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D er Dienstagmorgen schickt warme, goldene Sonnenstrahlen in meine Wohnung unter dem Dach, und ich stelle fest, dass meine Mutter und ich gemeinsam auf der breiten Couch eingeschlafen sind. Wann und wie genau das passiert ist, weiß ich nicht mehr, denn wir haben stundenlang geredet, bis sich Nacht und Tag miteinander verwoben haben.

Florence hat mir alles über die Liebe zwischen ihr und meinem Vater erzählt, und ich habe das Gefühl, dass sie genauso schön, intensiv und leidenschaftlich war wie meine Liebe zu Jonas. Falk hat versucht, ihre seelische Krankheit zu heilen, er war immer für sie da, wenn sie ihn brauchte, erzählte sie. Und auch dass sie schon als Kind häufig heimlich ausgebüxt war und sich zu den seltsamsten Uhrzeiten mit ihrem Bruder in der Höhle getroffen hatte. Im Alter von sieben Jahren hatte sie in ihm Birk Borkasohn, den besten Freund von Ronja Räubertochter, gesehen, eine unschuldige, reine Form der Anziehung, die sich später in Verliebtheit wandelte und schließlich zur Liebe erblühte. Florence schilderte die gemeinsamen Jahre, in denen sie und Falk von Seelenverwandten zu einem Liebespaar geworden waren, so anrührend, dass ich das Gefühl habe, ein Teil dieser Geschichte zu sein, die wirkt, als sei sie aus Zeit und Raum gefallen, und damit märchenhaft. Dass Märchen zuweilen grausam enden, ist bekannt, und es schmerzt mich zu wissen, dass es den beiden nicht vergönnt war, miteinander glücklich zu sein.

»Dein Vater hat mir in vielerlei Hinsicht mehrmals das Leben gerettet«, waren ihre letzten Worte gewesen, bevor ihr Kopf auf meine Schulter sank und sie erschöpft eingeschlafen war.

Zunächst saß ich reglos da, um sie nicht zu stören, und ließ ihre Erzählungen Revue passieren.

Als sie mir sagte, dass Falk und sie sich später statt in der Räuberhöhle in der Kapitänsvilla am Waldrand getroffen hatten, beschlich mich mit einem Mal der Verdacht, dass meine Vermutung richtig war und Falk vor allem deshalb so interessiert an dem alten Haus war, weil es für ihn die Liebe zu Florence symbolisierte, genau wie der Wald.

Aber weshalb war er erst in diesem Jahr bereit, die Spukvilla zu kaufen, und nicht schon nach dem Tod der alten Eevke Ketelsen?

Hatte er womöglich ebenfalls Angst vor den Gespenstern der Vergangenheit gehabt, und das in mehrerlei Hinsicht?

Doch ich fand keine Antwort auf diese Fragen, sondern war stattdessen auch eingenickt.

Das Klingeln meines Handys durchbricht die Stille und weckt meine Mutter, die sich verschlafen die Augen reibt.

»Was …? Wie …?«, fragt sie und schaut sich verwundert um. Ich würde ihr gern einen Kaffee kochen, aber der Anruf ist von Jonas, und ich kann es kaum erwarten, ihn endlich zu sprechen.

Ich deute auf das Telefon, meine Lippen formen den Namen Jonas, damit Florence Bescheid weiß, wer anruft, dann nehme ich das Handy mit ins Schlafzimmer, damit ich ungestört telefonieren kann. Doch meine Mutter ist feinfühlig wie immer und verlässt die Wohnung.

Als Jonas fragt: »Wie geht’s dir?«, erzähle ich ihm, ohne Luft zu holen, was in den letzten Stunden passiert ist.

Es tut unendlich gut, seine Stimme zu hören und zu wissen, dass er großen Anteil daran nimmt, was ich gerade erfahren habe.

