Der Abend des Michaelistags brach heran, Ende September wurde es schon früher dunkel.
Das Mädchen ging nicht direkt zum Marktplatz, wo die Feier stattfand, sondern spazierte zunächst aus dem Dorf hinaus in Richtung der Felder, die Lütteby umgaben. Dort nämlich wuchs das Getreide für das Mehl, aus dem die Eltern ihrer besten Freundin Brot backten, dort entstand durch die Kraft der Sonne und des Wassers eine der wichtigsten Lebengrundlagen, all das, worüber man sich anlässlich des Erntedankfests freute und wofür man dem lieben Gott von Herzen dankte. Doch das Mädchen war klug und informiert genug, um zu wissen, dass nicht der »Allmächtige« diese Geschicke lenkte, sondern das sogenannte Programm Nord, das seit 1953 eine große Veränderung in der Gegend herbeiführte. Es sollte die Not leidenden Gebiete Schleswig-Holsteins unterstützen, der erste Spatenstich für einen neuen Koog südlich des Hindenburgdamms bildete 1954 den Auftakt der späteren Arbeiten, die das Bild dieser Region künftig prägten. Von nun an waren Begriffe wie »Flurbereinigung«, »Ausbau des Wegenetzes und der Stromversorgung« oder auch die »Halligsanierung« in aller Munde, das Mädchen verfolgte die Nachrichten mit Spannung.
Sie liebte Veränderungen, bis auf eine kleine Ausnahme: Als man abends keine Petroleumlampen mehr entzünden, sondern lediglich den Lichtschalter betätigen musste, weigerte sie sich, ihre Lampen herzugeben – sehr zum Unmut des Vaters.
Wie unterschiedlich wir doch sind, als entstammten wir nicht derselben Familie, dachte sie, während sie die frische Landluft tief in ihre Lungen einsog. Vielleicht bin ich als Baby vertauscht worden, und meine richtige Mutter ist wie die des »Pilzjungen«.
Im Kopf des Mädchens herrschte wieder einmal Unordnung, ein Teil ihres Inneren stemmte sich gegen das eher konservative Leben in Lütteby und sehnte sich nach Freiheit und Reisen. Der andere war jedoch tief verwurzelt und verbunden mit den Menschen, der Nordsee, dem Gespensterwald und der unvergleichlich schönen Natur, die sie umgab und ihr jeden Tag aufs Neue ein Lächeln ins Gesicht zauberte, egal, zu welcher Jahreszeit. Egal, ob früh oder spät. Die Ähren des noch nicht geernteten Getreides wogten im Zwielicht der Abenddämmerung. Saatkrähen mit schwarz glänzendem Gefieder staksten über die Felder und würden sich später zu Hunderten auf den Kastanienbäumen des Marktplatzes versammeln. So manch einer fühlte sich durch die Laute gestört, doch für sie gehörten die jauchzerartigen Rufe zu dieser Jahreszeit – genau wie der Duft nach Herbst und der Morgennebel. Das Mädchen liebte es, durch den Nebel hindurchzutauchen, als sei er das Tor zur Anderswelt. Es ergötzte sich daran, Bucheckern aus dem Gehäuse zu lösen und zu naschen. Das Größte war für sie jedoch, Zuckermais über der Glut eines lodernden Lagerfeuers zu rösten und später mit Butter zu bestreichen, die warm schmelzend von den festen, goldenen Körnern tropfte, wenn sie nicht schnell genug mit dem Essen war.
Ihre Freundin brach stets in glockenhelles Lachen aus und wischte ihr liebevoll über den Mund, während das Mädchen sich mit der Zunge Krümel des Salzes ableckte, das es zuvor aus der Küche seiner Mutter geschmuggelt hatte.
Diese sah es gar nicht gern, wenn die beiden abenteuerlustigen Mädchen sich Herz und Seele an der Feuerstelle wärmten, wo so manches Mal ein glühender Funke auf die Kleidung übersprang und winzig kleine Löcher in den Stoff brannte. Doch die Wildfänge scherten sich keinen Deut darum, sondern tanzten ums lodernde Feuer wie Hexen in der Walpurgisnacht, sangen lauthals den Song Monsieur von Petula Clark. Währenddessen träumten sie davon, eines Tages gemeinsam Paris zu erobern und von dort aus die ganze Welt. Ihr zweiter Favorit war der Chartstürmer der Band The Crystals. In He’s a Rebel ging es um die Liebe zu einem Mann, der nie tat, was man gemeinhin tun sollte, und der genau deshalb so spannend und attraktiv war.
»Meinst du, es gibt so einen Mann?«, fragte die Freundin zumeist, wenn sie einen Schluck Bier zu viel getrunken hatte, was natürlich strengstens verboten war und ihnen nur zur Verfügung stand, wenn ihr älterer Bruder ihnen heimlich eines zusteckte.
Während das Mädchen zwischen den Feldern umherstreifte, dachte es zuerst an diese verrückten Abende, gemeinsam mit der besten Freundin, und dann erneut an den »Pilzjungen«.
Er hatte etwas von jener Rebellion in den Augen gehabt, nach der sie selbst auch strebte.
Ob er wohl auch am Erntedankfest teilnehmen würde?
Bei dem Gedanken daran, ihn womöglich auf dem Marktplatz zu treffen, beschleunigte das Mädchen seinen Schritt, und auch sein Herz schlug etliche Takte schneller.
Mit einem Mal konnte es kaum erwarten, wieder in Lütteby zu sein, und begann die letzten Meter zu laufen.
Die Begegnung mit dem Jungen im Gespensterwald war kein Zufall gewesen, sondern Schicksal, das fühlte sie ganz deutlich.
Ein Zeichen, dass es an der Zeit war, neue Wege zu gehen, Neues zu erfahren, Zeit, erwachsener und selbstbestimmter zu sein. Egal, wie sehr die Eltern sich dagegen wehrten zu akzeptieren, dass das Mädchen schon lange kein kleines Kind mehr war.