A ls ich am Samstagmorgen erwache, brauche ich einen kleinen Moment, um mich zu orientieren.
In den Baumwipfeln über mir raschelt es, Wind kommt auf und treibt die Wattewolken am Himmel vor sich her. Jonas ist offensichtlich schon länger auf den Beinen, denn das Lagerfeuer knistert heimelig, und es duftet nach Kaffee. »Guten Morgen, meine Liebste«, sagt er. »Bist du schon bereit für deinen Tee?« Ich nicke und reibe mir verschlafen die Augen. »Seit wann bist du denn schon auf?«, frage ich, immer noch leicht benommen.
»Seit Falk mir eine Nachricht geschickt und mich gefragt hat, ob wir heute ein bisschen kitesurfen wollen«, entgegnet er und setzt sich zu mir auf den Schlafsack.
»Falk kann kiten?«, frage ich verwundert, weil dieser Sport sehr große Fitness erfordert und mein Vater siebenundfünfzig Jahre alt ist.
»Davon gehe ich mal aus, sonst würde er das sicher nicht vorschlagen«, sagt Jonas grinsend. »Ich würde wirklich gern mit ihm aufs Wasser, heute ist nämlich perfektes Wetter dafür. Die Feier im Lädchen beginnt doch erst um 16 Uhr, oder?«
Ich erwidere: »Ja, das tut sie, aber es ist auch kein Problem, wenn du später dazustößt. Hab Spaß mit Falk und tob dich ein bisschen aus. Wir besprechen dann nachher noch die Menüdetails mit Federico und Chiara, die natürlich auch zur Neueröffnung kommen.«
»Ich liebe dich dafür, dass du so entspannt bist. Nicht jede Frau würde es tolerieren, wenn der künftige Ehemann sich in der Nordsee austobt, anstatt mit ihr alle Details der Hochzeitsplanung durchzugehen.«
»Keine Sorge, damit nerve ich dich allerspätestens morgen, bevor du nach London zurückmusst. Wärmst du mich bitte noch ein bisschen, bevor du dich in die kalten Fluten stürzt?«
»Mit dem größten Vergnügen«, erwidert Jonas und krabbelt zu mir in den Schlafsack.
Gegen 14 Uhr sind Henrikje, Florence, Sinje, Anka und ich im Lädchen verabredet, um letzte Handgriffe für die Wiedereröffnungsfeier vorzunehmen. Diese Gelegenheit möchte ich nutzen, allen von der grandiosen Nachricht zu berichten, dass die Villa nun doch kein Golfhotel wird. Ich entkorke eine Flasche Rosé-Sekt, die ich zuvor besorgt habe, und bin so überdreht, dass ich gar nicht weiß, wie ich anfangen soll. Der herabgefallene Korken kullert auf dem Holzfußboden umher, Sinje hebt ihn auf. »Alles okay mit dir?«, fragt sie amüsiert. »Willst du uns sagen, dass du nun doch zu Jonas nach London ziehst, oder …?«
»Nein, ganz im Gegenteil«, erwidere ich, mein Körper vibriert förmlich vor Freude und Aufregung. »Ich möchte dich fragen, ob du gemeinsam mit mir in die Villa ziehen möchtest, die Falk Jonas und mir zur Hochzeit schenkt, genau wie das Waldstück, das du endlich deinem Wunsch gemäß zum Ruheforst umgestalten lassen kannst.«
Sinje reißt die Augen auf, Florence greift nach meiner Hand, und Henrikje sagt: »Na hoppla.«
»Außerdem möchte ich gern die Toten vom Friedhof der Heimatlosen in den Friedwald umbetten lassen, damit Algea und Fokke endlich im Tode vereint sind und ihre Seelen den verdienten Frieden finden. Ich habe das alles schon mit Falk besprochen, der uns dabei unterstützt, weil auch er sich wünscht, dass die Dinge in unserem zauberhaften Lütteby nach all der langen Zeit endlich wieder in Ordnung kommen.«
»Das hat er wirklich gesagt?«, flüstert Florence mit Tränen in den Augen.
