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Drei Monate später …

S o schön London und Cornwall auch sind, Nordfriesland ist es ebenso, findest du nicht auch?«

Ich sitze auf der Fahrt vom Hamburger Flughafen nach Hause neben Jonas im Auto, erfüllt und beseelt von einem zweiwöchigen Liebesurlaub in England, den ich mir kurz vor dem Start im Büro von Falk van Hove gegönnt habe. Jonas löst die rechte Hand vom Lenkrad und drückt meine, die auf dem kuscheligen Wollstoff des neuen Herbstmantels von Marks & Spencer in der Oxford Street liegt. Doch mich wärmt nicht nur der neue Mantel, sondern auch die tiefe Verbundenheit zwischen uns beiden, die täglich wächst. Ich war noch nie so verliebt und glücklich und kann manchmal immer noch nicht fassen, dass mir das Wunder so großer und tiefer Gefühle tatsächlich zuteilwird.

»Ja, es ist traumhaft schön hier, ich habe nie etwas anderes behauptet. Gib’s ruhig zu, du hast Lütteby, Henrikje, Sinje und deine Mutter vermisst und kannst es kaum erwarten, sie alle heute Abend bei der Feier in die Arme zu schließen. Ich kann von Glück sagen, dass du mir in London überhaupt Aufmerksamkeit geschenkt und nicht nur mit deinen Lieben per FaceTime gechattet hast«, sagt er lächelnd, als ich zärtlich seine Wange streichle.

»Haha, du tust ja gerade so, als sei ich mit Lütteby verheiratet. Hast du vergessen, wie viele Stunden wir im Bett, in der Badewanne und mit Flanieren verbracht haben?«

»Nein, das habe ich nicht, und ich hoffe sehr, dass wir in Lütteby da weitermachen können, wo wir heute Nacht aufgehört haben. Wie gut, dass Sinje uns das Gästebett im Pastorat zur Verfügung stellt, weil sie mit Sven in Paris herumturtelt«, murmelt Jonas, und mir jagt ein kribbeliger Schauer nach dem anderen über den Rücken.

Im Radio läuft der Song Autumn Leaves von Ed Sheeran, der nicht besser zur Jahreszeit passen könnte. Das Laub der Bäume entlang der für die Region typischen Alleen hat sich größtenteils bunt verfärbt, doch es segeln nur selten vereinzelte Blätter auf den Boden. Die heftigen Herbststürme sind bislang ausgeblieben, der erste Oktobertag lässt sich friedlich und beinahe windstill an, die schräg stehende Sonne taucht die Landschaft in milderes Licht als im Sommer. Zugvögel versammeln sich am Firmament zum formschönen Weiterflug in die Winterquartiere.

Ich freue mich auf den ersten gemeinsamen Winter mit Jonas, Schlittschuh laufen, Glühwein trinken, vor knisterndem Kaminfeuer sitzen und uns gegenseitig etwas vorlesen. Gemeinsam kochen, am winterlichen Strand spazieren gehen und dabei zuschauen, wie sich die Eisschollen auf dem Watt übereinanderschieben, wenn wir längere Zeit Minusgrade haben.

Die Frage »Könntest du dir vorstellen, auf einem Bauernhof so weit ab vom Schuss zu leben?« unterbricht meine gedankliche Reise in den Winter. Jonas deutet auf ein großes Gehöft, das in der Ferne in unser Blickfeld rückt. Es befindet sich auf einem Hügel, im Hintergrund bewegen sich die Rotorblätter der Windkraftanlagen träge im sanften Wind.

»Tatsächlich könnte ich mir gerade vorstellen, überall mit dir zu leben«, sage ich leise, während ich meine Hand auf Jonas’ Nacken lege und ihn zärtlich massiere, weil er sich beim Autofahren oft ein wenig verspannt. In den vergangenen drei Monaten, in denen wir nun schon eine Fernbeziehung führen, haben wir uns immer besser kennengelernt, sind enger und enger zusammengewachsen und suchen nach einer Möglichkeit, mehr Zeit miteinander verbringen zu können. Bislang konnten wir uns glücklicherweise häufig sehen, weil ich in der Touristeninformation gekündigt und nach einem riesigen Streit mit Thorsten nur noch in Henrikjes Lädchen gearbeitet habe.

Doch sobald ich den Job bei Falk van Hove beginne, wird das nicht mehr so einfach möglich sein – mir graut schon vor dieser Zeit.

