Kapitel 19

Braunschweig

W ie immer, wenn Anabel nicht weiterwusste, wandte sie sich an ihren Mentor, Harry Steinhardt. Allerdings würde sie einen Eiertanz veranstalten müssen, denn sie wollte ihn nicht zu einem Mitwisser machen. Dies könnte Harry in Gefahr bringen.

Die sehen alles, die hören alles, die wissen alles.

Anabel glaubte jedes einzelne Wort davon. Aber sie brauchte auch Hilfe. Möglicherweise einen anderen Blickwinkel. Eine Woche war vergangen, seit sie mit Margarete Kofler im Keller der Krügers mit Sebastian gesprochen hatte. Sieben Tage, die sie wie in Trance verbracht hatte. Plötzlich sah sie ihre täglichen Begleiter wie Smartphone oder Tablet mit vollkommen anderen Augen. Sie waren zu einer Bedrohung geworden. Das gleiche galt für Verkehrs- und Überwachungskameras. Anabel fühlte sich beobachtet, egal, wo sie sich aufhielt. Ihre Kollegen spürten die Veränderung Anabels und fragten besorgt nach, ob es ihr gut ginge. Ihr wurde klar, dass sie unter diesen Umständen nicht weiterarbeiten konnte und beantragte daraufhin Urlaub. Ihr Dienststellenleiter genehmigte ihn und Anabel hatte nun Zeit und Ruhe, um nachzudenken. Aber sie drehte sich im Kreis. Kam nicht weiter.

Also fuhr sie zu Harry. Der lebte seit seiner Pensionierung östlich von Braunschweig auf einem Resthof, den er liebevoll und mit der Geduld eines Menschen, der niemanden mehr etwas beweisen musste, renoviert hatte. Harry Steinhardt war mittlerweile fast siebzig Jahre alt. Sein gesamtes Berufsleben hatte er im Polizeidienst verbracht und es bis zum Präsidenten des Landeskriminalamtes Niedersachsens gebracht.

Als Anabel den Hof erreichte, wurde sie sofort von den beiden Hunden Steinhardts begrüßt. Sam und Lilly waren kräftige Labradore, der Rüde schwarz, die Hündin beige.

Harry beobachtete das Begrüßungsritual von seiner Terrasse aus.

Er war hochaufgeschossen und schlank und hatte kurzes graues Haar. Seine stahlblauen Augen konnten sanft dreinblicken, aber auch eiskalt sein. Je nachdem, mit wem er sprach. Er kam lächelnd auf Anabel zu und umarmte sie. Schließlich machte er einen Schritt zurück und musterte sie prüfend. „Spaziergang?“, lautete seine Diagnose.

Anabel lächelte dankbar. „Ja, sehr gerne. Aber lass bitte dein Handy im Haus.“

Keine Fragen, keine irritierten Blicke. Harry nickte einfach nur.

Anabel war dafür unendlich dankbar.

Sie gingen los. Die Hunde rannten kläffend voraus. Eine Weile genossen sie einfach nur schweigend die Natur. Es war Anfang März und zumindest in diesem Augenblick war ein Hauch von Frühling in der Luft.

„Hast du ein neues Buchprojekt?“, wollte Anabel schließlich von Harry wissen.

Seit einigen Jahren hatte Steinhardt seine Leidenschaft für das Schreiben von Krimis entdeckt und sogar schon zwei Romane in einem Verlag veröffentlicht.

„Ich denke darüber nach, in Zukunft nur noch Liebesromane zu schreiben, da es ja bald keine Verbrechen mehr gibt“, antwortete er und lachte. Dann blieb Harry stehen und sah Anabel an. Er strahlte Ruhe und Souveränität aus. Anabel fühlte sich sofort sicher und geborgen. So war es schon immer gewesen. An seinem Blick konnte sie erkennen, dass er genau wusste, dass sie aus einem anderen Grund hier war als sein neues Buchprojekt.

„Was bedrückt dich, Kleines?“, wollte er wissen.

Auch das war nie anders gewesen. Harry konnte sie lesen. Niemals war sie in der Lage gewesen, ein Geheimnis vor ihm zu verbergen. Plötzlich liefen ihr Tränen übers Gesicht.

„Ich hab ein Problem, Harry. Ein riesiges Problem.“

Sie setzten sich auf eine Bank und Anabel begann zu erzählen. Angefangen beim Anruf, der sie zum Tatort brachte, bis hin zu dem Chat mit Sebastian Krüger.

„Und was wirst du jetzt tun?“, wollte Harry wissen, als Anabel mit ihrer Zusammenfassung fertig war.

