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Albin blinzelte in die herbstliche Sonne, trat dann einen Schritt zurück und stellte sich in den Halbschatten. Er zog an der Zigarette, deren Spitze orangefarben aufleuchtete.

»Ein verteufeltes Buch?«, fragte er Grassi, der seine Sonnenbrille aufsetzte. »Wortwörtlich?«

Grassi nickte. Er erklärte: »Es gibt Bücher und Texte, die aus guten Gründen besser verschwunden bleiben sollten. ›Die Apokalypse des Seraphs‹ gehört dazu. Wir wissen seit geraumer Zeit von der Existenz des Buches, vor vielen Jahrhunderten hatte es sich sogar im Besitz der Kirche befunden, verschwand dann aber leider.«

»Weil man nicht aufgepasst hat? Weil es gestohlen wurde?«

Grassi verneinte. »Es verschwand, weil man ihm keine Beachtung geschenkt hat. Weil Wissen verlorenging und in späteren Jahren wieder neu entdeckt wurde. Von Zeit zu Zeit stoßen Historiker beim Inventarisieren, bei Recherchen oder durch Zufall auf Bücher, Dokumente oder Sonstiges, das manche Dinge in einem anderen Licht erscheinen lässt und ihnen eine neue Bedeutung verleiht. Ähnlich ist es in diesem Fall gewesen. Aber lassen Sie mich Ihnen die Geschichte erzählen. Im Jahr 1142 sicherte der Tempelritterorden den Tempelberg in Jerusalem. Dort tauchte jemand auf, der einige Schriftrollen in Altgriechisch und Tontafeln in Keilschrift zum Verkauf anbot, die Hirten in Höhlen gefunden hatten. Es stellte sich heraus, dass es sich bei den Papyri um Abschriften der Keilschrift-Tontafeln handelte. Alles in allem war es ein alttestamentarisches Buch, das der gefallene Engel mit dem Namen Azazel diktiert haben soll. Darin werden seine Gebote und seine Weltsicht, seine Rituale, Beschwörungen, seine Dämonologie und seine Vision der Zukunft beschrieben.«

»Azazel?«, fragte Albin.

»Dieser Seraph hat viele Namen in vielen Religionen und ist jedenfalls als Gegenspieler zu Gott zu sehen. Bei dem Buch handelt es sich also um eine Art Bibel Satans, und man hat stets gewusst, dass eine solche existieren muss, denn jede Religion baut auf einem Dualismus auf, auf These und Antithese, auf Gut und Böse. Der Templerorden jedenfalls verstand, was er da in den Fingern hielt, und beschloss, das Buch verschwinden zu lassen, aber eine Kopie davon anzufertigen, und zwar in Geheimschrift. Das geschah, und das Buch wurde nach Frankreich gebracht, wo es in einer Burg sicher verschlossen wurde. Nur sehr wenige Eingeweihte wussten, worum es sich handelte. Bei der Vernichtung des Templerordens gerieten viele Dokumente und Bücher in den Besitz der Kirche, mit denen man aber vielfach nichts anzufangen wusste, weil sie in Geheimschriften verfasst worden sind. Das war auch bei der ›Apokalypse des Seraphs‹ der Fall. Man maß dem Buch also keine Bedeutung zu. Irgendwann verschwand das Buch. Es galt als verschollen, und mit den Jahrhunderten bewahrte sich seine Existenz nur gerüchteweise. Denn immer wieder befassten sich Forscher mit apokryphen Schriften, und immer wieder tauchten in diversen Quellen Querverweise auf, die ein solches Buch des gefallenen Engels Azazel beschrieben.«

»Wie und warum ist das Buch verschwunden, obwohl die Kirche es zuvor besaß?«

Grassi sagte: »Schwer zu sagen. Es gab immer wieder größere Inventarisierungen in den vatikanischen Archiven sowie eine Inventarliste vom päpstlichen Umzug von Avignon nach Rom. Anhand dieser Liste lässt sich zumindest ermitteln, dass ein in Geheimschrift verfasstes Buch aus dem Besitz der Templer beschlagnahmt worden war, bei dem es sich nach unserem Wissensstand um die ›Apokalypse‹ handeln muss. Dass es verschwunden ist beziehungsweise überhaupt im Besitz der Kirche war, ist im Detail erst bei einer Neuordnung der vatikanischen Archive 1934 aufgefallen. Damals war bei einem Konklave beschlossen worden, die Liste der unerwünschten Schriften neu zu ordnen. Dabei wurden auch diverse Texte des Templerordens neu sortiert. Seither suchen wir das Buch, von dessen Existenz wir – wie erwähnt – aus anderen, deutlich früheren Quellen wissen, das wir aber bis dato nicht selbst besessen hatten. Als Ende der vierziger Jahre Schriftrollen in Höhlen am Toten Meer auftauchten, gab es weitere Querbezüge zu der ›Apokalypse des Seraphs‹, die uns neue Erkenntnisse über den Inhalt des Buchs brachten und bestätigten, dass wir es unbedingt finden sollten. Jede Recherche verlief jedoch ins Leere. Also ging man davon aus, dass das Buch möglicherweise vernichtet wurde, möglicherweise taucht es aber auch irgendwann durch Zufall wieder auf. Also haben wir abgewartet. Schließlich geriet Michel Rival auf die Spur des Buches, der sich intensiv mit geheimen und verschollenen Schriften befasst hat. Er hatte diverse Anfragen an die vatikanischen Bibliotheken gestellt, daher wussten wir, woran er gearbeitet hat. Seine Ergebnisse wollte er mit einem Paukenschlag bekanntgeben. Den Rest kennen Sie, Monsieur le Commissaire.«

War das zu fassen?, dachte Albin und löschte die Zigarette an der Mauer. Es ging um eine Teufelsbibel?

