Kapitel 6

Gott oder Atome

Was ist nun das Wesen Gottes? Fleisch? Keinesfalls. Landbesitz? Keinesfalls. Ruhm? Keinesfalls. Geist, Erkenntnis, wahre Vernunft. Da suche ganz einfach das Wesen des Guten.

Epiktet, Lehrgespräche, II, 8

Die Tatsache, dass wir über eine grundlegende Frage derart konträr denken können und dennoch in Fragen der Lebensführung übereinstimmen, ist eines der kostbarsten Dinge am Stoizismus. Er lässt gleichermaßen Raum für Gläubige und Nichtgläubige, die ungeachtet ihrer divergierenden Ansichten zur Metaphysik vereint sind in ihrem Verständnis von Ethik. Was auch in einem unterschiedlichen Gottesverständnis zum Ausdruck kommt. Bei Epiktet heißt es zu diesem Thema weniger konkret als bildhaft:

»Wer ist es, der dafür gesorgt hat, dass das Schwert zur Scheide und die Scheide zum Schwert passt? Niemand? Wir pflegen doch aus der sinnvollen Bauweise aller Gegenstände zu schließen, dass das Werk ganz sicher von einem zweckbewussten Künstler stammt und nicht durch Zufall entstanden ist. Weist nun jedes einzelne dieser Werke auf seinen Hersteller hin, aber die sichtbaren Dinge, das Sehvermögen und das Licht tun das nicht? Das Männliche und das Weibliche, das Verlangen nach Vereinigung beider und die Fähigkeit, die für diesen Zweck geschaffenen Organe zu gebrauchen – weist dies nicht auch auf einen Schöpfer hin?«

Ein bemerkenswert frühes, immerhin aus dem 2. Jahrhundert datierendes Beispiel dafür, dass man eine Intelligent-Design-Theorie heranzog, um die Existenz Gottes zu belegen. Ähnlicher Varianten bedienten sich später namhafte christliche Theologen, darunter Thomas von Aquin – die vielleicht bekannteste Fassung indes dürfte die von William Paley sein, einem Naturtheologen des frühen 19. Jahrhunderts. Nur wenige Jahrzehnte, ehe Darwin Über die Entstehung der Arten schrieb, äußerte sich Paley wie folgt:

»Ich ging einst über eine Heide und stieß meinen Fuß an einen Stein. Da war mir’s, als fragte mich jemand, wie der Stein hierherkomme? Ich weiß nicht anders, als dass er von jeher da gelegen, gab ich zur Antwort, und dachte, es sollte dem Frager nicht leicht werden, mir zu beweisen, dass ich etwas Widersinniges gesagt habe. Setze ich aber den Fall, ich hätte eine U h r auf dem Boden gefunden und würde gefragt, wie die Uhr hierherkomme, so würde ich mich sehr bedenken, die vorhin gegebene Antwort – ich wisse nicht anders, als dass sie von jeher da gelegen – nochmals zu geben [… Es] ist meines Erachtens der Schluss unvermeidlich, dass die Uhr einen Urheber haben müsse, dass zu irgendwelcher Zeit und an irgendwelchem Orte ein oder mehrere Künstler gelebt haben müssen, die sie zu dem Zwecke, dem sie, wie wir sehen, wirklich entspricht, absichtlich verfertigten. […] Alle Merkmale von Kunst, alle Anzeichen von Plan, wie wir sie bei der Uhr entdecken, finden sich auch bei den Werken der Natur, nur mit dem Unterschiede, dass die Letzteren außer allem Vergleich größer und zahlreicher sind.«

Paleys Argumentation wirkt zunächst einmal schlagkräftig, und wahrscheinlich werden die meisten Gläubigen Ähnliches vorbringen, wenn man sie fragt, warum sie an Gott glauben. Kein Wunder, wenn die Atheisten hier mit schwerer Munition zurückgeschossen haben. Mit welchen Argumenten, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. Dennoch möchte ich an dieser Stelle sagen, was ich selbst darüber denke. Schließlich ist es gute philosophische Tradition, die verschiedenen Ansichten und Theorien zu diskutieren und gegeneinander abzuwägen – nach Möglichkeit, ohne sich an die Gurgel zu gehen.