»Falk ist dein Vater?« Jonas klingt verblüfft. »Und er hat dich für heute Abend zu sich zum Essen eingeladen? Na, das ist ja der Knaller des Tages«, sagt er und schweigt dann einen Moment. Doch trotz dieses Schweigens fühle ich, wie nah wir einander sind, egal, wie viele Kilometer uns trennen. Dieses unsichtbare Band zwischen uns ist da und wird hoffentlich niemals reißen. »Ich … ich kann das gar nicht glauben und muss diese Neuigkeit erst mal verdauen«, stammelt Jonas. »Wenn du magst, versuche ich, mir schon ein bisschen früher freizunehmen und am Donnerstag nach Lütteby zu kommen, dann kannst du mir alles in Ruhe erzählen. Momentan ist es nämlich nicht ganz einfach, dir zu folgen, doch das würde ich gern, damit ich alles richtig verstehe. Du glaubst gar nicht, wie sehr ich mich gerade darüber ärgere, dass ich nicht bei dir bin, du musst ja völlig erschöpft sein. Doch ich wünschte mir, dass du dich auf etwas Schönes konzentrieren und vielleicht sogar ein bisschen mit den Hochzeitsplanungen befassen könntest. Wenn es nach mir ginge, würden wir eher heute als morgen heiraten.«

Nachdem dieses Thema für mich angesichts der neuerlichen Enthüllungen über die Geheimnisse meiner Familie weit in die Ferne gerückt war, steht es nun umso deutlicher vor mir. Diese Verbindung wäre ein Zeichen für die Liebe, ein Signal dafür, dass große Gefühle Schranken überwinden und Menschen zusammenbringen können, egal, wie hoch die Hürden und Hindernisse sein mögen. Und natürlich äußerst romantisch.

»Ja, das wäre schön«, flüstere ich, obgleich ich von einer sonnigen Hochzeit am Strand geträumt habe.

Doch ist es nicht völlig egal, wie das Wetter ist und wo man feiert, wenn man den Bund fürs Leben mit demjenigen schließt, den man über alles liebt? Man sieht am Beispiel von Henrikje und Thorsten, aber auch von Florence und Falk, dass die Liebe ein kostbares, äußerst zerbrechliches Gut ist, und dass man die gemeinsame Zeit nutzen sollte.

»Dann lass uns so bald wie möglich heiraten«, erwidert Jonas. »Aber auch das besprechen wir, wenn ich da bin. Ich liebe dich, Lina, weißt du das? Und ich kann es kaum erwarten, endlich wieder bei dir zu sein und dich so nahe zu spüren wie nur irgend möglich.«

Ich sage: »Ich liebe dich auch«, und weiß in diesem Moment, dass alles gut ist. Zwar liegt noch eine Wegstrecke vor mir, aber die werde ich auch bewältigen. Immerhin geht gerade ein Traum in Erfüllung: Meine Mutter ist wieder da, wir haben uns ausgesöhnt, und ich weiß jetzt auch, wer mein Vater ist.

Und ich werde den Mann heiraten, den ich über alles liebe.

Hätte mir jemand zu Beginn dieses aufregenden und hochemotionalen Jahres prophezeit, was alles passieren würde, ich hätte ihm nicht geglaubt.

Nachdem wir schweren Herzens das Telefonat beendet haben, gehe ich in Richtung Küche, um mir einen Tee zu kochen. Dabei fällt mein Blick auf die Kiste mit Erinnerungsstücken, die auf der Kommode im Flur steht. Ich hatte sie herausgekramt, weil ich dort die Austernschalenkerze aufbewahre, die ich als Prototyp für die Exemplare nehmen wollte, die Henrikje und Anka demnächst im Lädchen verkaufen werden. Als ich die schöne, grau-weiße Schale herausnehme, kommt mir erneut Henrikjes Beschreibung der Verschlossenheit meiner Mutter in den Sinn, und ich rechne es ihr mehr als hoch an, dass sie tatsächlich mit Falk van Hove gesprochen und mir heute Nacht alles über die geheime Liebe der beiden erzählt hat. Meine Finger fahren über die raue, wellige Auster, dann ertaste ich in der Kiste den Holzrahmen des dritten Fotos, das Florence und mich vor dem Leuchtturm von Lütteby zeigt.