»Woher wissen Sie das alles so genau?«, fragte Albin.

»Durch das Zusammentragen von uralten Quellen über die Jahrhunderte hinweg und akribische Recherche von mehreren Generationen vatikanischer Ermittler. Die Templer waren Bürokraten und haben über viele Dinge Buch geführt. Wir kennen eine Dokumentation über Ankäufe von Papyri und Tontafeln. Wir kennen Briefe beziehungsweise Listen aus dem Besitz von hingerichteten Großmeistern des Ordens. Es ist ein großes Puzzle, das über Jahrzehnte hinweg akribisch zusammengesetzt worden ist.«

»Das klingt so, als sei es das am meisten gesuchte Buch der Welt.«

Grassi lächelte. »Sagen wir so: Es gibt verschiedene Schriften und Bücher, die aus unterschiedlichen Gründen in unserem Interesse sind. Es gibt außerdem gewisse Artefakte, über die wir gerne so viel wie möglich wissen wollen und die wir nach Möglichkeit besitzen möchten. Deswegen kümmert man sich bereits seit sehr, sehr langer Zeit um solche Dinge, wenn Sie verstehen, was ich meine. Und natürlich können Sie sich vorstellen, dass eine Teufelsbibel im besonderen Interesse der Kirche liegt. Wir reden hier nicht nur von der christlichen Kirche. Wir sprechen auch über den Islam – denn auch im Koran ist von einem Gegenspieler namens Azazel die Rede. Wir reden außerdem über die Thora und, und, und … Nur hat man seinerzeit, als man das Buch in den Fingern hatte, keine Ahnung gehabt, worum es sich handelte. Das war ein großer Fehler – aber so ist es nun einmal geschehen.«

»Und der Vatikan will es haben, damit niemand Dämonen oder den Teufel beschwören kann? Meinen Sie das ernst?« Albin steckte sich eine weitere Zigarette an.

Grassi lächelte und schüttelte mit dem Kopf. »Ich denke, niemand – jedenfalls niemand von uns – glaubt ernsthaft, dass das möglich wäre. Aber an der aktuellen Situation sehen wir, dass von dem Buch Unheil ausgeht, Leclerc. Und darum geht es. Niemand will, dass es in die falschen Hände gerät. Das wollten bereits die Templer nicht. Niemand sollte von der Existenz des Buches wissen – und zwar nicht nur, weil manche Menschen die Sache mit dem Beschwören anders sehen könnten als wir. Eine solche Teufelsbibel könnte außerdem zur Grundlage einer Religion werden, die niemand will. Darum geht es. Und um noch mehr. Wie ich eben erwähnte, gibt es nicht nur die Abschrift der ›Apokalypse des Seraphs‹ im geheimen Code der Templer. Wir können vielmehr davon ausgehen, dass der Orden die angekauften Originale gesichert und gut versteckt hat. Das wird er dort getan haben, wo er seinerzeit residierte: in der Al-Aqsa-Moschee auf dem Tempelberg oder in den Gängen und Katakomben darunter. Die Moschee ist das drittwichtigste Heiligtum im Islam. Stellen Sie sich vor, es würde öffentlich bekannt, dass seit Jahrhunderten über dem Gebotsbuch von Azazel, über der Teufelsbibel, zu Mohammed gebetet wird und dass die christliche Kirche das seit Jahrhunderten ahnt und kommentarlos hinnimmt – niemand will einen derartigen politischen und theologischen Eklat provozieren, Leclerc. Und aus diesen Gründen muss ich das Buch haben und sichern und nach Möglichkeit auch ein Buch in Besitz bringen, das zum Dechiffrieren benutzt werden kann. Daher meine Gebote bei der Auktion.«

»Verstehe«, erwiderte Albin und paffte. »Ich erkenne Ihr Problem. Aber irgendjemand anderes will das Buch ebenfalls unbedingt haben und geht dafür über Leichen. Und das wiederum ist mein Problem. Ich muss ihn finden und verhindern, dass es zu weiteren Straftaten kommt.«

»Insofern sitzen wir im selben Boot. Ich will das Buch, Sie wollen Ihren Täter.«

Albin wollte gerade etwas erwidern, als einige Personen das Hotel verließen. Zwei Frauen, zwei Männer, ein Farbiger, ein deutlich kleinerer Kerl. Letzterer ging zum Tesla, die anderen drei nahmen den Jaguar. Albin hatte diese Leute schon einmal gesehen, nämlich bei der Auktion im Gefolge von Franklin Slade, der sich nach Grassis Worten bereits wieder auf seiner Yacht im Hafen von Marseille aufhielt.