Meiner Meinung nach können die Argumente von Epiktet, Thomas von Aquin und Paley bis ins 18., 19. Jahrhundert hinein als außerordentlich vernünftig gelten. Dann aber kamen zwei brillante Geister, ein Philosoph und ein Naturwissenschaftler, und versetzten dem Argument vom intelligenten Design einen gewaltigen Doppelschlag, was zwar nicht mit einem K. o. endete, meiner Einschätzung nach jedoch dazu führte, dass das vorher so gut wie unwidersprochene Argument beträchtlich an Anziehungs- und Schwungkraft verlor. Der erste überzeugende Angriff auf die Intelligent-Design-These kam von David Hume.

»Wenn wir ein Haus sehen, Kleanthes, schließen wir mit der größten Gewissheit, dass es einen Architekten oder Erbauer hatte, weil das genau die Art von Wirkung ist, die unserer Erfahrung nach von dieser Art von Ursache hervorgebracht wird. Aber sicherlich willst du nicht behaupten, dass das Universum eine derartige Ähnlichkeit mit einem Haus hat, dass wir mit derselben Gewissheit auf eine ähnliche Ursache schließen können bzw. dass in diesem Falle eine vollkommene und uneingeschränkte Analogie vorliege.«

Im Grunde unterstellt Hume hier auf subtile Weise, dass aus Analogien abgeleitete Thesen immer problematisch sind, weil Analogien selten ganz aufgehen und in manchen Fällen geradewegs in die Irre führen. Oder konkreter ausgedrückt: Hume erkennt an, dass wir, wenn wir einen Gegenstand sehen, aus ihm mit Recht die Existenz eines menschlichen Herstellers ableiten – und zwar deshalb, weil wir tatsächlich bereits mit eigenen Augen gesehen haben, wie Menschen Dinge herstellen, oder weil wir dafür zumindest unanfechtbare Belege haben. Im Fall des Universums hingegen fehlt so etwas. Kein Mensch hat je gesehen, wie eines geschaffen wurde, und wir verfügen nicht einmal über wirkliches Wissen, was die Existenz eines Schöpfers betrifft.

Und genau diese Frage, wie der Kosmos überhaupt zustande kam, ist der Streitpunkt. Mehr noch: Selbst wenn ein Schöpfer existieren sollte, haben wir keine Ahnung, welches seine Eigenschaften sind. Daher führt Hume sein Argument mit einer Spur Bosheit weiter aus, was zu seiner Zeit nicht ungefährlich war: Wenn wir die Analogie zwischen menschlichen und kosmischen Designern ernst nehmen, müssten wir den Schluss ziehen, dass Letztere die folgenden Merkmale aufweisen – es gibt viele von ihnen, sie sind fehlbar, und sie sind sterblich. Alles Dinge, die mit den üblichen Darstellungen Gottes in der christlichen Theologie überhaupt nicht zusammenpassen.

Obwohl Hume ein schlagkräftiges Gegenargument zur Berufung aufs göttliche Design entwickelte, fehlte ihm etwas ziemlich Wichtiges: eine zündende alternative Erklärung für den unleugbaren Anschein von Design in der Welt, besonders im Reich der Lebewesen. Diesen fehlenden Puzzlestein lieferte erst ein knappes Jahrhundert später der große Biologe Charles Darwin.

Seine Theorie der Evolution durch natürliche Auslese wird nach wie vor als wissenschaftliche Erklärung dafür akzeptiert, dass Augen und Hände, Herzen und Lungen wie komplizierte Uhren oder raffinierte Schwerter wirken und trotzdem das Resultat natürlicher Vorgänge sind, für die man kein Intelligent Design braucht. Außerdem diskutierte Darwin gleichzeitig die bis dahin unbeantwortete und heiß debattierte Frage, weshalb es in der Welt so viel Leid gebe. In einem berühmt gewordenen Brief heißt es:

»Aber ich gebe zu, dass ich nicht so deutlich, wie es andere sehen und wie ich es selbst gerne sehen würde, rings um uns her Beweise für Zweckbestimmung und Güte zu erkennen vermag. Es scheint mir zu viel Elend in der Welt zu geben. Ich kann mich nicht dazu überreden, dass ein gütiger und allmächtiger Gott mit Absicht die Schlupfwespen erschaffen haben würde mit dem ausdrücklichen Auftrag, sich im Körper lebender Raupen zu ernähren, oder dass eine Katze mit Mäusen spielen soll. Da ich daran nicht glaube, sehe ich auch keine Notwendigkeit in dem Glauben, dass das Auge bewusst geplant war.«

