wir erreichen, im Wesentlichen fühlen wir uns immer noch als das Kind, das wir früher gewesen sind, als unser Leben noch einfacher war.
Vielleicht gilt das für viele von uns: Egal wer wir werden oder was wir erreichen, im Wesentlichen fühlen wir uns immer noch als das Kind, das wir früher gewesen sind, als unser Leben noch einfacher war. Ich glaube, in gewisser Hinsicht ist das auch der Führungstrick – an dieser Selbstwahrnehmung festzuhalten, auch wenn die Welt um einen herum einem einredet, wie wichtig und mächtig man ist. In dem Moment, in dem man diesen Botschaften allzu großen Glauben schenkt, in dem man in den Spiegel blickt und alles, was man sieht, ein Titel auf der Stirn ist, hat man seine Richtung verloren. Das ist womöglich die härteste, aber zugleich notwendigste Lektion, die man sich stets vor Augen halten muss: Wo immer Sie sich auf Ihrem persönlichen Pfad gerade befinden, Sie sind derselbe Mensch, der Sie schon immer waren.