»Ich bin für ein Haus in Lütteby und eines in Apulien«, sagt Jonas, der meine Liebkosung sichtlich genießt und wohlig seufzt.

»O ja, ein Trullo in Apulien, das wär’s«, stimme ich zu und beobachte einen Mähdrescher und bläulich schwarz gefiederte Saatkrähen, die in den Ackerfurchen der Felder nach Nahrung picken. Ihr staksiger Gang wirkt, als würden die schönen Tiere schreiten, da sie, im Gegensatz zu anderen Rabenvögeln, Beingefieder haben, das aussieht, als trügen sie eine Hose. »Wie warm oder kalt ist es da eigentlich im Winter?«

»Mit etwas Glück klettern die Temperaturen tagsüber auf fünfzehn Grad, aber es regnet leider häufig«, erwidert Jonas und weicht geschickt einem Schlagloch aus. Je näher wir Lütteby kommen, desto häufiger sieht man Stellen auf der Landstraße, die dringend ausgebessert werden müssen. »Wenn du dir ein Winterquartier wünschst, in dem es kuschelig warm ist, kann ich dir nur empfehlen, an meiner Seite zu bleiben.«

Bei jedem anderen würden Bemerkungen dieser Art überheblich wirken, jedoch nicht bei Jonas. Es stimmt schon: Ich fühle mich an seiner Seite geborgen und sicher, ohne meine Eigenständigkeit und Souveränität einzubüßen.

Es gab in den vergangenen Wochen reichlich rauen Gegenwind, der mich manchmal verzweifeln ließ, und Situationen, in denen ich unendlich froh war, dass es Jonas immer wieder gelang, mir den Rücken zu stärken und mich zu unterstützen. Ich denke mit Schaudern an die heftige Auseinandersetzung mit Thorsten, nachdem ich ihm gesagt hatte, dass ich künftig gern für Falk van Hove arbeiten würde. Dass der sturköpfige Thorsten dies nicht gelassen oder gar begeistert aufnehmen würde, war mir klar. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass er mich auch drei Monate später nicht grüßt, wenn wir einander zufällig auf dem Marktplatz treffen. Und dass er fluchtartig Chez Amelie verlässt, wenn ich dort mit Sinje einen Café au Lait trinken möchte.

Leider ist Thorsten nicht der Einzige, der negativ auf meinen Jobwechsel reagiert, einige Bewohner Lüttebys wechseln demonstrativ die Straßenseite, wenn sie mir begegnen. Zum Glück sind es nicht diejenigen, die mir am Herzen liegen, doch trotzdem schmerzt mich ihre Ablehnung. Ohne den Rückhalt von Henrikje, Sinje, aber auch meiner Mutter hätte ich vermutlich schon kapituliert und wäre zu Jonas nach London gezogen. Doch sogar Rantje findet meinen Entschluss gut, obwohl sie Falk van Hove nicht ausstehen kann. »Richtig so, Lina, riskier endlich mal was!«, war alles, was sie zu meiner Entscheidung gesagt hat, kurz bevor ich Thorsten über meine Pläne in Kenntnis gesetzt habe.

Auch Lars Baumann hat mir viel Glück gewünscht und hofft auf eine gute Zusammenarbeit, schließlich haben wir nach wie vor ähnliche Ziele für unsere große Gemeinde.

»Ich finde es schön, dass wir Henrikjes Geburtstag bei deiner Mutter in Garding feiern«, sagt Jonas, nicht ahnend, dass meine Gedanken sich gerade zu verdüstern drohen, weil ich daran denke, dass die kommenden Wochen ziemlich herausfordernd werden. »Bin schon sehr gespannt auf sie.«

Auch mein Verhältnis zu Florence ist in den vergangenen drei Monaten immer wieder ein kleines Auf und Ab gewesen. Einerseits nähern wir uns immer weiter an, andererseits hat sie mir nach wie vor nicht verraten, wer mein Vater ist. Angeblich ist er aus Grotersum weggezogen, und sie kann ihn nicht ausfindig machen. Doch ich glaube ihr nicht, sondern vermute, dass sie es nicht wagt, diesen letzten und entscheidenden Schritt zu gehen, aus welchem Grund auch immer. »Versuch, so gut es geht, darauf zu vertrauen, dass die Wahrheit ans Licht kommt, wenn die Zeit dafür reif ist«, bemüht Henrikje sich, mich zu beschwichtigen, wenn ich mal wieder kurz davor bin, meiner Mutter zu sagen, wie ungeheuerlich ich ihr Verhalten finde, und mit dem Gedanken spiele, den Kontakt zu ihr abzubrechen.

