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D ie lang anhaltende Stille in Thorstens Wohnzimmer ist bezeichnend dafür, wie sehr uns drei gerade die Vergangenheit beschäftigt. Nach all den Jahren, in denen meine Mutter, Henrikje, Thorsten und viele andere geschwiegen haben, habe ich mein Leben in Lütteby gelebt, Fragen gestellt, mich in Geduld geübt und keine Antworten bekommen. Stelle niemals eine Frage, mit deren Antwort du womöglich nicht zurechtkommst, hat Henrikje stets gesagt, und da ist viel Wahres dran, wie ich feststellen muss.

»Ich gehe mal eben einen Moment an die frische Luft«, sage ich, als ich das Gefühl habe, dass mir gleich die Decke auf den Kopf fällt und ich nicht mehr frei atmen kann.

Henrikje nickt gedankenverloren, Thorsten steht auf und kommt mit einem Regenschirm wieder. Darauf steht: Wir sind aus Lütteby, nicht aus Zucker , und er ist der Verkaufsschlager im Merchandise-Shop der Touristeninformation. Ich nicke ihm dankend zu und gehe in den verwilderten Garten zu dem knorrigen Apfelbaum, der Thorsten vor einigen Monaten zum Verhängnis wurde, als er den Drachen des Nachbarsmädchens aus den Ästen befreite. Sein Sturz markiert für mich in der Nachbetrachtung den Beginn einer Kette von Ereignissen und Enthüllungen, die mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt haben und mich sicher noch lange, lange beschäftigen werden.

Nachdenklich schaue ich zu, wie sich der Regen an den Rändern meines Schirms sammelt und als Band von schimmernden Tropfen zu Boden fällt.

Die Erde ist an einigen Stellen stark aufgeweicht, es haben sich Pfützen gebildet, das herabgefallene Herbstlaub wird bald verfaulen, sich zersetzen, Teil des Erdreichs werden und damit wieder den Boden düngen. Das ist der Kreislauf des Lebens und der Natur. Alles ist mit allem verbunden, eine Aktion zieht eine Reaktion nach sich, das eine existiert nicht ohne das andere.

Ich drehe den Griff des Schirms in meiner Hand und schaue zu, wie er über meinem Kopf rotiert und die Regentropfen nach allen Seiten spritzen. Es raschelt neben meinen Füßen, ein Igel streckt sein Köpfchen aus dem Laubhaufen, hält einen Moment inne und tippelt dann auf seinen kurzen Beinchen in Richtung Hecke, wo er sich wahrscheinlich sicherer fühlt.

Tiere und Menschen suchen sich ein Versteck, wenn sie nicht gesehen und geschützt sein wollen, das Nest meiner Eltern war die Räuberhöhle im Gespensterwald.

Ich denke an die Fehde, die seit der großen Sturmflut zwischen Lütteby und Grotersum herrscht, und kann nicht fassen, dass sie nach all den Jahrhunderten immer noch eine solche Macht hat, dass Menschen wie Florence und Falk, aber auch andere die Auswirkung zu spüren bekommen.

Begonnen hatte alles damit, dass Lütteby bei der Groten -Mandränke -Sturmflut wie durch ein Wunder verschont worden war, im Gegensatz zu Grotersum, das viele Tote, Elend und die Zerstörung seiner Kirche zu beklagen hatte. Doch statt einander in diesen schwierigen Zeiten beizustehen und sich gegenseitig zu unterstützen, zerstritten sich die Bewohner. Aus ehemaligen Freunden wurden erst Fremde, dann Feinde.

Das muss unbedingt ein Ende haben!, denke ich und rufe mir die Prophezeiung in den Sinn, welche die Wahrsagerin Sinje auf dem Jahrmarkt gemacht hat, als wir beide elf waren: Sie wird nur dann glücklich werden, wenn sie Sorge dafür trägt, dass die Seelen der Lebenden und der Toten Lüttebys und Grotersums dauerhaft Ruhe und Frieden finden.

