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Wie ein weißer Schwan lag das Schiff im trubeligen Hafen von Marseille vor Anker und stach aus der Masse an kleineren, aber auch größeren Yachten durch ihr elegantes, schnittiges Design hervor. Die »Lilith II « war ein beachtliches Schiff, selbst nach Maßstäben von Multimillionären.

Das lag nicht an ihren Dimensionen. Mit ihrer Länge von fünfundfünfzig Metern war sie zwar beeindruckend, hatte aber keine Chance, in eine der Toplisten von Megaschiffen russischer Oligarchen oder arabischer Prinzen zu gelangen. Dennoch konnte man auf ihrem Hauptdeck am Heck einen Hubschrauber landen oder es ansonsten als hundertfünfzig Quadratmeter große Terrasse mit Swimmingpool nutzen, von denen es zwei weitere, aber kleinere auf dem Oberdeck und der Flybridge gab. Das Unterdeck beherbergte eine große Badeplattform und eine Garage für zwei Beiboote, Jetskis und außerdem fünf Autos. Der Wohnbereich war fast dreihundert Quadratmeter groß und mit beachtlichem Stilgefühl von einem New Yorker Innenarchitekten eingerichtet worden – luxuriös, aber dennoch dezent und hochmodern. Überall gab es große Fenster sowie eine Wendeltreppe, die die drei Wohndecks und den geräumigen Salon miteinander verband. Es gab sechs Kabinen für zwölf Gäste sowie Räume für acht Besatzungsmitglieder und natürlich die Mastersuite mit einem großen Badezimmer sowie einem Büro.

Nichts, worüber andere Sechsunddreißigmillionen-Euro-Yachten nicht verfügten. Allerdings war die »Lilith II « eines der neuesten Schiffe seiner Klasse, von einer äußerst renommierten deutschen Werft mit einer Hülle aus Aluminium gebaut und mit einer bemerkenswerten Technologie ausgestattet.

Einerseits war sie als Langstreckenyacht für das Leben auf dem Meer konzipiert. Andererseits hatte ihr Besitzer sie vor dem Stapellauf vor zwei Jahren auf seine persönlichen Bedürfnisse umrüsten lassen, was einen Aufpreis von fast acht Millionen Dollar bedeutet hatte. Die Motoren waren mit einer nagelneuen Technologie zur Reduzierung von Schadstoffausstoß ausgestattet sowie auf maximale Klimaneutralität getrimmt worden und außerdem mit leistungsstarken Akkus, die mit überall an Bord verbauten Sonnenkollektoren geladen wurden. So konnte man auf hoher See mit den Dieselmotoren fahren und beim Kreuzen in Küstennähe auf Elektro umschalten.

Die »Lilith II « steckte voller weiterer hochmoderner und umweltschonender Technik, ihr Besitzer legte außerordentlichen Wert darauf sowie auf alle weiteren Annehmlichkeiten, denn Franklin Slade verbrachte im Prinzip sein Leben auf dem Schiff. Schon mit der »Lilith I « war er seit Jahren auf dem Meer unterwegs gewesen. Er war ein Vagabund und liebte das »heute hier, morgen da«. Natürlich hätte er sich auch ein paar Häuser in unterschiedlichen Ländern kaufen und durch die Gegend jetten können. Aber das hätte sich katastrophal auf Slades Ökobilanz ausgewirkt.

Andererseits war es wirtschaftlich zweckmäßig, sich für längere Zeiträume in internationalen Gewässern und außerhalb von Landesgrenzen zu bewegen. Kein souveräner Staat hatte Zugriff, es galt internationales Seerecht, und Slade konnte stets umflaggen, was bedeutete: Fuhr er unter der US -Flagge, galt an Bord US -Recht. Unter anderer Ausflaggung galten andere Rechte, was sich dann auch auf die Verträge bezog, die er an Bord abschloss, und es galt außerdem für das Steuerrecht.

Ähnliche Vorteile hatte es, dass er aus denselben Gründen mit der »Lilith II « in unterschiedlichen Ländern haltmachen konnte. Und ganz unabhängig davon empfand es Slade stets so, dass an Bord seines Schiffes sein ganz persönliches Recht galt und er sein eigener Souverän war, der König eines auf den Wellen fahrenden Kleinstaates – und das, ehrlich gesagt, das war der allergrößte Vorteil.