»Veräppelst du uns?«, fragt Sinje ungläubig, und auch Anka sieht aus, als hätte ich gerade etwas völlig Unglaubwürdiges erzählt. Als ich den Kopf schüttle und nochmals deutlich mache, dass Falk seine Pläne geändert und mir die Villa geschenkt hat, gibt es kein Halten mehr. »Das ist so unfassbar wahnsinnig toll, dass ich keine Worte dafür finde«, sagt Sinje und fängt vor Freude an zu weinen. »Und du bist dir wirklich sicher, dass du das Haus nicht für Jonas und dich allein willst?« Das ist die perfekte Gelegenheit, Sinje von Falks Theorie zu erzählen, die besagt, dass die Wahrsagerin damals uns beide gemeint hat, als sie von Sinjes großer Liebe und dem Glück, das sie in der Villa finden würde, sprach. Henrikje steht schmunzelnd daneben, und Anka sagt: »Wo der Mann recht hat, hat er recht. Aber ich sage euch gleich, dass ich ihm seinen neuen Schmusekurs erst abkaufe, wenn er künftig nachhaltig unter Beweis stellt, dass er erst mal nachdenkt, bevor er hier in Lütteby die Dinge auf den Kopf stellt. Versprich mir, Lina, dass du trotzdem immer Tacheles mit ihm redest und ihm nichts durchgehen lässt, was unserer Gemeinschaft schaden könnte.«
Ich verspreche es hoch und heilig, und mit einem Mal reden alle durcheinander.
Keine von uns achtet mehr darauf, ob die Waren auch wirklich perfekt präsentiert sind, ob frisches Wasser in der Blumenvase ist oder ob noch eine kleine Schliere am Schaufenster entfernt werden müsste. Sinje kreischt vor Freude, nachdem sie ihre Tränen getrocknet hat, richtet im Geiste schon ihr Zimmer ein und ist kurz davor, den Förster anzurufen und mit ihm ein Meeting für die Planung des Ruheforstes zu vereinbaren. »Was herrscht denn hier für ein Tumult?«, fragt Michaela, die irgendwann mit einem Tablett selbst gebackener Zimtschnecken durch die Tür kommt, gefolgt von Amelie, Kai, seiner Frau Petra und Tochter Laura. Binnen Sekunden füllt sich das Lädchen mit den Marktplätzlern, Thorsten und Rantje, und sogar Fiete Ingwersen ist Henrikjes Einladung gefolgt. Er hält deutlichen Abstand zu Thorsten, aber ich weiß ja jetzt, wieso. Ich hoffe sehr, dass die Animositäten zwischen den beiden wegen der verstorbenen Irmel sich irgendwann beilegen lassen. Doch das wird – oder es wird nicht. »Die Zukunft macht, was sie will, besser, man stemmt sich nicht gegen sie«, lautet Henrikjes Wahlspruch, und sie hat recht damit, wie ich in all den Jahren erfahren und gelernt habe. Die Zeit verfliegt im Nu, draußen dämmert es bereits, und irgendwann schaue ich auf die Uhr. Es ist kurz vor sieben, und von Jonas fehlt weit und breit jede Spur, was mich ein wenig wundert. Mittlerweile hat der Wind deutlich an Stärke gewonnen, dicke Regentropfen klatschen auf das Kopfsteinpflaster des Marktplatzes, und ich verziehe mich in Henrikjes Hinterzimmer, um zu checken, ob Jonas mir eine Nachricht geschickt hat, doch da ist keine.
Seltsam!
Natürlich habe ich ihm gesagt, dass er sich nicht zu beeilen braucht, aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass er um diese Zeit und vor allem bei dem schlechten Wetter noch kitet. Mit einem Mal erfasst mich eine Angst, die ich mir kaum erklären kann, weil es tausend mögliche Gründe für sein Fernbleiben gibt. Die plötzliche Sorge um Jonas schnürt mir die Brust zu, und ich öffne das Fenster zum Garten, um frei atmen zu können. Ich versuche mit aller Macht, den Gedanken, dass es den Hansen-Frauen nicht vergönnt ist, eine glückliche Liebe zu leben, zu verdrängen. Doch dann kommt mir der traurige Gesang des Käuzchens von gestern Nacht in den Sinn, diese Vögel sind Vorboten des Todes … Voller Angst wähle ich die Handynummer von Jonas, aber ich erreiche nur die Mailbox und spreche eine Nachricht darauf.
Dann lehne ich mich aus dem Fenster, ungeachtet dessen, dass ich nass werde, und spüre, wie mich Panik erfasst, ähnlich wie an dem Abend, als ich mit der Florence in den Seenebel geraten bin. Das Nächste, was ich wahrnehme, ist Abraxas, der wie aus dem Nichts herangeflogen kommt und sich auf die Fensterbank setzt. Der Seelenvogel kommt zu allen Lüttebyern, die Trost und Zuwendung brauchen, denke ich beklommen und weiß in dem Moment, dass Jonas etwas zugestoßen ist. Als plötzlich Henrikje und Florence ins Zimmer kommen und Henrikje mich in den Arm nimmt, habe ich traurige Gewissheit. »Jonas hatte einen schweren Kite-Unfall«, sagt Florence leise. »Die Safety Leash hat sich nicht gelöst, als sich die Leinen seines Segels verheddert haben. Es tut mir so unendlich leid, Liebes …«