Als Kinder wussten wir wenig mit dieser Wahrsagung anzufangen, doch im Laufe des Älterwerdens haben wir immer wieder darüber gesprochen, was sie zu bedeuten hat und ob wir diese Worte wirklich ernst nehmen sollten. Sinje studierte Theologie und entschloss sich, Pastorin zu werden, vor einigen Jahren verliebte sie sich dann in den Gedanken, in die Spukvilla einzuziehen, im Wald einen Ruheforst anzulegen und damit den vermeintlichen Fluch zu brechen, der über dem jahrhundertealten Anwesen der Lüttebyer Kapitänsfamilie Ketelsen lag.

Einzig und allein die alte Eevke Ketelsen war mutig oder verrückt genug gewesen, wieder in die alte Villa zu ziehen, nachdem diese jahrelang leer gestanden hatte. Sie galt im Ort als Hexe, und fast alle Kinder aus Lütteby mussten ihr als Mutprobe einen Besuch abstatten oder eine ganze Nacht auf dem benachbarten Friedhof verbringen. Auch ich hatte zitternd vor ihrer Tür gestanden und um Süßigkeiten als Beweis dafür gebeten, dass ich mich auch wirklich zu ihr getraut hatte.

Dies war die Vollmondnacht gewesen, in der ich die verstorbene Algea am Fenster des Dachgeschosses gesehen hatte – oder geglaubt hatte, sie zu sehen.

»Na, mien Seuten«, sagt Henrikje, die auf einmal neben mir steht und meinen Arm streichelt. »Möchtest du noch hierbleiben oder mit mir nach Hause kommen? Deine Mutter hat angerufen und gesagt, dass sie gern mit uns beiden über deinen Vater sprechen möchte. Ist dir das recht?«

»Aber natürlich ist es das«, murmle ich, während meine Gedanken nach wie vor um die Prophezeiung kreisen und um meinen tiefen Wunsch, Frieden zwischen den beiden Ortschaften zu stiften. »Ich werde ein klein wenig später bei euch sein, denn mir ist gerade ein Gedanke gekommen, den ich unbedingt verfolgen möchte.«

»Sagen wir zum Abendessen gegen sieben Uhr«, schlägt Henrikje vor. Dann verabschieden wir uns von Thorsten und gehen beide unserer Wege.

Henrikje in Richtung Marktplatz.

Und ich in Richtung des Vorlands, wo die namenlosen Toten begraben liegen, die von der Nordsee an Land gespült wurden. Die Salzwiesen von Lütteby sind ein friedlicher, rauer, einsam gelegener und wunderschöner Ort, den man nur über einen schmalen Bohlenweg erreichen und passieren kann. Im Frühjahr brüten hier Austernfischer, Löffler und Rotschenkel. Wer einmal versehentlich in die Nähe eines Austernfischer-Vaters gekommen ist, weiß, wie streng er seine Familie beschützt und wie es sich anfühlt, wenn er drohend auf einen zufliegt.

Im Frühsommer webt der lilafarben blühende Strandflieder einen Teppich aus zarten Blüten, einige von ihnen sind auch weiß und wirken im gleißenden Sonnenlicht wie eine Spiegelung der Wolken am Himmel. Nicht Meer und auch nicht Land – die Salzwiesen sind zugleich nichts und alles. Sie sind ein unter Naturschutz stehendes Biotop, das durch Anlandung von Schlick entsteht und jährlich mehrfach überflutet wird.

Ein Paradies für Vögel und Pflanzen wie Queller, Schlickgras, Portulak, Strandastern, rosafarbenes Milchkraut und die weiße, wunderschöne Schuppenmiere. Auch das große Seegras wächst und verankert sich hier mit seinen Wurzeln im Sandgrund, seine einstigen Vorfahren waren Algen.