Gerade stand Franklin Slade auf dem Oberdeck und telefonierte. Er trug eine leichte Leinenhose, ein Hawaiihemd und darüber eine Daunenweste, denn der herbstliche Wind war kühl. Einer der Stewards in tiefschwarzer Uniform servierte Slade einen veganen alkoholfreien Cocktail und verschwand genauso lautlos, wie er erschienen war.

Slade hielt eine Videokonferenz mit Investoren im Silicon Valley. Es ging um die Abwicklung einiger Details, die mit dem Verkauf seines Raumfahrtunternehmens verbunden waren, denn er hatte beschlossen, sich davon zu trennen. Er war anfangs davon begeistert gewesen, hielt es aber inzwischen für unvereinbar mit seinen Standards in Bezug auf den Klimaschutz. Am liebsten hätte er es einfach so in die Tonne getreten, doch es hingen Multimillionenbeträge weiterer Teilhaber daran. Alles nicht so einfach, aber es sah ganz danach aus, als ob er die letzten Details bis zum Jahresende klären und seine Anteile, Patente und alles Weitere sehr gewinnbringend veräußern würde.

Das Geld war bereits verplant, denn Slade beabsichtigte, in ein atemberaubendes Projekt in Saudi-Arabien einzusteigen. Dort wurde eine gigantische neue Stadt geplant, die größer als New York sein und sich durch die Wüste über Jordanien und Israel bis nach Ägypten erstrecken sollte, was für Slade okay war, denn mit den Menschenrechten in diesen Ländern kam er klar, wenngleich nicht mit denen bei den Saudis.

Die Planstadt hieß Neom und sollte im ersten Anlauf fünfhundert Milliarden Dollar kosten. Die Bauarbeiten für das Gebäude mit der Bezeichnung »The Line«, in dem sich die Stadt befinden würde, hatten bereits begonnen. Ein hundertsiebzig Kilometer langer Graben sollte für die Fundamente Neoms durch die Wüste gezogen werden, das man sich wie eine von außen verspiegelte, fünfhundert Meter hohe und zweihundert Meter breite Mauer in der Wüste vorstellen musste, in der neun Millionen Menschen auto- und emissionsfrei leben könnten.

Das Konzept hatte Slade von Anfang an begeistert: die Idee, etwas völlig Neues, komplett Autonomes zu schaffen. Das Bauliche war außerdem nur der Anfang. Wie würden die Menschen aus aller Herren Länder dort leben? Was wären Neoms Gesetze? Wie würden sich die sozialen Verhältnisse gestalten? Was wäre die Religion derer von Neom? Ja, hatte Slade gedacht, hier könnte man etwas Revolutionäres und Radikales erschaffen. Eine neue Schöpfung, eine neue Nation, unabhängig von den Einflüssen aller gewachsenen Strukturen. Hier könnte man Gott spielen – oder sein. Das war ein Projekt nach seinem Geschmack.

Für das Gespräch und die Abwicklung einiger weiterer geschäftlicher Dinge war er heute Morgen nach dem Frühstück zurück nach Marseille und zur Yacht gefahren. Der übrige Teil seiner Crew war noch in Avignon verblieben, um sich um die Abwicklung seiner anderen Geschäfte zu kümmern und um das, was er auf der Auktion eingekauft hatte. Sie würden später zurück zum Schiff kommen. Dann würde Slade einige sehr private Gäste empfangen, anschließend durch das Mittelmeer kreuzen und dann den Suezkanal passieren, um sich den ersten Bauabschnitt von Neom anzusehen und außerdem in die Wüste im Irak zu reisen, wo es einen antiken Ort gab, den er unbedingt aufsuchen wollte.

Aber zuvor musste sein anderes laufendes Projekt abgeschlossen werden, weswegen er die Schaltkonferenz nun beendete und Esposito anrief, um sich nach dem Stand der Dinge zu erkundigen.

»Bin bereits auf dem Weg«, sagte Esposito.