Bislang habe ich es nicht übers Herz gebracht, es aus der Kiste zu nehmen, doch jetzt ist endlich der Moment gekommen, unser Bild aufzustellen. »Du bekommst den Ehrenplatz auf dem Beistelltisch neben meinem Lesesessel«, murmle ich und säubere mit dem Ärmel meines Pullovers die Glasscheibe, die die Fotografie schützt. »Lesen und meine Mutter, das passt wunderbar zusammen.« Auf dem Tischchen liegt ein Roman der italienischen Autorin Elena Ferrante mit dem Titel Frau im Dunkeln . Florence hatte ihn mir geschenkt, weil es in diesem Buch um das zuweilen komplizierte Verhältnis zwischen Müttern und Töchtern geht und die Zerrissenheit von Frauen zwischen der Mutterrolle und den eigenen Bedürfnissen. Man kann allerdings nicht nur in Bezug auf Familie und eigene Wünsche im Zwiespalt sein, sondern auch in Fragen der Liebe und partnerschaftlichen Beziehungen.

Es ist jetzt noch nicht an der Zeit, doch irgendwann werde ich Henrikje fragen, wieso sie nach Paris gegangen ist, wenn sie Thorsten wirklich so sehr geliebt hat, wohl wissend, dass er sicher nicht ewig auf sie warten würde. Und ich würde gern erfahren, ob sie ihn immer noch liebt und wie es nach Irmels Tod um die beiden bestellt ist.

Dasselbe gilt natürlich auch für meine Mutter und Falk, allerdings haben die beiden fünfunddreißig Jahre lang nicht miteinander gesprochen, sich nicht gesehen und zudem beide merklich verändert.

Eine Stunde vor dem Abendessen bei meinem Vater radle ich zum Grotersumer Koog, denn Falk van Hoves Haus liegt unweit seiner Marina hinter dem Deich. Ich wusste bislang nicht, wo er wohnt, und bin natürlich mächtig gespannt auf sein Zuhause.

Bevor ich losgefahren bin, habe ich noch kurz bei Sinje vorbeigeschaut, sie auf den neuesten Stand gebracht und mich mit ihr für den morgigen Abend verabredet. Wir wollen uns einen schönen Mädelsabend bei Chez Amelie machen und neue Weine testen, die Sommelier Pascal auf die Karte setzen möchte. Amelie wird auch dazukommen, sobald sie mit dem Backen und der Kassenabrechnung fertig ist, wir haben uns schon viel zu lange nicht mehr zu dritt getroffen.

Obwohl es mir schwerfiel, meinen Plan nicht auszuplaudern, habe ich mich beherrscht und hoffe, dass ich morgen gute Neuigkeiten für Sinje habe …

Gespannt auf das Treffen mit Falk, fahre ich die geteerte Strecke parallel zum Deich entlang, froh darüber, dass es für einen Herbstabend angenehm mild und trocken ist. Es dämmert, Kaninchen queren den Weg und verschwinden flink zwischen den Grashalmen. Bald kommt auf der Deichkrone eine Bank in Sichtweite, links von mir erstrecken sich Felder, in deren Pfützen Wildgänse trinken und später nach Futter picken. Es riecht nach Nordsee, Algen, Schlick und Herbst. Ich genieße die wohltuende Ruhe und kann gut verstehen, dass Falk van Hove sich diesen versteckten Landstrich ausgesucht hat. So schön die Giebelhäuser am Marktplatz von Lütteby auch sind, so trubelig ist es dort oft, besonders in der Hochsaison, wenn sich die Touristen durch die Gassen schieben und alles fotografieren, was ihnen vor die Linse kommt, deshalb vermisse ich manchmal Ruhe und Stille. Hierher verirren sich vermutlich nur wenige, denn es führt keine reguläre Straße zum Deich, lediglich ein Wirtschaftsweg, an dessen Anfang ein Schild mit der Aufschrift »Privat« steht. Ich war sehr überrascht, als Isabella Schmidt mir die Wegbeschreibung durchgegeben hat, denn ich hatte vermutet, dass Falk entweder in einem der neuen Häuser mit Penthouse und Dachterrasse an der Lillebek wohnt oder in einem der prunkvollen alten Giebelhäuser unweit des Rathauses des Ortes Grotersum, den wir als Kinder Gotham City genannt haben, weshalb Falk nach seinem Amtsantritt als Bürgermeister den Beinamen The Joker erhielt.

Mal sehen, welche Seite seines Wesens mir Falk van Hove gleich präsentiert, denke ich mit gemischten Gefühlen.