Beinahe ehrfürchtig gehe ich den Bohlenweg entlang, diesmal bin ich gegen den peitschenden Regen und den böigen Wind durch Irmels Friesennerz geschützt, den Thorsten mir netterweise geliehen hat. Heute ähnelt dieses Gebiet eher dem Schimmelreiter-Land, die Sommerblumen sind längst verblüht, die Gräser braun und windzerzaust. Vertrocknete Stranddisteln erheben ihre Köpfe über den Wiesen, an einigen hängen Fetzen von Schafwolle, die sich in den Stacheln verfangen hat. Der Nordseewind hat sie hierhergeweht, und nun flattern die Wollfetzen wie kleine Fähnchen umher.

Nach einem etwa zehnminütigen Marsch gabelt sich der Bohlenweg, links geht es zum Friedhof der Heimatlosen, der nahe dem Ufersaum beginnt. Einfache Holzkreuze bezeugen die Existenz der Toten, in einige von ihnen sind Daten geritzt, andere wiederum sind ohne Inschrift, und es gibt zahllose Gräber, die erst gar nicht mit Kreuzen markiert wurden.

Ich erinnere mich noch genau an den Tag, als ich zum ersten Mal mit Henrikje hier war und sie mir erklärt hat, weshalb einige Tote so begraben und andere wiederum prunkvoll im Friedhof am Wald bestattet wurden.

Die sprechenden Grabsteine Nordfrieslands erzählen viel über die Geschichte derer, die tief unter der Erde liegen, um dort ihre letzte Ruhe zu finden. Wohlhabende Familien beauftragten von jeher Steinmetze, um diese Geschichten in erhabener Schrift auf die Grabmäler zu setzen und damit für die nachfolgenden Generationen zu bewahren.

»Irgendwo hier liegt der Sage nach Fokke van Hove«, hatte Henrikje mir damals erzählt, und ich hatte mit großen Augen das Friedhofsareal nach einem Zeichen abgesucht, das bewies, dass hier die große Liebe von Algea Ketelsen begraben worden war. Es wollte mir schon damals nicht in den Sinn, dass auch bei der Bestattung nach Stand, finanziellem Hintergrund, der Lebensweise oder gar Moral des Toten unterschieden wurde.

Sind wir im Tod nicht alle gleich?, hatte ich mich gefragt und diese Frage später häufiger mit Sinje erörtert. Stand es Menschen wirklich zu, zu urteilen und zu kategorisieren, zu bestimmen, dass einer, der Suizid begangen hatte, es nicht wert war, anständig begraben und verabschiedet zu werden?

Während der starke Wind mir Tränen in die Augen treibt, sehe ich plötzlich einen Schmetterling, der vor mir hin und her tanzt und stolz sein farbenfrohes Flügelkleid präsentiert. Schmetterlinge im Herbst sind ein eher seltener, kostbarer Anblick, und so bewundere ich das bildschöne Tagpfauenauge und versuche, den tänzelnden Flugbahnen des Edelfalters zu folgen.

Irgendwann lässt er sich auf einem kleinen Hügel nieder, den man nur erkennt, wenn man sehr genau hinschaut. Und ich schaue sehr genau hin, weil ich weiß, dass Schmetterlinge Symbole für Verwandlung und die Unsterblichkeit der Seele sind.

Weist dieser farbenprächtige Falter mir etwa gerade den Weg zu meinem Vorfahren Fokke van Hove?

Ich bleibe wie angewurzelt stehen, obgleich mir kalt ist und ich am ganzen Körper zittere. Doch ich kann nicht anders, ich muss so lange hier sein, wie auch das Tagpfauenauge sich entschließt, auf diesem Hügel zu verweilen.

Später weiß ich nicht, ob es Minuten waren oder Stunden, die ich an diesem mystischen Ort verbracht habe, doch irgendwann erhebt sich der Schmetterling und ist dann so schnell verschwunden, wie er gekommen ist. Ich versuche, ihm hinterherzuschauen, doch es gelingt mir nicht, und so lasse ich ihn ziehen, dankbar für dieses kleine Wunder, das ich gerade erleben durfte.

Und plötzlich weiß ich, worum ich Falk bitten werde, wenn wir einander zum ersten Mal als Vater und Tochter gegenüberstehen, und fange an zu rennen, weil es Zeit für das Abendessen mit Henrikje und meiner Mutter ist.