Natürlich wusste Epiktet weder von Hume noch von Darwin, doch finden sich bei ihm Aussagen, die in diesen Kontext passen. Einmal klagte einer seiner Schüler, der sich am Bein verletzte, über die Beeinträchtigung: »Dass ich ein verkrüppeltes Bein haben muss …« Worauf er antwortete: »Du Sklavenseele, du schimpfst wegen eines lächerlichen Beines über das Universum?«

Obgleich Epiktet von allen aktenkundigen Stoikern vermutlich der religiöseste war, wäre ihm kaum je in den Sinn gekommen, dass sich Gott höchstpersönlich mit jeder Kleinigkeit beschäftigen sollte. Deshalb spöttelt er auch über die Vermessenheit des jungen Mannes, der irgendwie zu erwarten schien, das ganze Universum müsse umgekrempelt werden, damit sein Bein nicht mehr schmerze.

Andere Stoiker hatten mit so etwas wie dem modernen monotheistischen Gottesbegriff rein gar nichts im Sinn. Sie bevorzugten stattdessen das Wort logos, das man als »Gottes Wort« interpretieren kann oder als eine Art Vorsehung, die in die gesamte Konstruktion des Weltalls eingebettet ist, oder, noch einfacher, als ziemlich unumwundene Feststellung, dass der Kosmos mit der Vernunft begriffen werden kann, egal, wie er einmal entstanden sein mag. Epiktet selbst erklärte seinen Schülern ganz deutlich, dass Gott seiner Meinung nach nichts Externes sei, nichts, was »da draußen« existiere:

»Du aber bist um deiner selbst willen da, du bist ein Stück von Gott. Du hast in dir einen Teil von ihm. (…) Du Unglücksmensch, du trägst einen Gott mit dir herum und weißt es nicht. Glaubst du, ich spreche von einem äußerlich sichtbaren Gott aus Silber oder Gold?«

In diesem Sinne kann man die Stoiker für pantheistisch oder vielleicht panentheistisch halten – für Philosophen, die glaubten, dass Gott das Universum selbst sei und wir daher alle an der göttlichen Natur teilhätten. Der einzige Unterschied zwischen den Menschen und den anderen Tieren liege darin, dass wir das höchste Merkmal Gottes beziehungsweise des Universums in uns trügen: die Vernunft. Entsprechend bestehe die richtige Lebensführung darin, dass wir zur Lösung unserer Probleme die Vernunft bemühten.

Diese Gleichsetzung von Gott mit der Natur hat eine lange Tradition. Besonders ausgebaut wurde sie im 17. Jahrhundert von dem einflussreichen holländischen Philosophen Baruch Spinoza. Sein Gottesverständnis ist im Wesentlichen gekennzeichnet durch zwei Punkte. Erstens befasst sich das göttliche Wesen nicht mit Wundertaten und hebt nicht die Naturgesetze auf, um hier oder da Missstände zu bereinigen. Zweitens gibt es in der Praxis lediglich einen sehr geringen Unterschied zwischen diesem Gott und der Vorstellung, dass das Universum durch ein Geflecht aus Ursachen und Wirkungen funktioniert. Ein Konzept, das in seiner Modernität vollkommen vereinbar mit einer wissenschaftlichen Weltsicht ist.

Ähnliches hatte wohl Epiktet mit seiner an den jammernden Schüler gerichteten Mahnung im Sinn, wobei diese sich auf zweierlei Weise interpretieren lässt. Entweder wollte er sagen, dass sich Gott mit dem Funktionieren des Universums als Ganzem befasse und nicht mit jedem individuellen Wehwehchen. Oder seine Worte bedeuteten, dass der Schüler seine Verletzung, worauf immer die zurückzuführen war, akzeptieren solle, statt dagegen zu protestieren. So oder so: Wer verlangt, die Dinge sollten anders sein, als sie sind, der klagt wegen eines persönlichen Missgeschicks tatsächlich das Universum an. Was zudem eine offenkundige Verletzung des Grundsatzes von der Dichotomie der Kontrolle wäre, doch das bloß nebenbei.