Nur wenige Minuten später erreiche ich eine Reetdachkate, die kaum einfacher und bescheidener sein könnte. Ich halte an und checke verwundert den Standort, den Bella mir online aufs Handy geschickt hat. Doch er stimmt mit dem alten Friesenhaus überein, also bin ich hier wohl richtig. Den Rest des Weges bis zum einfachen Gatter im Friesenwall schiebe ich das Fahrrad. Dann lehne ich es an die alte Steinmauer, die mit Efeu und weißer Heide bewachsen ist, durchsetzt mit den bräunlichen Hagebuttenfrüchten der friesischen Heckenrosen. Vereinzelt finden sich im Gestrüpp sogar noch vertrocknete Blüten in Weiß und Rosa, im Sommer blüht und duftet es hier bestimmt wundervoll.

Aufgeregt und ziemlich neugierig drücke ich die Klingel, an der kein Name steht, und rechne beinahe damit, dass mir eine Haushälterin oder ein livrierter Diener öffnet und sagt, dass der eigentliche Wohnsitz des Herrn Bürgermeisters hinter dem Reetdachhaus liegt und hier nur das Personal wohnt. Doch es ist Falk selbst, der aus der typisch friesischen, zweigeteilten Klönschnacktür tritt, die Pforte des Gatters öffnet und »Hallo« sagt. Ich erwidere seinen Gruß und folge ihm ins Innere seines Zuhauses. Falk nimmt mir formvollendet die wattierte Daunenjacke ab und hängt sie an die schlichte Garderobe im Eingangsbereich der Kate.

»Schön, dass Sie da sind. Das Essen ist so gut wie fertig, ich hoffe, Sie haben Hunger. Wenn Sie mögen, gehen Sie gern schon mal in die Stuv, ich komme gleich nach.«

Wie in Trance betrete ich das Herzstück des alten Friesenhauses, Wohn- und Esszimmer zugleich. Mein Blick fällt sofort auf den Kachelofen mit den blau-weiß gemusterten Fliesen, die an die berühmten Vorbilder aus Delft erinnern. Die Motive sind allesamt maritim: Segelschiffe, Wellhornschnecken, Muscheln, Anker, ein Leuchtturm und vieles mehr, das sich gut auf Postkarten machen würde. Diese Fliesen sind alt, einige von ihnen haben Risse, die Farben sind etwas verblasst. Der Ofen verströmt wohltuende Wärme, aus der Küche höre ich Klappern und ein Geräusch, das klingt, als würde jemand eine Weinflasche entkorken. Ich schaue mich weiter in dem urgemütlichen Raum um, der mir allerdings wie eine Kulisse erscheint. Ich warte fast schon auf den Moment, in dem Falk van Hove, korrekt mit Anzug und Krawatte bekleidet, in die Stuv kommt und sagt: »War alles ein Scherz, ich wollte nur sehen, wie Sie reagieren.«

Doch er trägt eine Jeans und einen dunkelblauen Troyer aus Wolle, was ihn zehn Jahre jünger macht, wie ich feststelle, als er aus der Küche kommt und mir zwei Weinflaschen zeigt. »Ich hätte weißen Sölviin im Angebot, also Wein von Sylt, oder Waalem Kul von Föhr. Rotwein gibt’s nicht aus nordfriesischem Anbau, aber ich hätte einen hervorragenden aus Apulien, einer Region, die wir ja beide gleichermaßen lieben. Oder wäre Ihnen etwas Alkoholfreies lieber, ich will Sie schließlich zu nichts verführen, was Sie nicht wollen.«

»Sosehr ich sonst Weißwein mag, heute ist mir mehr nach einem guten Roten«, erwidere ich, erstaunt darüber, dass er offenbar Wert auf regionale Produkte legt.

Falk lächelt und holt zwei Rotweingläser aus einem alten Schrank mit ziselierten Glastüren. »Ist ja auch ein bisschen kühl heute, Weißwein passt eindeutig besser zu einer lauen Sommernacht am Meer. Ist es eigentlich in Ordnung für Sie, wenn ich Sie erst mal weiter sieze?«

»Sie meinen, bis ein Vaterschaftstest beweist, ob wir wirklich miteinander verwandt sind oder nicht?«, rutscht es mir heraus, obwohl ich das gar nicht sagen wollte und vor dieser spontanen Bemerkung nicht einen einzigen Gedanken an eine derartige Möglichkeit verschwendet hatte.