Kapitel 16
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D ie Koordinaten führten zu einem alleinstehenden Wohnhaus. Der Vorgarten war ungepflegt. Oder ursprünglich, je nach Perspektive. Am Zaun war ein Briefkasten angebracht, jedoch ohne Namensschild. Anabel hätte natürlich über ihre Dienststelle mehr über den Eigentümer oder Mieter des Hauses herausfinden können, aber sie wollte nicht, dass irgendjemand im Präsidium wusste, wo sie war. Aus diesem Grund hatte sie schließlich auch den Computer im Internetcafé benutzt.
Margarete Kofler blickte sich um. „Und nun?“
„Wir klingeln“, sagte Anabel, öffnete die Holzpforte und ging zur Haustür.
Sie drückte auf den Messingknopf.
Nichts geschah.
Sie wollten sich gerade umdrehen und gehen, als Anabel von innen schlurfende Schritte vernahm. Sie blieben stehen und warteten. Innen wurde ein Schloss geöffnet und die Tür öffnete sich einen Spalt. Eine uralte gebrechlich aussehende Frau sah sie aus trüben Augen misstrauisch an. „Wehe, Sie beide sind von den Zeugen Jehovas“, sagte sie mit leiser, brüchiger Stimme.
„Sind wir nicht“, versicherte Anabel.
„Und was wollen sie von mir?“
„Mein Name ist Margarete Kofler. Sagt Ihnen der Name etwas?“
Die Alte zuckte zusammen und ihre Augen wurden riesengroß. „Sollte er?“
Margarete sah unschlüssig zu Anabel.
Die zog schließlich den Brief und den USB-Stick aus ihrer Jackentasche und zeigte beides der Frau. „Klingelt es da bei ihnen?“
Die Verwandlung der Greisin war erstaunlich. Sie öffnete schnell die Tür und zog Anabel, die direkt vor ihr stand, in den Hausflur. „Rasch, kommen Sie rein“, sagte sie gar nicht mehr zu schwächlich. „Ist Ihnen jemand gefolgt? Haben Sie Ihre Handys dabei?“
Margarete Kofler folgte den beiden ins Haus.
„Uns ist niemand gefolgt und wir haben keine Handys dabei“, versicherte Anabel.
Unschlüssig blieb Margarete Kofler stehen. „Na ja, ich hab schon eines dabei. Aber es läuft nicht über meinen Namen.“
Die Alte rollte mit den Augen. „Gott der Gerechte. Ist das Ding an?“
„Nein. Ich habe es vor etwa einer Stunde ausgeschaltet.“
„Na, was für ein Glück. Diese Scheißkerle können nämlich alles hören und alles sehen“, sagte sie zornig. Anabel und Margarete wechselten einen kurzen Blick und zuckten unschlüssig mit den Schultern.
Der alten Frau war das nicht entgangen. Sie kicherte. „Sie denken, ich habe den Verstand verloren, nicht wahr? Wenn sie erstmal erfahren haben, worum es geht, wünschten Sie, dass es nur das gewesen wäre.“
„Wie meinen Sie das?“, wollte Anabel wissen.
„Reden Sie mit meinem Enkelsohn. Der kann Ihnen das erklären. Ich weiß nur, was die machen. Wie die das machen, kapiere ich nicht.“
„Okay“, sagte Anabel. „Ist er hier?“
Die Alte kicherte wieder. „Natürlich nicht. Gleich, als er erfuhr, um was es geht, hat er sich in Luft aufgelöst. Niemand wird ihn finden. So was kann mein Kleiner.“ Sie wirkte stolz.
„Aber wir müssen mit ihm reden“, beschwor Anabel die alte Frau.
„Ja, ja. Nur die Ruhe. Das weiß ich doch. Deshalb sind Sie beide ja hier. Ich bin sozusagen der Torwächter.“ Sie lachte meckernd. Offenbar hatte sie ihren Spaß.
Sie deutete auf Anabel und Frau Kofler und wackelte mit dem Finger. „Erst wenn ich sicher sein kann, dass Sie beide die sind, für die sie sich ausgeben, geht’s zur nächsten Tür.“ Sie kicherte erneut. „War die Idee meines Kleinen, das so zu machen.“
„Und, sind Sie davon überzeugt, dass wir die sind, für die wir uns ausgeben?“, fragte Margarete nach.
Die alte Frau machte eine wegwerfende Handbewegung. „Sie haben den richtigen Namen und sie hatten die richtigen Sachen dabei. Und wenn nicht, würden Sie beide jetzt als Vogelfutter auf dem Fußweg liegen“, sagte sie und wies mit dem Kinn zur Haustür. Dort lehnte eine bedrohlich aussehende Schrotflinte an der Wand.
„Ist die … geladen?“, wollte Margarete verunsichert wissen.
„Was denken Sie denn?“
Die alte Frau, inzwischen hatte sie sich als Hannelore Krüger vorgestellt, führte Anabel und Margarete in den Keller. Sie fanden sich in einem kühlen Raum wieder, der eine Art Arbeitszimmer zu sein schien. Es gab einen stabil aussehenden Arbeitstisch, auf dem ein Computer nebst Monitor stand. Die Regale an der Wand waren verstaubt und leer.
„Hier hat mein Kleiner immer gearbeitet, bevor er verschwinden musste“, erklärte Krüger.
Anabel hatte schon, als es die Treppe hinunter in den Keller ging, ihre Waffe gezogen und entsichert. Es war unwahrscheinlich, aber dennoch möglich, dass das hier eine perfide Falle war und die Alte sie glatt in einen Hinterhalt lockte.
„Was machen wir hier?“, erkundigte sich Anabel.
„Abwarten“, sagte Krüger, setzte sich vor den Computer und schaltete ihn an. Nachdem er hochgefahren war, erwachte auch der Bildschirm zum Leben. Anschließend gab Krüger ein paar Befehle ein, dann öffnete sich ein Fenster. Sie gab eine Reihe von Ziffern ein und der Computer baute eine Verbindung auf. Wenig später erschien auf dem Monitor das Gesicht eines Mannes. „Hallo, Oma“, sagte er.
„Hallo, Sebastian. Die Leute, von denen du gesprochen hast, sind nun hier.“