Epiktet war sich übrigens voll darüber im Klaren, dass es über die Götter unterschiedliche Ansichten gab, und akzeptierte das, bestand allerdings darauf, dass für ihn lediglich eine sinnvoll sei:

»Von den Göttern behaupten einige, es gebe sie gar nicht, andere dagegen, es gebe zwar eine Gottheit, aber sie sei untätig und sorglos und kümmere sich um nichts; wieder andere sagen, die Götter existierten und kümmerten sich auch um etwas, jedoch nur um die großen und himmlischen Dinge, aber auf keinen Fall um die Dinge auf der Erde. Eine vierte Gruppe meint, sie kümmerten sich um die irdischen und menschlichen Dinge, aber nur um die allgemeinen und nicht um jeden einzelnen Menschen besonders. Eine fünfte Gruppe schließlich, zu der Odysseus und Sokrates gehörten, behauptet: ›Dir bin ich nicht verborgen, wenn ich mich rege.‹ Wenn es nämlich keine Götter gäbe, wie könnte es dann ein Lebenswerk sein, den Göttern zu folgen? Wenn es sie aber gäbe, ohne dass sie sich um etwas kümmerten, hätte jenes Ziel ebenso wenig Sinn.«

So sehr ich diese Prosa bewundere, muss ich hier meinem Freund widersprechen und ihn daran erinnern, dass der Stoizismus nicht generell behauptet, es sei die Bestimmung des Menschen, den Göttern zu folgen. Das war seine eigene Interpretation. Schließlich haben wir schon gesehen, dass die Stoiker, Epiktet inbegriffen, wollten, dass wir unser Leben der Natur gemäß leben, und es ist vernünftig, dies so lange nicht mit der Anweisung, »den Göttern zu folgen«, gleichzusetzen, wie wir die Beziehung zwischen der Natur und den Göttern nicht geklärt haben. Und in diesem Punkt gab es nicht allein Meinungsverschiedenheiten unter den Stoikern selbst, sondern ebenfalls zwischen ihnen und rivalisierenden Denkschulen, den Epikureern beispielsweise.

Die Anhänger Epikurs werden häufig als »Atheisten« dargestellt, doch sie waren nichts dergleichen. Heute würde man sie als »Deisten« bezeichnen: Ihrer Meinung nach existiert Gott, ist indes so in die Betrachtung der göttlichen Dinge vertieft, dass er den irdischen Fragen und den menschlichen Angelegenheiten überhaupt keine Beachtung schenkt. Die Welt wiederum sehen die Epikureer als ein Wirrwarr von Atomen, die nach dem Zufallsprinzip gegeneinanderstoßen, und obgleich die Menschen imstande sind, ihre Vernunft zu gebrauchen, bleiben ihre Entscheidungen und Handlungen von den Wirkungen der Naturkräfte abhängig.

Manche Stoiker räumten diese Möglichkeit ebenfalls ein, während andere sich einige Gedanken Epiktets zu eigen machten und völlig korrekt behaupteten, Philosophie sei keine Religion – sie habe weder heilige Schriften, noch folge sie Lehren, an denen man nicht rütteln dürfe. Ganz im Gegenteil, hier galt, was Seneca so treffend ausdrückte: »Was wahr ist, ist mein Eigentum.« Damit wollte er sagen, dass eine vernünftige Person die Wahrheit zu ihrem Eigentum machen solle, egal, ob diese von den Freunden komme oder von den Feinden.

Einer der Stoiker, die Epiktets allgemeine Sicht auf das Göttliche akzeptierten, gleichzeitig in solchen Fragen aber offener waren als er selbst, war kein anderer als der Philosophenkaiser. Es ist ziemlich sicher, dass Mark Aurel an Götter glaubte, denn immerhin bezog er sich recht häufig darauf, wie zum Beispiel in folgender Passage:

»Den Göttern verdanke ich es, tüchtige Großväter, gute Eltern, eine gute Schwester, gute Lehrer, gute Angehörige, Verwandte, Freunde zu besitzen und fast nur gute Menschen um mich zu haben […]« Oder: »Alles so tun, sagen und denken, als ob es möglich wäre, aus dem Leben zu scheiden. Die Menschen zu verlassen ist nichts Furchtbares, wenn es Götter gibt. Denn sie schicken dich wohl nicht in ein Unglück. Falls es aber keine Götter gibt oder sie sich um die menschlichen Dinge nicht kümmern, was für einen Sinn hat es dann für mich, in einer Welt ohne Götter und ohne Vorsehung zu leben? Doch es gibt Götter, und sie kümmern sich auch um die menschlichen Angelegenheiten; und sich dem wirklich Bösen nicht auszusetzen, haben sie ganz der Entscheidung des Menschen überlassen.«

