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Albin erinnerte sich an einen Tag im Frühherbst in den frühen neunziger Jahren. Gerade war der letzte Sommer der Unbeschwertheit vorbeigezogen – zumindest in seinen Augen. Denn der Himmel, den er stets blau zeichnete, hing damals wohl schon voller grauer Wolken, die er nicht erkennen mochte. Manon war damals etwa in Claras Alter gewesen, auf die heute Veronique aufpasste, damit ihre Mutter und ihre Großeltern den Termin in Avignon gemeinsam wahrnehmen konnten.

Albin war an dem Tag wie üblich mitten in der Nacht von der Arbeit gekommen, weil er an einer Observierung beteiligt gewesen war. Er hatte ein Urlaubsangebot für das kommende Frühjahr mitgebracht, nachdem die kleine Familie Leclerc gerade so viel Spaß am Meer in Narbonne gehabt hatte. Inés war zwar von Anfang an nicht sonderlich begeistert gewesen, aber nach Albins Eindruck hatte es ihr dann doch gefallen. Für Ostern hatte er wieder ein gutes Angebot für das Ferienhaus erhalten.

Albin hatte sich die Schuhe ausgezogen und war leise ins Haus geschlichen, um niemanden zu wecken. Aber in der Küche brannte noch Licht, Inés saß am Küchentisch, blickte aus dem Fenster und regte sich nicht. Beides war ungewöhnlich, weswegen Albin bereits in Habachtstellung ging und fürchtete, dass etwas mit Manon nicht in Ordnung sein könnte. Er hatte Inés’ Nacken küssen wollen. Doch sie wich aus, sah den Prospekt in Albins Händen und sagte ihm, dass sie nicht mehr könne, nicht mehr wolle und auch nicht mit ihm in den Urlaub fahren werde.

Es hatte Albin wie aus heiterem Himmel getroffen. Rückblickend war er klüger, denn Inés hatte sich schon zuvor mehrfach darüber beklagt, dass er mehr mit der Arbeit verheiratet war als mit ihr. Albin hatte das jeweils für reinigende Gewitter gehalten, nach denen die Sonne wieder schien, und Besserung gelobt, was jeweils sogar einige Wochen lang funktioniert hatte.

Doch dieses Mal war es anders. Dieses Mal war es endgültig.

Ein Jahr später hatten sie sich vor dem Familiengericht in Avignon getroffen. Demselben Gebäude, vor dem er nun stand, in die Herbstsonne blinzelte und rauchte. Wieder an einem Tag wie diesem, an dem Albin vom Scheidungsrichter schriftlich erhalten hatte, dass er gescheitert war. Dass alles, wofür er angetreten war, sich in Schall und Rauch aufgelöst hatte. Eine Unterschrift. Ein Stempel. Das Ende des Lebenstraums von der eigenen Familie. So schnell ging das. Wenigstens hatten sie nicht über das Sorgerecht für Manon gestritten und es beide behalten. Sie waren sogar zusammen aus dem Gericht gegangen, und Inés hatte gefragt, ob sie noch einen Kaffee trinken wollten. Doch Albin hatte sich wegen einer dringenden Zeugenvernehmung entschuldigen müssen. Inés hatte nur schwach genickt und ihm gesagt, dass er sich wohl niemals ändern werde und sie sich jetzt und in diesem Moment rundherum bestätigt fühlte, das Richtige getan zu haben.

Albin hatte sich wie ein Scheusal gefühlt und sich am selben Abend dermaßen betrunken, dass er sich für die folgenden drei Tage bei der Arbeit krankmelden musste. Es war alles über ihm zusammengebrochen, und schließlich war Matteo vorbeigekommen, der sich Sorgen um ihn gemacht hatte, weil er nicht wie jeden Tag im Café du Midi aufgekreuzt war. Matteo hatte die Fenster aufgerissen, gelüftet, aufgeräumt und das Altglas eingesammelt, um es wegzubringen. Er hatte Albin gesagt, dass drei Tage Selbstmitleid ausreichten und er sich jetzt rasieren, kalt duschen, zwei Aspirin einwerfen und sich anziehen solle, weil er ihn ansonsten in den Hintern treten und aus dem Haus prügeln werde.

»Du drückst jetzt die Neustarttaste«, hatte Matteo gesagt. »Was bleibt dir anderes übrig?«

Albin inhalierte den Rauch, blickte auf die Armbanduhr, blinzelte einige Lichtpunkte von der Sonne fort und sah zu Inés, die ihn ebenfalls anblickte und vielleicht dasselbe dachte wie er: dieses Gebäude, ein Tag wie heute – nur jetzt war es ihre gemeinsame Tochter, deren Ehe hier mit einem Stempel und einer Unterschrift beendet wurde.

