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Jerusalem, 27. September 1142

 

Niemand, dachte Bertrand de Lacoste, durfte dieses Buch jemals in die Finger bekommen. Höchstens die Eingeweihten. Die höchsten Kreise. Und nicht einmal die dürften es lesen. Es müsste in den finstersten und geheimsten Abgründen für alle Ewigkeit versteckt bleiben.

Er wickelte das kaum verzierte Buch in eine unauffällige Flickendecke, steckte es dann in eine schlichte Kiste, die er abschloss, und packte die Kiste wiederum in eine größere, in der sich diverse Papiere befanden, die in Kürze in die Provence verschifft werden sollten. Draußen hallte das Geräusch von Hämmern und Sägen über den Tempelberg, der an diesem Morgen von einer gnadenlosen Sonne bestrahlt wurde. Es liefen noch einige Restarbeiten am Westflügel der Al-Aqsa-Moschee. König Balduin II . hatte sie den »Armen Rittern Christi und des Tempels von Salomon zu Jerusalem« zur Verfügung gestellt. Bertrand gehörte dem Templerorden schon seit einigen Jahren an.

Er seufzte, schloss dann die Kiste, klopfte mit den Fingerknöcheln auf das Holz und bekreuzigte sich. Es war seiner Meinung nach schlimm, dass das Buch überhaupt existierte. Die beiden Schreiber, die das Original transkribiert hatten, waren bei der Arbeit fast verrückt geworden und hatten fortlaufend gebetet. Unter Androhung von harten Strafen war ihnen Stillschweigen abgerungen worden. Aber sie waren Ordensbrüder. Von daher musste man sich keine Sorgen machen.

Die Entscheidung, den Inhalt der uralten Papyri zu sichern, hatte der Großmeister Robert de Craon selbst getroffen. Er hatte gerade erst durchgesetzt, dass die Regeln der Templer ins Französische übersetzt wurden, damit die nicht Latein sprechenden Ritter den Kodex lesen konnten. Darin hieß es auch, dass niemand im Orden nach seinem eigenen Willen kämpfen oder ruhen, sondern sich dem Befehl des Meisters unterwerfen solle, um dem Wort des Herrn nachzueifern, das besagt: »Ich bin nicht gekommen, meinen Willen zu tun, sondern dessen, der mich gesandt hat.« Folglich spielte es keine Rolle, ob Bertrand de Lacoste die Abschrift für einen Fehler hielt. Die Entscheidung war an höherer Stelle getroffen worden. Er hatte sich dem zu beugen.

Wenigstens hatte Bertrand de Lacoste durchgesetzt, dass die Abschrift nicht in Französisch oder Latein verfasst worden war – um sicherzustellen, dass niemand außerhalb des Ordens jemals in der Lage wäre, den Inhalt des Buches zu lesen. Über alles andere hatte der Großmeister nicht debattiert. Und eines musste man ihm lassen, dachte Bertrand und blickte aus dem Fenster: Seine Entscheidung war durchaus eine salomonische gewesen.

Robert de Craon hatte gesagt: »Wäre es nicht der Wunsch Gottes, würde es diese Papyri überhaupt nicht geben. Wir als seine Ritter werden den Willen des Herrn nicht hinterfragen, sondern ihn schützen, denn nicht ohne Grund sind diese Schriftrollen zu uns gelangt. Also werden wir sie einerseits für alle Ewigkeit sichern, damit sie niemals in die falschen Hände gelangen. Gleichzeitig werden wir gewährleisten, dass der Inhalt in unserem Gewahrsam überdauert, und ihn außer Landes schaffen.«

Und genau das würde nun geschehen. Die Templer verfügten über ein weitverzweigtes Netzwerk. Der Orden war einerseits gegründet worden, um den Heiligen Berg zu schützen, auf dem der Tempel Salomons und später der Tempel des Herodes gestanden hatte. Auf dessen Überresten war die Moschee kurz nach der Fertigstellung des Felsendoms gebaut worden. Die wesentliche Aufgabe des Ordens war aber der Schutz der Pilger nach Jerusalem. Gleichzeitig finanzierten die Einkünfte aus den Komtureien in Europa den Kampf im Heiligen Land, weswegen das Geld von dort regelmäßig in die Schatzkammern nach Outremer, nach Übersee, transportiert werden musste. Gelegentlich verliehen die Templer Geld, denn der Orden war sehr reich, und wie sich herausstellte, war mit dem Verleihen noch mehr Geld zu verdienen, das wiederum für den Kampf in Palästina zur Verfügung stand.

Der Reichtum der Templer war überall im Heiligen Land bekannt – und die Tatsache, dass es sich bei dem Ritterorden um einen geistlichen handelte, sozusagen um Mönche mit Schwertern und einem großen Interesse an Wissen und Weisheit. Da sie auf dem Tempelberg schalten und walten konnten, wie sie wollten, und ohnehin mit Bauarbeiten beschäftigt waren, wurde die heilige Stätte ausgiebig erkundet. Die Bundeslade sollte hier versteckt sein – und vieles mehr. Alles, was die Ritter dabei fanden, sicherten und archivierten sie und kauften außerdem an, was ihnen im Heiligen Land an außergewöhnlichen Dingen angeboten wurde.