Natürlich könnte man argumentieren, dass solche Äußerungen nicht unbedingt seinen Glauben widerspiegeln müssen, sondern eher eine breitere und unbestimmtere Form von Frömmigkeit ausdrücken, denn Mark Aurel sagt in seinen Selbstbetrachtungen überraschend oft und sehr explizit, dass es im Grunde egal sei, ob das Universum durch göttliche Vorsehung gelenkt werde oder durch ein chaotisches Zufallsprinzip. Überhaupt erweist er sich in metaphysischen Fragen weniger sattelfest als Epiktet. Hier eine weitere Kostprobe:

»Du bestiegst ein Schiff, fuhrst los und landetest wieder. Steig aus. Wenn du in ein anderes Leben übergehst, dann ist auch dort alles von Göttlichem erfüllt. Wenn du dich aber im Zustand der Empfindungslosigkeit befindest, wirst du aufhören, Schmerzen und Freuden zu haben.« Oder: »Entweder gibt es die Unausweichlichkeit der Schicksalsfügung und eine unverletzliche Ordnung oder eine gnädige Vorsehung oder die Unordnung des unbestimmten Zufalls. Wenn nur der unausweichliche Zwang herrscht – warum leistest du dann Widerstand? Wenn aber eine Vorsehung, die sich gnädig stimmen lässt, dann verhalte dich so, dass du die göttliche Hilfe verdienst. Wenn aber die regellose Unordnung herrscht, dann sei froh, dass du in einem solchen Durcheinander einen denkenden Geist in dir hast.«

Ökumenischer geht es kaum!

Wenn Sie unsere Betrachtungen bis zu diesem Punkt Revue passieren lassen, fragen Sie sich vielleicht, weshalb ich auf dieser Entdeckungsreise durch den Stoizismus gerade Epiktet zu meinem Führer erwählt habe. Immerhin spricht er beharrlich über Gott, was in scharfem Kontrast zu meinem eigenen Skeptizismus steht. Tatsächlich hätten Sie gute Gründe, zu fragen, warum sich jemand, der nicht religiös ist, überhaupt für den Stoizismus interessiert – bei den Stoikern gibt es ja, um es freundlich auszudrücken, eine Ambiguität gegenüber dem Göttlichen. Warten Sie ab: Ich werde Ihnen noch verdeutlichen, was den Stoizismus meiner Meinung nach zu einer überaus attraktiven Philosophie für das 21. Jahrhundert macht.

Früher war ich ein nassforscher Atheist, schon bevor der Neue Atheismus Fahrt aufnahm. Als ich in Tennessee lebte und lehrte, war ich völlig überzeugt davon, dass Kreationisten nicht viel mehr seien als Provinzdeppen, die bloß darauf warteten, von dem weltläufigen Professor aus Rom erleuchtet zu werden. Ich debattierte mit allen möglichen Leuten, die allen Ernstes glaubten, die Erde sei erst ein paar Tausend Jahre alt. Aber ich irrte mich gründlich. Nicht, was das Alter der Erde betraf – in dieser Beziehung setze ich felsenfest auf die Überlegenheit der Wissenschaft über die religiöse Doktrin –, nein, was den Sinn der ganzen Übung anging.

Zum ersten Mal dämmerte mir das nach einer Debatte mit Duane Gish, dem damaligen Vizepräsidenten des Instituts für Schöpfungsforschung, das übrigens nichts davon tat, was sein Name versprach. Ich erinnere mich daran, wie selbstzufrieden ich war, weil ich ein paar richtig gute rhetorische Schläge ausgeteilt hatte. Dachte ich zumindest, bis ein paar Leute an mich herantraten. »Wissen Sie, wir glauben immer noch nicht, dass Sie recht haben und die Bibel sich irrt«, sagten sie. »Trotzdem wissen wir es zu schätzen, dass Sie in der Diskussion mit Dr. Gish so nett und anständig waren.«

Nicht mit meinen scharfsinnigen, auf naturwissenschaftlichen Erkenntnissen beruhenden Argumenten hatte ich also Eindruck auf meine Zuhörer gemacht, sondern einfach dadurch, dass ich mich anständig benommen hatte und nicht wie der arrogante Agnostiker, mit dem sie gerechnet hatten.

