A m Sonntag des Erntedankfests liege ich hellwach neben dem sanft schnorchelnden Jonas, der am Vorabend erst sehr spät zu der kleinen Feier vor dem Lädchen gestoßen war und äußerst aufgedreht gewirkt hatte.
Ich bekomme die Bilder von Henrikje und Thorsten nicht mehr aus dem Kopf, Kais kryptische Bemerkung über die »Zusammengehörigkeit« und die Nachricht von Irmels Tod. Kann es sein, dass Thorsten und meine Großmutter mehr verbindet als nur jahrzehntelange, innige Freundschaft?
Ich hatte das gute Verhältnis der beiden stets darauf zurückgeführt, dass die zwei einander ewig kennen, eine große Liebe zur Natur und zu Lütteby teilen.
Mir kommt Henrikjes Reaktion auf Irmels Krankheit in den Sinn und die Tatsache, dass sie sich noch nie, seit ich denken kann, frühabends ins Bett gelegt hat, noch nicht einmal, wenn sie erkältet war oder aus anderen Gründen unpässlich. Wäre es denkbar, dass sie an jenem Abend vor drei Monaten nicht nur von der ziemlich aussichtslosen Diagnose der Ärzte in Bezug auf Irmels Krankheit geschockt gewesen war, sondern auch von der Tatsache, dass Thorsten im Fall von Irmels Tod … frei sein würde? Unsinn, Lina, jetzt spinnst du total!, rufe ich mich selbst zur Ordnung. Thorsten und Irmel waren ewig lange verheiratet, und da ich weder ihm noch Henrikje eine Affäre zutraue, kann das rein zeitlich alles gar nicht hinkommen. Außerdem war Opa Lucien aus Paris die große Liebe meiner Großmutter, oder etwa nicht?
Die Vorstellung, dass es womöglich noch ein großes Geheimnis in unserer Familie gibt, lässt mir keine Ruhe, und ich stehe auf, um einen klaren Kopf zu bekommen.
Schnell einen Tee kochen und dann raus in den Pastoratsgarten, frische Luft schnappen und rasch wieder zurück auf den Boden der Tatsachen! Als ich mit einem Becher dampfendem Friesentee in der Hand die Dahlien und andere Herbstblumen betrachte, die dank Amelies liebevoller Pflege in Sinjes Garten blühen, bemerke ich, dass Fiete Ingwersen den Rasen offenbar wieder mal gemäht hat. Fiete kann, wieso auch immer, Thorsten nicht ausstehen und, wenn ich ganz ehrlich bin, auch meine Großmutter nicht. Er geht Henrikje nicht ganz so ostentativ aus dem Weg wie Thorsten und feindet sie auch nicht offen an, aber er hat ihr noch nie seine Hilfe angeboten, wenn Henrikje etwas brauchte, sondern nur mir. Bislang habe ich das als typischen Kleinstadthickhack abgetan, doch nun beschleicht mich das Gefühl, dass hinter diesen unausgesprochenen Animositäten weit mehr steckt.
Doch was könnte der Grund sein?
Alle stammen aus Lütteby, keiner aus Grotersum, die Fehde zwischen beiden Ortschaften kommt also nicht als Ursache für die Unstimmigkeiten infrage.
»Hey, was machst du denn so früh hier draußen?«, fragt Jonas und umschlingt mich zärtlich. »Hast du Sorgen, oder habe ich geschnarcht und dich damit vertrieben?«
Ich drehe mich um und gebe ihm einen Kuss.
Mein Herz quillt schier über vor Liebe, denn ich mag es, wenn Jonas bettwarm, verstrubbelt und leicht müde ist, dann ist er ganz und gar er selbst.
»Tja, das wird allmählich ein Fall für Ohrstöpsel oder getrennte Schlafzimmer«, necke ich ihn. Jonas zieht einen gespielten Flunsch, schnappt sich meinen Becher und stellt dann fest, dass Tee darin ist. »Wie kann ich nur immer wieder darauf reinfallen und denken, dass du morgens Kaffee trinkst?«, murmelt er und zieht mich wieder an sich. »Bist du übrigens bereit für eine kleine Überraschung, oder gehst du heute zum Gottesdienst, obwohl Sinje in Paris ist?«
»Eine Überraschung?«, frage ich, und mein Herz beginnt vor Aufregung zu klopfen. »Ja, sehr gern. Ich schwänze heute den Kirchgang, weil ein Gottesdienst ohne Sinje einfach nicht dasselbe ist, auch wenn ihre Vertretung sich bestimmt viel Mühe gibt.«
»Alles klar, dann treffen wir uns um elf Uhr am Leuchtturm.«
»Wieso treffen? Wir können doch gemeinsam nach dem Frühstück zum Strand gehen«, sage ich verwirrt.