»Und ich bin gespannt darauf, wie ihr beide euch versteht«, erwidere ich ein wenig nervös. Bislang habe ich Florence nur das Nötigste von Jonas erzählt, so wie ich mich generell eher bedeckt halte, was mein Leben betrifft. Meine Mutter ist erst seit so kurzer Zeit ein Teil davon, dass es sich nicht richtig für mich anfühlt, sie in alles einzuweihen. Dieses Vertrauen muss sie sich erst einmal verdienen.

»Wollen wir noch ’ne Runde am Strand drehen, bevor wir nach Garding fahren?«, fragt Jonas, als Lütteby in Sicht kommt. »Nach dem Flug und der Autofahrt könnte ich Bewegung und frische Luft gebrauchen. Außerdem habe ich Sehnsucht nach unserem Leuchtturm.«

Keine zehn Minuten später stehen wir vor dem hübschen, rot-weiß geringelten Bauwerk am feinen, hellen Sandstrand, in dem wir zum ersten Mal miteinander geschlafen haben. Doch ich darf jetzt gar nicht daran denken, wie schön das war, sonst falle ich gleich über Jonas her. Also lieber abkühlen, bevor ich noch auf Ideen komme … Obwohl es nur zwölf Grad sind, ziehe ich meine Schuhe aus und spüre verzückt den Sand zwischen meinen Zehen und unter den Fußsohlen. Er streichelt und massiert meine Haut, ein schier unglaubliches Gefühl, nach dem ich süchtig bin.

»Was hältst du von einer kleinen Kneippkur?«, fragt Jonas, entledigt sich ebenfalls seiner Schuhe, rollt die Beine seiner Jeans auf und stürmt ins Wasser.

Ich erwidere: »Den Mutigen gehört die Welt«, und sprinte ihm hinterher. Die Meerestemperatur ist nahezu identisch mit der der Luft; keine Frage, dass es mich zunächst Überwindung kostet, in die Fluten zu laufen, und es mir kurz den Atem verschlägt, weil das Wasser so kalt ist. Die Nordsee pikt und sticht, doch sie wirkt auch binnen Sekunden so prickelnd und erfrischend, dass ich trotz des frühen Aufstehens und der langen Anreise schlagartig munter bin. Ich breite, wie von einem Glas Champagner berauscht, die Arme aus, werfe den Kopf in den Nacken und rufe: »Moin, Lütteby, ich bin wieder da. Hast du mich genauso vermisst wie ich dich? Ich freue mich auf den neuen Abschnitt, der auf mich wartet, und hoffe, dass alles wunderschön wird.«

»Das hoffe ich auch, denn Lina hat es verdient«, ruft Jonas, der nun neben mir steht. Dann umfasst er meine Hüfte und singt den Anfang des Songs Shallow aus dem Film A Star is Born mit Lady Gaga in der Hauptrolle.

Ich antworte mit einer weiteren Liedzeile, und dann tanzen wir in der Nordsee zu der traumschönen Ballade, die mir jedes Mal Tränen der Rührung in die Augen treibt. Jonas schwenkt mich so tief im Kreis, dass ich einen Moment lang glaube, er würde mich ins Wasser schubsen, doch das tut er natürlich nicht. Allerdings sticht mich plötzlich der Hafer, und ehe Jonas sichs versieht, landet er nach einem kräftigen Schubser von mir auf dem sandigen Boden der Nordsee und wird dann von einer höheren Welle überspült.

»Na warte, das gibt Rache«, ruft er und zieht mich zu sich, bis ich ebenfalls von oben bis unten nass bin. Wir rangeln noch eine Weile wie kleine Kinder und küssen uns dann so leidenschaftlich, dass es überall kribbelt und ich Jonas am liebsten hier und jetzt verführen würde. Die körperliche Anziehung zwischen uns ist nach wie vor groß, und es fällt uns beiden schwer, die Finger voneinander zu lassen. Nach mehreren Minuten des Herumtollens, Jauchzens und wilden Herumknutschens wird es jedoch Zeit, ins Pastorat zu fahren, heiß zu duschen und uns ausgehfein für Henrikjes Geburtstagfeier zu machen, zu der meine Mutter auch Anka eingeladen hat.

Ich finde es gut, dass wir nicht nur zu viert sind, das gibt dem ersten Zusammentreffen von Florence und Jonas einen etwas ungezwungeneren Rahmen.