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Esposito stand mit dem Rücken zur Eingangstür und hielt die 22er im Anschlag. Er zielte auf den Kopf der Frau. Sehr schade, dachte er. Er hatte eigentlich geplant, sie ein wenig zu foltern, damit sie ihm sagte, wo sich das Buch befand. In seiner Umhängetasche, die noch im Kofferraum lag, hatte er ein Elektromesser und hätte sie vielleicht gevierteilt.

Sie mit einer Pistole zu bedrohen – das war reichlich profan.

Den Literaturwissenschaftler hatte er mit Benzin zum Reden gebracht und ihn dann angezündet. Dem Bibliothekar hatte er mit dem Wagenrad die Knochen gebrochen. Beides waren angemessene Todesarten gewesen – Verbrennen und Rädern. Es passte zu dem mittelalterlichen Kontext, hatte Esposito gefunden. Er arbeitete gerne auf diese Art. Schon in seiner Zeit in Mexiko hatte er seinen Aufträgen oft eine persönliche Note gegeben, die stets mit einem ironischen Augenzwinkern zu verstehen war. Von einem Kartell hatte er einmal den Auftrag erhalten, »ein paar verräterische Schweine« zu beseitigen. Damals hatte er die Opfer geköpft und ihnen die Schädel von geschlachteten Schweinen aufgepflanzt, bevor er sie mit Klebeband an einer Parkbank befestigte.

Auch das Erhängen war eine traditionelle und im Mittelalter oft angewendete Methode, und den Künstler hatte er zuvor mit seinem Messer bearbeitet.

Vielleicht, dachte Esposito, würde er das Sykes statt des Elektromessers an Muriel Koulberg ausprobieren und die 22er wieder einstecken – wenngleich die Klinge sicherlich keine starken Knochen durchtrennen könnte. Aber die Haut abziehen? Durchaus machbar, dachte Esposito, und es würde sich wunderbar in den Zusammenhang einfügen.

Slade und die anderen hielten ihn wegen seiner Methoden für abartig. Slade war sogar wütend geworden, als er davon gehört hatte. Rädern, Verbrennen, Erhängen – ob Esposito die Personen nicht einfach ganz normal hätte umbringen können? Esposito hatte fast gelacht und gefragt: Und hättest du den Personen nicht einfach ein paar Millionen Dollar für Informationen zahlen können, die dich zu dem Buch führen, und das Buch dann ebenfalls mit einer atemberaubenden Summe ankaufen? Immerhin hatte Slade genug Geld, von daher …

Aber Slade hatte das nicht gewollt. Er wollte auf keinen Fall, dass Spuren zu ihm zurückzuverfolgen waren, und Geld hätte man transferieren oder in Koffern bar aushändigen müssen. Außerdem war klar: Die Existenz des Buches war über viele Jahrhunderte hinweg geheim gehalten worden. Slade litt in dieser Beziehung etwas an Verfolgungswahn und wollte nicht ausschließen, dass möglicherweise ein ebenfalls geheimer Orden das Buch bewachen könnte, dessen Aufmerksamkeit er weder wecken noch auf sich ziehen wollte.

Esposito hatte ihm ohnehin davon abgeraten, Geld einzusetzen. Nach seiner Erfahrung war es so, dass die Menschen den Hals nie voll bekamen und Informationen lediglich häppchenweise verkauften oder später noch mehr Geld wollten und damit drohten, irgendwelche Dinge zu veröffentlichen. Effizienter seien andere Mittel – und schließlich hatte Slade gesagt, ihm sei egal, wie Esposito die Informationen beschaffe, er wolle darüber so wenig wie möglich wissen. Das Ergebnis sei wichtig.

