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Nachdem sie aus dem Streifenwagen ausgestiegen waren, nahm Albin Tyson an die Leine. Die Straße war abgesperrt. Aber es konnte sowieso niemand dort entlangfahren, weil alles voller Fahrzeuge stand – Autos von der Polizei, der Spurensicherung …

Und wieder ein Weinfeld, dachte Albin. Er blieb einen Moment stehen, verschaffte sich einen Überblick. Er sah einen R4, der mitten im Feld stand und eine Schneise in die abgeernteten Rebstöcke gefräst hatte. Auf der Straße und im Feld waren Kollegen von der Spurensicherung in ihren faserfreien Overalls bei der Arbeit. In Nähe des Renaults erkannte Albin Castel und Theroux, die sich irgendetwas am Boden ansahen. Albin ging dorthin, grüßte auf dem Weg einige ihm bekannte Polizisten. Niemand machte Anstalten, ihn aufzuhalten oder sich ihm in den Weg zu stellen – schließlich war er in einem Streifenwagen vorgefahren. Da zweifelte sicherlich niemand daran, dass seine Mission offiziell war.

Bis auf Castel und Theroux, die es besser wissen würden und nun zu ihm aufblickten. Theroux warf die Hände in die Luft und schüttelte fassungslos den Kopf. Castel stemmte die Hände in die Hüften, blickte einmal nach unten, wie um sich zu sammeln, sah dann wieder zu Albin, der sich seinen Weg bis zum Autowrack bahnte und darauf achtgab, dass er allen Markierungen der Spurensicherung auswich.

Und schließlich sah er es.

Die Leiche, den Mönch.

Die Kutte war unverwechselbar, außerdem seine Frisur. Er mochte um die sechzig Jahre alt sein und lag auf dem Rücken. Die Augen starrten nach oben. Das Gesicht war voller getrocknetem Blut. Der Mund stand wie zu einem tonlosen Schrei offen. Auf den ersten Blick schienen seine Arme und Beine gebrochen zu sein, wofür die unnatürlich verdrehten Gliedmaßen sprachen. An dem R4 lehnte außerdem ein mit Eisen beschlagenes Wagenrad mit einem Durchmesser von etwa einem Meter – die Art Rad, die man früher für Karren verwendet hatte und sich heute in den Garten stellte oder zur Dekoration an die Wand hängte. Diese Dinger konnten ziemlich schwer sein.

»Albin«, sagte Theroux, »ich weiß bald wirklich nicht mehr, was ich sagen soll. Was, zum Teufel, tust du hier?«

Castel wiederum schwieg und hockte sich lediglich hin, um Tyson zu begrüßen.

»Perault und Fabius haben mich mitgenommen«, erklärte Albin. »Ich hörte davon, dass in Le Barroux etwas vorgefallen ist. Also komme ich vorbei und sehe nach dem Rechten.«

»Statt vorher anzurufen und zu fragen, ob du hier willkommen bist.«

»Wenn ich dich oder Castel anrufe, geht ihr ja sowieso nicht ans Telefon. Wenn ihr mich ignoriert, ignoriere ich euch ebenfalls. So einfach ist das.«

Castel stand wieder auf, atmete tief ein, rieb sich die Nasenwurzel.

»Albin«, sagte sie dann, »das Opfer ist Bruder Marcel, fünfundsechzig Jahre alt und ein Benediktinermönch, der im Kloster lebt.«

»Ist nicht weit von hier«, erwiderte Albin. »Ein Kilometer vielleicht.«

Castel nickte. »Wir haben schon eine Streife dorthin geschickt. Bruder Marcel war gestern mit dem R4 in Avignon, um sich die Ausstellung im Papstpalast anzusehen. Er ist nicht zurückgekehrt. Heute früh fährt hier ein Landwirt entlang auf dem Weg zur Weinlese. Er sieht das Auto, denkt an einen Verkehrsunfall, ruft die Gendarmerie an. Tja …« Castel stemmte erneut die Hände in die Hüften und bohrte mit der Zunge von innen gegen die Wange. »Aber das hier sieht mir nicht nach einem Verkehrsunfall aus.«

»Nein«, erwiderte Albin und blickte zwischen der Leiche, dem Renault und dem Wagenrad hin und her. »Ist er … Hat man ihn etwa … gerädert? Hat das Rad auf seine Gelenke fallen lassen, sie gebrochen und dann zum Schluss das Rad auf den Brustkorb oder auf den Hals geschmettert?« In der Tat sah es genau danach aus, dachte Albin. An Bruder Marcels Hals war eine Verletzung deutlich zu erkennen.

Gerädert, dachte Albin.

Verbrannt. Erhängt. Gerädert.

Ein Literaturwissenschaftler. Ein Künstler. Ein Mönch.

»Das wird die rechtsmedizinische Untersuchung zeigen«, sagte Castel, blickte fahrig hin und her und ergänzte: »Ich gebe zu: Ich blicke nicht mehr durch.« Sie sah Albin an. »Ich blicke außerdem nicht mehr durch, weil ich von Jean höre, dass Albin Leclerc bereits zum zweiten Mal auf der Ausstellung im Papstpalast herumgeschnüffelt hat, zuletzt bei der gestrigen Auktion. Darf ich erfahren, warum?«

»Weil es ein verbindendes Element zwischen Rival, Coulon und Bruder Marcel geben muss.«

»Das wissen wir auch, meine Güte«, erwiderte Theroux und setzte seine goldumrandete Sonnenbrille auf, die ihn stets wie einen Pornostar aus den Siebzigern wirken ließ. »Und wie du dir vorstellen kannst, sind wir quasi rund um die Uhr damit beschäftigt, die persönlichen Verhältnisse der Opfer zu klären, Befragungen vorzunehmen und etwas zu finden, das uns erklärt, wer vom Tode Rivals oder Coulons profitieren würde.«

»Bevor ihr euch auf das Wer fokussiert, müsst ihr euch nach dem Warum fragen und nach dem verbindenden Element. Ich glaube, es ist die Schrift.«

»Schrift?« Theroux klappte der Unterkiefer herunter.

»Deswegen«, murmelte Castel, »also die dauernden Auftritte im ›Königreich der Himmel‹, oder?«

Albin betrachtete den Leichnam. Sah zur Straße und wieder zurück.

Vor seinem geistigen Auge erschien die Szene: Bruder Marcel wird von der engen Straße abgedrängt, dann aus dem Fahrzeug gezerrt und mit dem Wagenrad bearbeitet, das der Täter in seinem eigenen Fahrzeug mitgebracht hat – ebenso gefoltert, wie man Coulon mit dem Messer traktiert hatte und Rival mit Benzin. Zudem klang alles nach mittelalterlichen Methoden. Vorsätzlich ein Wagenrad mitzubringen war schon sehr außergewöhnlich.

»Ja«, bestätigte er. »Genau deswegen. Und ja, Theroux: Schrift. Rival hat sich mit Geheimschriften befasst und war einem verschollenen Buch auf der Spur. Zeichen dieser Geheimschrift hat Coulon in seinen Bildern verarbeitet, und Rival hat Coulon in Oppède aufgesucht. Dieser Code ist mittelalterlich und wurde von den Templern verwendet.«

»Templer? Albin, also wirklich …« Theroux ließ den Kopf sinken. »Das ist … Ich weiß auch nicht, was das ist.«

»Und Sie wissen das alles – woher?«, fragte Castel und musterte Albin.

Statt zu antworten, fragte er: »Was hat Bruder Marcel im Kloster getan? Hatte er eine Funktion?«

»Er war der Bibliothekar«, antwortete Castel.