Kapitel 12
Hannover
A m nächsten Tag fuhr Anabel gegen Mittag ins Büro. Sie hatte zwar einiges zu erledigen, musste aber aufgrund der Schicht des Vortages nicht zwingend früh an ihrem Schreibtisch sitzen. Unter anderem wollte sie einen Mitschnitt des Notrufes anfordern. Die Autobahn war voll, aber trotz der ewigen Baustelle auf der A2 kam sie recht zügig voran. Als sie ihren Wagen auf dem Parkplatz des Präsidiums abstellte, begann es zu regnen. Anabel hastete über den Asphalt und erreichte ihr Büro. Zuerst kochte sie sich einen Kaffee, dann machte sie sich an die Arbeit. Die Antwort, die sie erhielt, als sie die Notrufzentrale um einen Mitschnitt des besagten Anrufes anforderte, erschütterte sie bis ins Mark.
„Es tut mir sehr leid, Frau Plate, aber wir hatten eine technische Panne. Sämtliche Notrufe von gestern zwischen 19:00 Uhr und 22:00 Uhr sind gelöscht worden.“
Es gibt keine Zufälle.
Verdammt, Harry, hoffentlich irrst du dich. Aber sie wusste, dass das kein Zufall war. Jemand wollte hier etwas vertuschen. Jemand, der sehr mächtig war. Anabel studierte die Notizen, die ein Mitarbeiter auf ihrem Schreibtisch gelegt hatte. Überwiegend handelte es sich hierbei um Rückrufwünsche verschiedener Leute. Kollegen, Reporter, der übliche Wahnsinn. Keine davon interessierte sie. Bis auf eine: Die Frau des getöteten Kofler hatte sich in der Zentrale des LKA gemeldet. Sie war nach Hause zurückgekehrt und hatte sich bereit erklärt, Anabels Wunsch nach einem Gespräch Folge zu leisten, nachdem ein Beamter ihr erzählt hatte, dass Anabel sie sprechen wollte. Sie sprang auf, griff sich Jacke und Autoschlüssel und machte sich auf den Weg.
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Anabel hatte es schon häufiger festgestellt. Oder gefühlt. Ein Ort, an dem jemand gewaltsam zu Tode gekommen war, strahlte etwas sehr Eigenartiges aus. Eine Mischung aus Trauer, Verzweiflung und Wut. Hier war es genauso. Nur die Witwe schien davon nichts mitzubekommen. Sie machte auf Anabel einen gefassten, beherrschten Eindruck. Anabel musterte sie verstohlen. Ihr erster Eindruck war, dass es sich bei Frau Kofler um eine sehr starke Persönlichkeit handelte. Sie bat Anabel ins Wohnzimmer und wollte wissen, ob sie einen Kaffee oder Tee haben wollte.
„Ein Kaffee wäre nett. Wenn es keine Umstände macht.“
„Natürlich nicht. Wer kocht denn heutzutage noch auf herkömmliche Art einen Kaffee? Ein Knopfdruck genügt doch.“
Da hatte sie natürlich recht, musste Anabel zugeben. Da die Befragung des Beamten, der Kofler erschossen hatte, in eben dieser Küche stattgefunden hatte, wusste Anabel schließlich, dass es dort aussah wie auf der Kommandobrücke eines Raumschiffes. Margarete Kofler kehrte mit einem Tablett zurück und schob Anabel ihre Tasse herüber. Sie musterte die Witwe jetzt ganz offen. Etwa Mitte sechzig, edel gekleidet, hochtoupierte Frisur, etwas zu viel Make-up, an den Fingern jede Menge Schmuck und Brillanten.
„Zunächst möchte ich Ihnen mein aufrichtiges Beileid aussprechen. Ihr Verlust tut mir sehr leid.“
„Danke, das weiß ich zu schätzen“, antwortete Frau Kofler und lächelte warm.
„Wie haben Sie von den furchtbaren Ereignissen erfahren?“
„Vincent rief mich gestern spät abends an und erzählte mir, was geschehen ist.“
„Vincent …?“
„Entschuldigen Sie, ich meine den Personenschützer meines Mannes. Meines verstorbenen Mannes“, korrigierte sie sich selbst.
„Und Herr Dost ist …?, fragte Anabel, obwohl sie die Antwort kannte. Aber sie wollte die Reaktion von Frau Kofler sehen, wenn sie über Dost sprach.
„Vincent Dost ist der Leiter der Gruppe von Leibwächtern, die das BKA für meinen … verstorbenen Mann abgestellt hat.“
„Ich habe ihn kennengelernt, als ich den Tatort besichtigt habe“, erklärte Anabel.