Also hatte Esposito das getan, was er am besten konnte und wofür Slade ihn angeheuert hatte. Dass er die Personen am Ende töten musste, war dabei die logische Folge, denn im anderen Fall hätten sie ja zur Polizei laufen und erzählen können, dass man sie bedroht und gefoltert hätte, was wiederum am Ende zu Slade hätte führen können. Na ja, und der Typ, der sich bei der Arbeit eine Maske aufsetzte, war Esposito sowieso nicht.

Außerdem wollte er ein wenig Spaß bei der Arbeit haben – und man konnte sich erst kurz vor Ende wirklich sicher sein, alle Informationen erhalten zu haben: zum Beispiel in dem Moment, wenn man vor einer mit Benzin übergossenen Person einen Lappen entzündete oder nachdem man jemandem mindestens zwei Gelenke gebrochen hatte. Die Leute mussten sich erst absolut sicher sein, dass man es ernst meinte. So waren die Menschen eben. Sie glaubten bis zuletzt, dass sich noch alles zum Guten wenden könnte. In Mexiko hatte Esposito in der Beziehung jede Menge Erfahrungen gesammelt. Manche gaben erst dann alles preis, wenn man den ersten Schnitt an die Stirn setzte, um ihnen den Skalp abzuziehen.

Esposito musterte das Gesicht von Muriel Koulberg und setzte gedanklich bereits die Klinge seines Sykes unter ihrem Ohrläppchen an, um sie entlang des Unterkiefers bis zum anderen Ohr zu ziehen.

»Also?«, fragte er.

»Ich weiß nicht«, stammelte Muriel Koulberg mit erhobenen Händen, »was Sie von mir wollen, ich …«

»Sie wissen es ganz genau«, erwiderte Esposito. »Ich will das Buch. Und ich weiß, dass Sie es haben. Das hier kann schnell vorüber sein. Aber jetzt«, ergänzte er, »gehen Sie bitte mit erhobenen Händen durch die Tür hinter Ihnen. Wir wollen nicht, dass jemand uns hier im Verkaufsraum sieht und sich Fragen stellt, die ungesund für ihn sein könnten, und …«

Esposito sah in Muriel Koulbergs sich plötzlich verändernden Gesichtszügen, dass etwas geschehen würde, noch bevor es passierte.

Er blickte sich über die Schulter um.

Verflucht.

Er sah zwei Polizisten in Uniform an der Glastür, die sich gerade öffnete. Beide betraten das Geschäft.

Muriel Koulberg öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Die Gendarmen wollten ebenfalls etwas sagen, vielleicht nur »Guten Tag«, schienen aber in diesem Moment zu verstehen, dass etwas nicht in Ordnung war.

Die Eingangstür fiel hinter ihnen zu.

Esposito wusste, dass es nur eine einzige Möglichkeit gab. Er musste handeln, bevor die Gendarmen es taten.

Er drehte sich um. Er nahm die 22er hoch. Einer der Gendarmen rief etwas, fasste nach seinem Einsatzgürtel. Der andere ebenfalls.

Zu spät.

Esposito schoss jedem eine Kugel in die Stirn. Die Polizisten sackten zusammen wie Marionetten, denen man die Fäden abgeschnitten hatte.

Espositos Gehör war für einen Moment taub geworden. Schüsse in Innenräumen waren ohrenbetäubend laut. Dennoch hatte er den entsetzten Aufschrei der Buchhändlerin gehört.

»Mist!«, fauchte Esposito.

Die Situation entwickelte sich absolut nicht so, wie er geplant hatte, und sie wurde zunehmend komplizierter. Erst der Priester, jetzt die zwei Gendarmen, und …

Er drehte sich wieder um.

Muriel Koulberg war verschwunden. Die Tür hinter ihr stand offen. Esposito machte zwei große Schritte und stand dann im Türrahmen. Er sah eine Treppe, die nach unten führte. Es brannte Licht. Er sah die Frau, die gerade die letzte Stufe erreicht hatte und um die Ecke bog.

»Muriel!«, rief er ihr hinterher. Dann lief er die Treppe hinab.