So war es gekommen, dass an einem Wochenanfang vor drei Jahren ein unscheinbarer Mann um Einlass gebeten hatte, was nicht allzu leicht war. Dennoch hatte er sich durchgesetzt und schließlich bei Bertrand de Lacoste und Hugo de Avignon vorgesprochen. Der kleine Mann trug schlichte Kleidung und hatte einen Bart. Er stellte sich als Landwirt vor und war vier Tage lang nach Jerusalem gereist. Er hatte seinen Esel dabei, der mit diversen Taschen bepackt war, und diese Taschen waren wiederum mit länglichen Gefäßen gefüllt, in denen sich Schriftrollen befanden – uralte Papyri und Pergamente sowie einige Tontafeln. Der Mann erklärte, dass einer seiner Hirten sie in Höhlen gefunden habe und er überhaupt nichts damit anfangen könne. Gleichwohl sei er der Meinung, dass die Schriftrollen sehr alt seien und womöglich von Interesse, weswegen er sie zum Kauf anbiete.

Hugo de Avignon galt als ein an der Geschichte des Orients interessierter Ordensbruder. Wann immer es ihm möglich war, ritt er aus und besuchte Ruinen und uralte Städte. Außer Latein sprach er fließend Griechisch und hatte sich von Eingeweihten aus Ägypten und Palästina in noch viel ältere Sprachen einweisen lassen, sogar in Zeichenschriften. Deswegen erkannte er auf den Tontafeln eine Keilschrift aus den Zeiten der babylonischen oder persischen Großreiche, während die erstaunlich gut erhaltenen Papyri und Pergamente wiederum in Altgriechisch verfasst worden waren. Hugo de Avignon hatte Bertrand de Lacoste einen bedeutungsvollen Blick zugeworfen, und Bertrand hatte nicht lange gezögert. Der kleine Mann hatte daraufhin die Satteltaschen geleert, sie anschließend mit einigen Säckchen voller Goldmünzen wieder gefüllt und war mit einem seligen Lächeln von dannen gezogen.

Hugo hatte zwei weitere sachkundige Ordensbrüder hinzugezogen, um sich die Schriften und Tontafeln genauer anzusehen. Er war davon überzeugt, dass es sich um alttestamentarische Texte handelte und die Tontafeln die Originale sein könnten, auf denen die mitgelieferten Abschriften auf Pergament und Papyrus basierten.

Bertrand erinnerte sich noch gut an den Abend, als er am Fenster stand und in den Sternenhimmel blickte. Er hörte schnelle Schritte in der Halle. Dann hämmerte es an der Tür. Noch bevor er den Besucher hereinbitten konnte, wurde die Tür schon aufgerissen. Einen Augenblick später stand Hugo de Avignon im Raum. Sein Gesicht war vom Licht der kleinen Fackel erhellt, die er in seiner Rechten trug. Nur ein einziges Mal in seinem Leben hatte Bertrand de Lacoste einen solchen Blick gesehen – damals in den Augen seines Knappen, als sie unweit der Stadt eine Stelle in einer Schlucht aufgesucht hatten, in der Räuber zwei Handvoll Pilger getötet hatten, deren zerstückelte, von Tieren ausgeweidete Leichen in der Sonne verwesten.

»Ich weiß, was es ist«, hatte de Avignon mit heiserer Stimme geflüstert und sich mit der freien Hand bekreuzigt. Er hatte es Bertrand erzählt, woraufhin sich beide entschlossen hatten, unverzüglich mit dem Großmeister zu reden.

Drei Jahre hatte es nun gedauert, die Texte ins Lateinische zu übersetzen und das Lateinische wiederum in die Geheimschrift zu codieren, die die Templer für hochsensible Dokumente nach einem von Hugo de Avignon ersonnenen System verwendeten. Die lateinischen Übersetzungen waren im Anschluss an die Transkription verbrannt worden. Die Originale waren tief in den von zahllosen Gängen und Höhlen durchzogenen Tempelberg unterhalb der Moschee gebracht und dort in einer mit Felsen verschlossenen Kammer versteckt worden, damit sie niemand finden würde.

Jetzt drehte sich Bertrand herum, als zwei Ritter hereinkamen. Er zeigte auf die Kiste, und die Ritter wiederum bedeuteten vier Knappen, die Kiste auf den Wagen zu laden, der draußen hielt. Er würde rund drei Tage bis zur Küste nach Aschdod benötigen, wo es einen von einer Kreuzfahrerburg gesicherten Hafen gab. Von dort aus würde ein kleines Schiff die Kiste entlang der Küste zum weitaus größeren Hafen nach Akkon bringen, wo sie mitsamt anderen Gütern verladen und nach Marseille gebracht werden sollte. Von dort aus ging es tiefer in das Land nach Arles, dann nach Avignon und von dort aus in eine der gut gesicherten Festungen des Ordens.

Wenig später setzte sich der Karren in Bewegung. Die Ritter in der weißen Kleidung mit dem großen roten Tatzenkreuz eskortierten ihn vom Platz vor der Moschee hinab in die Straßen von Jerusalem.

Sie eskortierten das Buch, das es niemals hätte geben dürfen, dachte Bertrand de Lacoste und zitterte trotz der unerträglichen Hitze.