»Man bricht auf«, sagte Albin und behielt das Geschehen vor dem Hotel beiläufig im Blick, damit niemand annahm, er würde hinstarren.

Grassi verhielt sich ebenso und sagte: »Ich war eben im Hotel und habe mich nach Slade erkundigt, worauf ich erfuhr, dass er nicht mehr hier ist. Seine Crew wird wohl nun ebenfalls nach Marseille fahren.«

»Was genau wollten Sie von Slade?«

»Er hat das Buch erworben, das ich im Auftrag ebenfalls ersteigern sollte. Es kann zur Übersetzung der Templerschrift verwendet werden. Slade hat dafür offenbar Monsieur Weber engagiert.« Albin hatte es fast vermutet. »Mister Slade ist außerdem bekannt dafür, außergewöhnliche antike Artefakte und Kunstgegenstände zu sammeln. Ich halte seine Anwesenheit für keinen Zufall. Und was wollten Sie von Slade?«

»Nichts Bestimmtes«, erwiderte Albin und sah, wie der Jaguar davonfuhr. »Man hätte mich sicherlich sowieso nicht mit ihm sprechen lassen. Aber meine Gedankengänge sind den Ihren sehr ähnlich.« Dann fuhr auch der Tesla davon.

»Ich habe das Gefühl, dass Slade dem Buch auf der Spur sein könnte«, sagte Grassi.

Albin nickte. »Aber haben Sie schon einmal Ihre Perspektive verändert?«

»Wie meinen Sie das?«

»Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder es geht jemand über Leichen, weil er das Buch unbedingt haben will. Oder es geht jemand über Leichen, weil er das Buch schützen möchte.«

Grassi dachte kurz nach. »So habe ich das noch gar nicht gesehen«, sagte er.

Albin musterte ihn.

Grassi hob die Hände in einer abwehrenden Geste. »Ich habe Ihnen bereits versichert, dass der Vatikan ganz gewiss nicht über Leichen geht, um das Buch zu bekommen. Er geht erst recht nicht über Leichen, um es zu schützen. Vielmehr will er die Menschheit davor beschützen.«

»Vielleicht will das jemand anders ebenfalls«, erwiderte Albin.

Grassi dachte kurz nach. »Und wer?«

»Jemand, der weiß, worum es geht.« Albin zog an der Zigarette und stieß den Rauch durch die Nasenlöcher aus.

»Möglich«, sagte Grassi und blickte auf die Uhr. »Ich muss mich nun verabschieden. Ich habe eine dringende Besprechung.« Er gab Albin eine Visitenkarte. »Das ist meine Nummer. Zögern Sie bitte nicht, mich sofort anzurufen, falls es neue Erkenntnisse gibt.« Albin gab Grassi seine eigene Karte mit dem Aufdruck »Polizeilicher Berater« und sagte: »Zögern Sie ebenfalls nicht, mich zu verständigen.«

Grassi nickte knapp. Dann drehte er sich um und ging zu dem Maserati, stieg ein und fuhr davon.

Albin sah ihm hinterher. »Mein lieber Mann«, murmelte er dann. »Die haben keine schlechten Dienstwagen bei der Kirche.«

Kann man wohl sagen , erwiderte Tyson, der die ganze Zeit über nachdenklich neben Albin auf dem Boden gesessen hatte.

»Eine Teufelsbibel – meine Güte.«

Grassis Erläuterungen klangen ziemlich schlüssig, wenn du mich fragst.

»Mhm«, machte Albin.

Aber du zweifelst?

»Ich zweifle so lange, bis ich sicher sein kann, keine Zweifel mehr haben zu müssen.«

Und jetzt?

»Und jetzt gehen wir zurück zum Auto und werden in aller Ruhe darüber nachdenken, was wir als Nächstes tun.«

Alles klar, Chef. Tyson stellte sich wieder auf alle viere und sah Albin erwartungsvoll an.

»Weißt du«, murmelte Albin zu Tyson und drückte die Zigarette an derselben Stelle der Mauer aus wie die vorherige, »ich frage mich, ob sich jemand wie Slade die Hände persönlich schmutzig machen würde oder ob er jemanden hat, der das erledigt.«

Also ich würde das jemanden erledigen lassen, der sich damit auskennt – vor allem wenn ich so prominent wäre wie Slade.

»Kluger Hund«, sagte Albin und setzte sich in Bewegung. »Und am besten wäre das eine einzelne Person und kein Dreiergespann. Weniger auffällig. Was meinst du, welche Schuhgröße jemand wie der kleine Kerl hat, der in den Tesla gestiegen ist?«

Vielleicht neununddreißig?

Albin nickte.

Aber eine Frau könnte auch diese Schuhgröße haben.

»Das«, erwiderte Albin und ging los, »ist ebenfalls richtig.«