»Tu bitte einfach, was ich sage, und warte ab, was passiert«, entgegnet Jonas grinsend. »Und jetzt koche ich Kaffee, sonst verschlafe ich den Sonntag, und das wäre wirklich jammerschade.«
»Das kann ich doch machen, während du duschst«, biete ich an und rätsle, was Jonas planen könnte.
»Da hätte ich eine viel bessere Idee«, erwidert er. »Wir duschen erst gemeinsam und trinken dann Kaffee. Glaub mir, das wird beides sehr, sehr heiß.«
Punkt elf Uhr bin ich am Leuchtturm, doch von Jonas fehlt jede Spur. Ich schaue Richtung Hafen, suche die Strandkörbe nach ihm ab, blicke immer wieder aufs Handy und werde nervös, als es zwanzig nach elf ist. Jonas ist pünktlich wie ein Uhrwerk, eine solche Verspätung ist ungewöhnlich.
Gerade als ich beginne, mir Sorgen zu machen, höre ich ihn »Lina, hier bin ich« rufen. Seine Stimme ertönt von der Wasserseite, er sitzt paddelnd in der Florence, die nach der Reparatur von Malte in einem kräftigeren Blau gestrichen ist und nun aussieht wie neu. Auch der Schriftzug ist wieder intakt, beinahe so, als hätte es den schrecklichen Abend im Seenebel niemals gegeben.
Als Jonas das Ufer erreicht hat, springe ich zu ihm ins Ruderboot. Er reicht mir eine Wolldecke, zudem hat er auf meiner Bank fürsorglich ein Sitzkissen drapiert, und ich erspähe zu meiner Freude eine Thermoskanne. »Eine Bootstour, was für eine schöne Idee«, sage ich wohlig seufzend und recke mein Gesicht der Oktobersonne entgegen. »Wann hast du dir das denn überlegt?«
»Am Freitagabend. Wo wollen wir hin, hast du einen besonderen Wunsch?« Ich zucke mit den Schultern, meinetwegen können wir einfach die Küstenlinie auf und ab rudern, Hauptsache, es kommt kein Seenebel auf. Ich denke immer noch mit Schaudern an das Kentern, habe aber dennoch das Gefühl, dass dieses schreckliche Ereignis Jahre her ist. Wie gut, dass Jonas mich kurz nach der Reparatur des Bootes, die Malte netterweise übernommen hat, ermunterte, wieder aufs Wasser zu gehen, um das Trauma zu bekämpfen, das mir wirklich schwer zu schaffen gemacht hatte.
»Keine Antwort ist auch eine Antwort«, sagt Jonas schmunzelnd. »Also bestimme ich den Kurs. Aber nicht, dass du glaubst, du müsstest hier nichts weiter tun. Wenn ich eine Pause brauche, bist du mit dem Rudern dran. Möchtest du heißen Tee?«
Ich öffne den Verschluss der Kanne und schenke mir einen Becher voll ein. Am Himmel ziehen Seeschwalben, Lachmöwen und Sandregenpfeifer ihre Kreise, die Sonne setzt den Wellenkämmen der Nordsee kleine, goldene Kronen auf. Das Wasser spritzt immer wieder hoch und legt sich wie ein feiner Sprühnebel auf Haut und Haare. Wir schweigen beide und genießen die Schönheit des Meeres, die gute Luft und das Gefühl von Freiheit, das sich immer einstellt, wenn man auf oder am Wasser ist und der Horizont plötzlich zum Greifen nah, jedoch gleichzeitig meilenweit entfernt zu sein scheint. Jonas rudert und rudert, und ich verliere mich in Träumereien über ein Leben mit ihm. Ich möchte gern mit ihm reisen, gemeinsam mit ihm Neues sehen und erleben – aber auch irgendwo ankommen.