„Ja, das hat er mir erzählt. Er ist ein guter Freund.“
„Wenn Sie mir die Bemerkung gestatten, aber Sie wirken sehr … gefasst.“
Kofler lächelte matt. „Würde es etwas ändern, würde ich heulen, toben und schreien? Soll ich das etwa tun, um dem Idealbild einer trauernden Witwe zu entsprechen?“
„Ich bilde mir da kein Urteil.“
Kofler schnaubte. „Natürlich tun Sie das. Das ist ihr Job.“
„Sie gelten nicht als Verdächtige, Frau Kofler. Daher bin ich dankbar, dass ich offen mit Ihnen sprechen kann.“
Kofler lächelte. „Sie sind wenigstens ehrlich. Ich bin kein Freund von diesen Eiertänzen. Wahrscheinlich hatte ich dafür zu viel Politik in meinem Leben.“
„Ich habe die Erfahrung gemacht, dass sich Ehrlichkeit fast immer auszahlt. Allerdings gibt es jede Menge Menschen, die damit nicht umgehen können.“
Margarete Kofler nickte. „Das kann ich mir gut vorstellen. Ich war über dreißig Jahre verheiratet und wenn eines unsere Ehe beschreibt, dann das Wort Offenheit. Zwischen meinem Mann und mir gab es keine Geheimnisse.“
Anabel war sich sicher, dass Margarete Kofler das glauben wollte. Ob es aber den Tatsachen entsprach, würde sich zeigen. Anabel hatte so ihre Bedenken. Sogar ihre Eltern hüteten ihre kleinen Geheimnisse voreinander. Nichts Weltbewegendes. Aber immerhin …
„Das klingt fast zu schön, um wahr zu sein“, sagte Anabel vorsichtig.
„Nun, junge Frau. Offenheit in einer Beziehung zeugt von gegenseitigem Respekt. Nicht unbedingt von Liebe.“
Anabel wurde hellhörig. „Und was hat das zu bedeuten?“
Das Lächeln von Kofler war nun voller Bitterkeit. „Wir haben uns schon vor vielen Jahren auseinandergelebt. Er machte sein Ding, ich meines. Nur bei öffentlichen Auftritten gaben wir ein Paar. Und bevor Sie fragen; ich hatte keine Affären. Und ich bin mir fast sicher, dass er auch keine hatte. Wir haben irgendwann … das Interesse an solchen Dingen verloren.“
Wie zum Teufel konnte man das Interesse daran verlieren? In dem Alter?
„Ich verstehe“, sagte Anabel.
„Tun Sie das?“
„Nein.“
Kofler lachte.
Anabel sah sich um. „Wer hat das Geld mit in die Ehe gebracht, Sie oder ihr Mann?“
„Ich.“
„War ihr Mann in den letzten Tagen irgendwie anders?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Nicht in den letzten Tagen. Seit Wochen war er nicht mehr er selbst.“
„Wissen Sie, warum?“
„Zuerst dachte ich, er wäre krank. Aber dann …“ Koflers Blick verlor sich in der Vergangenheit.
Anabel ließ sie in Ruhe. Sie wusste, dass Gedanken oft wie Puzzleteilchen im Kopf herumschwirrten, sich erst zusammenfügen mussten, bevor sie ausgesprochen werden konnten. Anabel blickte zur Fensterfront. Genau da hatte er gelegen.
„Er hat irgendetwas entdeckt“, sagte Kofler plötzlich.
Anabel zuckte unmerklich zusammen. „Was?“
Kofler, die nicht bemerkte, dass Anabel abgelenkt gewesen war, interpretierte die Frage falsch. Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht. Aber so, wie in den letzten Wochen habe ich ihn noch nie erlebt. Was immer es war, es muss ihn zu Tode erschreckt haben.“
Sie hielt inne, dachte über das, was sie gerade gesagt hatte, nach und schüttelte dann den Kopf. „Was für eine merkwürdige Wortwahl“, sagte sie leise.
„Wie war das Verhältnis zwischen ihrem Mann und Vincent Dost?“
„Mein Mann und Vincent waren, soweit es der Beruf der beiden überhaupt zuließ, Freunde. Mein verstorbener Mann hat großen Wert auf Vincents Meinung gelegt.“
„Eine letzte Frage. Wenn jemand hier in ihr Haus eingebrochen wäre. Wen hätte ihr Mann angerufen: Den Notruf, oder Vincent Dost?“
„Natürlich hätte er Vincent angerufen. Der wohnt doch nur zwei Minuten entfernt von hier.“