Herbst vor fünfunddreißig Jahren

Nach einem romantischen Treffen mit Florence in der Spukvilla schlich sich Falk van Hove heimlich in sein Elternhaus, eines der schönsten und größten Gebäude Grotersums. Er war noch lange nicht volljährig, sein achtzehnter Geburtstag war in wenigen Tagen, ausgerechnet am 11 . Oktober und damit am Jahrestag der verheerenden Sturmflut, die 1634 unendlich viel Leid über die Bewohner der Nordseeküste gebracht hatte außer über die Lüttebyer. Bis er einundzwanzig Jahre alt wurde, hatte Falk seinem Vater Ralf zu gehorchen, der streng, engstirnig und zuweilen cholerisch war und darauf bestand, dass alles nach seinem Plan lief. Aus diesem Grund überwachte er Falks Zensuren mit Argusaugen und war erst zufrieden, als dieser sein Abitur mit Bestnote abgeschlossen und den Studienplatz an einer Eliteuniversität in den USA erhalten hatte. Falk würde kurz nach seinem Geburtstag nach Amerika fliegen, um dort zu studieren und nebenbei Praktika zu machen. Dies alles diente dem alleinigen Zweck, den Reichtum und die Macht der Familie van Hove zu bewahren, und, wenn möglich, zu vermehren. Falk freute sich einerseits auf das große Abenteuer, konnte sich aber andererseits ein Leben ohne Florence nicht vorstellen. Auch jetzt spürte er immer noch die unglaubliche Wärme, die von ihrer samtenen Haut ausging, und den köstlichen Geschmack ihrer zärtlichen Küsse.

In dieser Nacht hatte er ihr endlich gesagt, dass ihnen beiden nicht mehr viel Zeit blieb, bevor er ins Ausland gehen würde. Florence hatte gefasst reagiert, lediglich einmal geseufzt und ihn dann ermutigt, seinen Traum zu leben, weil sie seinem Glück nicht im Weg stehen wollte. »Ich möchte auch reisen und werde dich besuchen, sobald ich das Geld für ein Flugticket zusammenhabe«, hatte sie gesagt und nichts davon wissen wollen, dass er es ihr schenken würde. Sie wusste, dass Ralf van Hove seinen Sohn knapp hielt, er sollte sich dessen bewusst sein, wie schwer es war, Geld zu verdienen, und nicht so verwöhnt aufwachsen wie einige Kinder anderer wohlhabender Familien. Falk ging die Treppe zu seinem Zimmer im ersten Stock hinauf, sorgsam darauf bedacht, nicht auf die Stufe zu treten, die stets verräterisch knarzte. Als er das Licht anknipste, sah er, dass sein Vater da gewesen war, denn auf dem Bett lag nun ein Zeitungsartikel, der nicht dort gelegen hatte, als er zu seiner Verabredung mit Florence aufgebrochen war. Auf dem Artikel hatte Ralf mit einer Büroklammer eine Notiz befestigt, auf der stand: »Ich kann dich nur warnen: Setz das Vermögen und das Ansehen deiner Familie nicht für eine Unwürdige aus Lütteby aufs Spiel!«

Falk rutschte augenblicklich das Herz in die Hose, wenngleich er sonst nicht ängstlich war und auch nicht vor seinem Vater kuschte. Doch woher wusste dieser von Florence?

Falks Herz pochte wild, während er überlegte, ob sein Vater nur bluffte oder tatsächlich Bescheid wusste. Schließlich kam er zu dem Ergebnis, dass Ralf ihn hatte beobachten lassen, denn der Patriarch hatte seine Augen und Ohren überall. »Du musst immer über alles informiert sein, damit du der Erste bist«, hatte er seinem Sohn stets eingebläut. »Besser einen Schritt voraus, als hinterherzuhinken, sonst hast du verloren.« Wahrscheinlich ist es gut, wenn ich Grotersum bald verlasse, dachte Falk und überlegte, ob sein Vater auch Florence und womöglich deren Mutter Henrikje drohen würde. Zuzutrauen wäre es ihm, denn Ralf hielt nicht viel von Frauen und fürchtete sogar zuweilen deren Stärke, was seine Ehefrau Lavea schon kurz nach der Geburt von Falk in den Trübsinn getrieben hatte. Falk entfernte den Zettel von dem Artikel, der in der überregionalen Tageszeitung Nordfrieslands anlässlich des gestrigen Geburtstags von Ralf van Hove erschienen war. Er war eine einzige Hymne auf die Geschäftstüchtigkeit der Familie aus Grotersum und ein Abriss über ihre vielfältigen Tätigkeiten:

Das Imperium der van Hoves – eine beispiellose Erfolgsgeschichte

1892 eröffnete die Kaufmannsfamilie van Hove das erste Geschäftshaus mit städtischer Fassade in Grotersum: ein Warenhaus, spezialisiert auf Damen- und Herrenmode, Maßwerkstatt, Hutmacherei und Verkauf von Stoffen.

Aufgrund des Erfolgs und der hohen Umsätze erwarben die van Hoves von da an nach und nach weitere Immobilien, erzielten Einnahmen durch Vermietung, aber auch durch Eröffnungen von Geschäften wie einer Papierwarenhandlung, einem Schuhhaus, einem Fachgeschäft für den Bereich Wohnen, Geschenkartikel und Einrichtung. Zuletzt erfolgte die Übernahme einer traditionellen Konditorei, die dem Imperium hinzugefügt und in ein ganztägig geöffnetes Café-Restaurant verwandelt wurde, damit die Kunden sich nach dem Einkauf stärken und zum Abschluss ein Glas Wein oder Bier trinken konnten – ein absolutes Novum in damaligen Zeiten.

Falk war nicht in der Lage, weiterzulesen, so sehr widerte ihn die kritiklose Berichterstattung an. Da stand nämlich nichts darüber, was aus all diesen Veränderungen resultierte: Den ortsansässigen Einzelhändlern gingen Einnahmen verloren, viele von ihnen mussten ihr Geschäft aufgeben. Um Parkraum für Autos zu schaffen, griff Ralf van Hove in die Struktur des historischen Ortes ein, ließ Häuser abreißen, die nicht unter Denkmalschutz standen, und Bäume fällen. Natürlich entstanden durch die veränderten Gegebenheiten neue Arbeitsplätze, und die Steuereinnahmen stiegen, doch Grotersum verlor nach und nach sein ursprüngliches Gesicht und seinen eigentlichen Charakter, im Gegensatz zu Lütteby, das zwar wirtschaftlich schlechtergestellt war, aber so charmant blieb wie eh und je.

Ich hole Florence nach, sobald ich kann, nahm er sich fest vor, um sie vor dem etwaigen Zugriff seines Vaters zu bewahren. Sie ist neugierig auf die Welt, und ich möchte sie in meiner Nähe haben. Ihre Stimmungsschwankungen bereiteten Falk zunehmend Sorgen, und ihm war nicht wohl dabei, sie nicht regelmäßig sehen zu können. Natürlich wusste er, dass Henrikje Hansen sich rührend um sie kümmerte und nahezu alles unternahm, um ihrer über alles geliebten Tochter die Schwermut und die Traurigkeit zu nehmen. Doch leider war nicht gegen alles ein Kraut gewachsen, und so nahm nicht nur Florence das Leben schwer, sondern auch seine geliebte Mutter, die darunter litt, dass ihr Mann sie mit jungen, naiven Geliebten betrog, die Ralf anhimmelten und sich von ihm unterjochen ließen. Ich wünsche mir eine Liebe auf Augenhöhe und hoffe, dass Florence der Tapetenwechsel guttut, dachte Falk voller Sehnsucht nach einer glücklichen Zukunft. In Amerika wurde Psychotherapie schon sehr früh zur Bekämpfung seelischer Leiden angewandt, so begann zum Beispiel Carl Rogers bereits 1938 mit Gesprächstherapien. Vielleicht gibt es einen Seelenarzt, der Florence heilen oder ihr zumindest helfen kann, war sein letzter Gedanke, bevor er ins Bett ging und von seiner wunderschönen und klugen Geliebten träumte, die er jetzt so gern im Arm gehalten hätte.