»Es hat geklappt, wie wunderbar«, sagt Jonas irgendwann leise und holt das Ruder ein. Zunächst weiß ich nicht, was er meint, zu sehr war ich damit beschäftigt, mir zu überlegen, wie unsere gemeinsame Zukunft aussehen könnte, denn die Distanz zwischen Lütteby und London wird früher oder später zum Problem werden, dieses ewige Vermissen muss ein Ende haben. »Schau mal da«, sagt er, zieht mich zu sich rüber und deutet auf die Sandbank unweit von uns. »Das ist für Anfang Oktober eine echte Seltenheit.«
Ich halte den Atem an, weil der Anblick der Seehunde, nur wenige Meter entfernt, so beeindruckend ist, dass ich glaube, zu träumen. Die Tiere mit dem silbergrauen Fell und den dunklen Knopfaugen sehen aus dieser Perspektive aus, als würden sie sich dicht aneinandergekuschelt in der Sonne rekeln. Doch der Eindruck täuscht, denn Robben sind keine Rudeltiere und wollen ihre Ruhe, wenn sie die Sandbänke im Wattenmeer aufsuchen.
»Wunderschön«, flüstere ich, ergriffen von diesem unerwarteten Naturschauspiel und darauf bedacht, die Tiere nicht zu erschrecken. Denn Seehunde stürzen sich sofort in die Fluten der Nordsee, wenn Gefahr droht. »Danke, dass du hierhergerudert bist.«
Zu meiner Überraschung holt Jonas ein kleines Kästchen aus der Tasche seiner Jacke und öffnet es. Darin liegt ein silberner Ring mit einem weißen Raben als erhabenes Schmuckornament. »Ich weiß, das kommt jetzt etwas übergangslos daher, zumal Seehunde Einzelgänger sind und keine Tiere, die eine Bindung fürs Leben eingehen wie Schwäne. Aber ich habe schon den ganzen Tag auf einen Aufhänger oder eine gute Überleitung für meinen Antrag gewartet, um dir diesen Ring zu schenken. Und nun halte ich es keine Sekunde länger aus: Lina, möchtest du meine Frau werden und mich damit zum glücklichsten Mann der Welt machen? Rabenvögel sind sehr treu und liebevoll, und Abraxas ist sehr wichtig für dich, so wichtig wie du für mich, deshalb ist dieser Ring kein klassischer Verlobungsring, aber irgendwie passender … zumindest hoffe ich das. Oh, nein, ich rede totalen Unsinn, bitte entschuldige.«
Obwohl ich seit Freitagabend immerzu an das Thema Hochzeit gedacht und sogar schon Uroma Beekes Brautkleid anprobiert habe, verschlägt es mir die Sprache. Dieser Ring ist so besonders und wie für mich gemacht und außerdem das schönste Versprechen, das ich je bekommen habe. Anstelle einer Antwort gebe ich Jonas einen langen, zärtlichen Kuss, streichle seine von der Sonne gewärmte Wange und schließe zutiefst beglückt die Augen. Ich sehe Jonas und mich, Hand in Hand durchs Leben gehend, glücklich über das Wunder, das uns einst bei Nacht am Leuchtturm geküsst hat, das anhält und immer schöner und größer wird, als ich es mir je hätte erträumen können. Und nun krönen wir dieses Wunder mit einer Hochzeit, bei der ich diesen einzigartigen Ring am Finger tragen werde.
»Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich dich liebe«, murmelt Jonas zwischen unseren Küssen, die mir durch und durch gehen. »Wieso hat es nur so lange gedauert, bis ich dir begegnet bin?«
Ich lache und sage: »Tja, das Beste kommt immer zum Schluss«, und bewundere erneut den Ring, der in der Sonne funkelt. Erst jetzt sehe ich, dass zwei kleine Brillanten die Augen markieren und damit hervorheben, welch magische Tiere Rabenvögel sind.
»Wollen wir auf unser Glück anstoßen?«, fragt Jonas und schwenkt die Thermoskanne. »Leider habe ich nur Früchtetee im Angebot, aber ich hoffe, der tut es für den Moment auch.«
Ob es die Bewegung von Jonas ist oder irgendetwas anderes, was die Seehunde nervös macht, ich weiß es nicht. Nach und nach lässt sich jedes der hübschen Tiere ins Wasser gleiten, und ich traue meinen Augen kaum, als zwei von ihnen näher und näher ans Boot schwimmen, als seien sie ein Paar – für die Ewigkeit miteinander und mit dem paradiesischen Wattenmeer in der Nordsee verbunden.
Eine Liebe für die Ewigkeit.