Lange konnte es nicht mehr dauern, dachte Albin. Er hatte Manon versprochen, mit ihrer Mutter nicht in das Gebäude zu kommen und nicht vor dem Saal auf der Bank zu warten, weil das ihre Sache sei und sie das mit ihrer Anwältin alleine durchziehen würde – psychopathischer Gilles hin oder her.

»Erst wartet man auf sie beim Standesamt«, murmelte Albin und stieß den Rauch im Sprechen aus, »dann wartet man auf sie beim Scheidungsrichter, hm?«

Er spürte Inés’ Blicke auf sich. »Es ist so schade«, sagte sie leise. »Was haben wir nur falsch gemacht?«

»Sicherlich eine Menge«, erwiderte Albin. »Aber wir haben auch eine Menge richtig gemacht.«

Inés blickte wieder zum Gericht. »Hast du anschließend noch einen Termin?«

»Ich?«

»Weil du auf die Uhr schaust.«

»Nein, ich wundere mich nur, dass es so lange dauert. Ich möchte gleich mit euch auf dem Rückweg noch zu Matteo fahren und einen Kaffee trinken.«

Inés schmunzelte.

»Besser nicht zu Matteo? Irgendetwas Schickeres?«

»Nein«, sagte Inés, »alles gut. Ich hatte gerade nur eine Art Déjà-vu.«

Albin erwiderte nichts.

»Auf der anderen Seite ist es notwendig«, ergänzte Inés. »Manon braucht einen Neuanfang.«

Albin sparte sich einen weiteren Kommentar. Er sparte sich auch jeden Vorwurf an seine Ex-Frau im Hinblick darauf, dass sie sich nicht auf Gilles’ Seite hätte stellen dürfen und Manon und Albin glauben müssen … Doch wozu? Es würde nichts ändern, und außerdem hatte Inés recht: Manon brauchte einen Neuanfang so sehr, wie Albin damals ebenfalls einen benötigt hatte. Und man sah ja, wohin es ihn geführt hatte: in das gemeinsame Leben mit Veronique.

»Den braucht sie«, erwiderte Albin und merkte auf, als sich endlich die Tür vom Gericht öffnete. Manon kam mit ihrer Anwältin heraus. Beide trugen ein Kostüm – die Anwältin ein dunkles, Manon ein helles. Schließlich erschien Gilles im Gefolge von zwei Anwälten. Alle drei trugen hellgraue Anzüge.

»Trinken wir noch einen Kaffee?«, fragte Gilles seine frischgebackene Ex-Frau.

»Das …« Albin hörte Inés neben sich prusten. »… das darf doch wohl nicht wahr sein. Das werde ich zu verhindern wissen, ich …«

Sie setzte sich in Bewegung.

»Nie. Im. Leben«, erwiderte Manon, worauf Gilles lächelnd mit den Achseln zuckte.

Er winkte hinüber zu Albin, der nicht zurückwinkte und einfach weiterrauchte. Inés ging mit energischen Schritten zu Manon, um sie in den Arm zu nehmen. Sie passierte dabei Gilles und ließ es sich nicht nehmen, ihm beiläufig auf die Schuhe zu spucken. Natürlich protestierte er. Seine Anwälte ebenfalls. Albin verkniff sich ein Grinsen. Schließlich setzten sich Gilles und seine Anwälte in Bewegung und kamen auf dem Weg zum Parkplatz auf Albin zu. Gilles wischte sich mit einem Taschentuch mit Monogramm die Spucke von den Schuhen. Kurz stoppte er neben Albin, streckte die Hand zum Gruß aus. Albin nahm sie nicht.

»Alles gut?«, fragte Gilles.

»Gleich wird es besser«, antwortete Albin. »Sobald du aus meiner Komfortzone verschwunden bist und ich dich niemals wiedersehen muss.«

Gilles grinste immer noch, und Albin überlegte für einen Moment, ob er ihm das Grinsen aus dem Gesicht prügeln sollte. In Gegenwart seiner Anwälte wäre das allerdings eine sehr dumme Idee.

»Man sieht sich immer zweimal im Leben, Ex-Schwiegervater.«

»Leider habe ich dich schon mehr als zweimal sehen müssen. Und jetzt mach, dass du aus meinem Blickfeld verschwindest.«

»Sonst schickst du wieder deinen Fantomas?«

»Wen?«

»Tu doch nicht so, Albin. Ich weiß ganz genau, dass du dahintersteckst.«

»Fantomas?« Albin wendete sich an die Anwälte. »Hören Sie das? Ihr Klient sollte mit dem Koksen aufhören.«

Dann schnippte er die Kippe fort, ging an Gilles vorbei – nicht ohne ihn kurz mit der Schulter anzurempeln – und bewegte sich in Richtung Manon und Inés, die sich beide angeregt mit der Anwältin unterhielten.

»Die Damen bereit zur Abfahrt?«

Manon und Inés nickten, wenngleich sich die Juristin wegen eines Anschlusstermins entschuldigte.