Anabel schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht.“

Er lächelte. „Das glaube ich dir nicht.“

Sie sah ihn an. „Wieso sagst du das?“

„Du hast mich gebeten, mein Handy zu Hause zu lassen. Also hast du von vornherein vorgehabt, darüber zu sprechen. Das wiederum bedeutet, dass du dich in den letzten Tagen intensiv mit diesem Problem beschäftigt hast. So wie ich dich kenne, hast zu zwei Optionen erkannt. Du weißt genau, was du tun wirst. Nämlich eine der beiden Optionen ziehen. Du weißt eigentlich auch schon, welche das sein wird. Du bist hier, um dir eine Bestätigung zu holen, dass es die richtige Wahl ist.“

Anabel sah Harry staunend an. „Wie machst du das?“

Er lächelte. „Du weißt, ich habe keine Kinder. Leider. Du warst schon immer sowas wie eine Ersatztochter für mich. Bist einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben. Das weißt du, oder? Seit wir uns kennen, waren wir immer ehrlich zueinander. Keine Lügen, keine Geheimnisse. Denn die Wahrheit findet immer ihren Weg. Immer. So wurdest du erzogen. So haben wir unser Leben verbracht. Und deshalb kenne ich dich. Ich weiß, wie du denkst und fühlst. Genau so, wie du weißt, wie ich denke und fühle.“

„Ich habe tatsächlich zwei Optionen“, sagte Anabel. „Die eine ist die, dass ich nichts tue. Einfach, weil ich nichts gegen sie ausrichten kann. Die andere Option ist, dass ich etwas gegen sie unternehme. Ich weiß nicht wie oder was. Ich weiß nur, dass ich etwas tun muss.“

„Und das macht dir Angst“, schlussfolgerte Harry.

„Wahnsinnige Angst“, gestand Anabel.

„Verständlich. Was könnte dir schlimmstenfalls passieren?“, wollte Harry wissen.

„Sie könnten mich töten. So wie sie Kofler getötet haben.“

„Das wollen wir natürlich um jeden Preis vermeiden“, sagte Harry.

Er schwieg einen Augenblick, dann sah er Anabel an. „Was hat Kofler falsch gemacht? Welchen Fehler hat er gemacht, dass sie ihm auf die Schliche gekommen sind?“

„Das weiß ich nicht. Ich kann nur Vermutungen anstellen“, antwortete Anabel.

„Dann mach das.“

„Entweder hat er die falsche Person ins Vertrauen gezogen, oder aber er hat ihre Fähigkeiten, Dinge zu hören und zu sehen, unterschätzt.“

„Wenn du nichts davon tust, ist die Wahrscheinlichkeit also sehr gering, dass dir dasselbe passiert, richtig?“

Anabel spürte neuen Mut. „Ja, das müsste stimmen.“

Müsste stimmen reicht nicht“, sagte Harry.

Anabel gab sich einen Ruck. „Es stimmt. Wenn ich diese Fehler vermeide, kann mir nichts passieren.“

Harry nickte. „Okay, jetzt wissen wir, was du vermeiden musst. Kommen wir nun zu dem, was du tun wirst. Hast du schon einen Plan?“

„Ich gehe in den Untergrund. Bekämpfe sie von dort“, sagte Anabel mit mehr Zuversicht, als sie tatsächlich empfand.

„Sei mir nicht böse, Kleines, aber das überlebst du keine Woche“, sagte Harry.

Anabel lächelte. Genau das hatte sie gebraucht.

Sie sah Harry aufmerksam an. „Was würdest du machen?“

„Ich muss gerade an einen Spruch denken. Ich glaube, er ist aus dem zweiten Teil von Der Pate . Da sagt Michael Corleone zu einem Mafiakollegen, der alle Feinde der Familie offen attackieren und umbringen will: Deine Freunde müssen sich sicher bei dir fühlen, aber deine Feinde noch mehr.“

„Du meinst, ich soll ihnen das Gefühl geben, dass ich voll auf ihrer Linie bin, oder?“

„Ja, genau das. Sie müssen sich sicher sein, dass du so funktionierst, wie sie es sich erhoffen. Dann verlieren sie das Interesse an dir.“

„Ich denke, das kriege ich hin.“

„Gut. Du sagtest, der Fall Kofler liegt beim BKA?“

Anabel nickte. „Ja. Warum fragst du?“

„Ich könnte mal nachforschen, ob sie ihn weiterverfolgen oder ob sie ihn still und heimlich zu den Akten gelegt haben.“

Anabel sah ihn besorgt an. „Du meinst, das geht? Ich meine, ohne das es auffällt? Ich will dich da nicht mit reinziehen.“

Harry lächelte breit. „Ich bin zwar uralt und habe längst die Hoffnung aufgegeben, eines natürlichen Todes zu sterben, aber nutzlos bin ich noch lange nicht. Ich verfüge nach wie vor über sehr gute Kontakte. Lass mich in den nächsten Tagen ein paar Anrufe machen.“

Er sah sie mit einer Eindringlichkeit an, die zum Fürchten war. „Und, wie geht’s sonst so? Gibt es jemanden in deinem Leben?“

Anabel wusste genau, was er mit dieser Frage meinte. Abgesehen von dem Psychologen, mit dem sie als Kind reden musste, war Harry noch immer der einzige Mensch, der ihr dunkles Geheimnis kannte.

„Ich schlage mich so durch, Harry. Ich habe die letzte Zeit versucht, übers Internet jemanden kennenzulernen. Das ist zwar anonymer als eine Kneipe, aber der Spaßfaktor ist gesunken.“

Harry lachte. „Du hast wenigstens noch welchen.“