Inzwischen habe ich Ähnliches unzählige Male zu hören bekommen, wenn ich gläubigen Menschen begegnete – Christen ebenso wie Anhängern anderer Glaubensrichtungen. Mehr noch ist mir bewusst geworden, dass es im Alltagsleben meist nur einen geringen Unterschied zwischen meinem und ihrem Verhalten gibt. Und zumindest für die »gewöhnlichen Gläubigen«, die nicht zu den Fundamentalisten gehören, gilt, dass ihre Ansichten zu den wichtigsten Fragen von Ethik und Politik selten weit von meinen, denen des Atheisten, abweichen. Um es in philosophischen Begriffen auszudrücken: Es scheint, als würden unsere divergierenden Ansichten zur Metaphysik kaum einen Einfluss darauf haben, was wir im Leben für wichtig halten oder wie wir uns anderen gegenüber benehmen. Und wenn dem so ist, warum sollte ich dann meine gläubigen Kollegen und Bekannten links liegen lassen und ins Missionszelt der Neuen Atheisten marschieren, die in Sachen Einlasskriterien genauso wählerisch sind wie manche Fundamentalisten?

Doch was hat das alles mit Stoizismus zu tun, werden Sie sich fragen. Für mich hat es viel damit zu tun, denn die stoische Ambiguität bei der Interpretation des logos lässt viel Raum für unterschiedliche Richtungen und Auslegungen, und so können sich bei den Stoikern so ziemlich alle aufgehoben fühlen. Vom Pantheisten und Panentheisten bis zum Theisten, solange keiner dem anderen seine metaphysischen Ansichten aufdrängt.

Sind Sie Christ, Muslim oder praktizierender Jude, werden Sie logos als zentrales Attribut eines personalisierten Gottes betrachten, der das Universum geschaffen hat. Neigen sich Ihre metaphysischen Vorlieben eher zu der Idee hin, dass Gott überall ist und mit der Natur selbst gleichgesetzt werden kann, dann dürften Sie sich bei vielen der ursprünglichen Stoiker und ihrer Auffassung von einem Vernunftprinzip im Weltall ganz zu Hause fühlen. Sind Sie hingegen Agnostiker oder Atheist, steht logos für Sie wahrscheinlich für die unbestreitbare Tatsache, dass der Kosmos vernünftig eingerichtet ist, selbst wenn wir nicht wissen, wie es dazu gekommen ist – ob durch Intelligent Design oder infolge des Spiels von Ursache und Wirkung. Wäre dies nicht der Fall, wären Logik, Mathematik und selbst die Naturwissenschaften völlig im Eimer, und an die glauben Sie schließlich, oder?

Dies ist wohlgemerkt keine Ermunterung zu geistiger Trägheit, und ich will genauso wenig einem politisch korrekten und faden Mischmasch aus eigentlich unvereinbaren Positionen das Wort reden. Es ist einfach meine Erkenntnis, dass das Wichtigste im Leben darin besteht, es gut zu leben, und dass ein solches Ziel, das von den antiken Denkern erstrebte eudämonische Dasein, kaum davon abhängt, ob es einen Gott gibt oder nicht – und wenn, welche Eigenschaften man ihm zuschreibt. Ein schwieriges Thema, zu dem sich bereits Cicero geäußert hat:

»Wenn es auch viele Probleme in der Philosophie gibt, die bis heute noch nicht genügend geklärt sind, so ist doch die Frage nach dem Wesen der Götter ganz besonders schwierig und überaus dunkel […] Doch sind darin die Meinungen der gelehrtesten Männer so verschieden und derart einander widersprechend, dass man mit starken Gründen [bezweifeln kann, es werde jemals möglich sein, die Wahrheit zu erkennen …].«

Das war vor zweitausend Jahren richtig, und egal, was geredet wird, es stimmt noch heute. Warum also einigen wir uns nicht darauf, dass in diesem besonderen Punkt Uneinigkeit besteht, und arbeiten gemeinsam weiter an der schwierigen Aufgabe, ein gutes Leben zu führen?