Kapitel 31

Harz, drei Wochen später

V incent Dost hatte eine sichere Unterkunft gefunden. Nicht sehr komfortabel, kein schnelles Internet, aber dafür war die Gefahr, dass ihn jemand hier entdeckte, gleich null. Die Wahrscheinlichkeit, dass ihn hier irgendwer suchte, ebenfalls. Er lebte seit fast drei Wochen in einer verlassenen Blockhütte mitten im Harz. Hier hatte ein alter Bekannter von ihm bis vor kurzem etwas zwanzig Huskys gehalten und Schlittenhundfahrten angeboten. Er war vor ein paar Tagen für einen mehrmonatigen Aufenthalt nach Kanada aufgebrochen und Dost hatte ihm versprochen, sich um das Anwesen zu kümmern. Die Hunde hatte sein Bekannter zum Glück mitgenommen. Es gab hier fließendes Wasser und Strom. Im Wohnzimmer stand sogar ein Fernseher, der bei gutem Wetter über die Satellitenschüssel sechs Sender empfangen konnte. Daher wusste er, dass sie ihm den Mord an Margarete Kofler angehängt hatten. Der war in allen Nachrichten Thema Nummer eins gewesen.

Sein Diensthandy hatte er in Hannover auf das Dach eines vorbeifahrenden LKW geworfen. Hoffentlich war es dort liegengeblieben. Und hoffentlich war der LKW auf dem Weg nach Polen oder Rumänien. Sein Vorrat an Lebensmitteln würde mindestens zwei Monate reichen. Drei, wenn er sparsam war. Schnee lag keiner mehr, aber nachts wurde es hier immer noch empfindlich kalt. Aber er war am Leben und vorerst in Sicherheit.

Mehr konnte er im Moment nicht verlangen.

Wenn er mit der Außenwelt Kontakt aufnehmen wollte, musste er einen beschwerlichen zehn Kilometer-Marsch gen Osten wagen. Dort lag Osterode.

Hier konnte er sich mit seinem neuen Tablet über den TOR-Browser anonym ins Internet einloggen. Dost hatte für sich und Anabel Plate jeweils ein E-Mail-Konto unter vollkommen irrsinnigen Phantasienamen eröffnet.

Seine Adresse lautete harry_potter77@hotmail.com .

Die von Anabel hieß witwe_bolte33@hotmail.com.

Er ging aber noch einen Schritt weiter. Zwar war die Wahrscheinlichkeit, einen von ihnen mit dieser bescheuerten Adresse in Verbindung zu bringen, recht gering. Dennoch reduzierte er das Risiko nochmals, indem er vorgeschlagen hatte, die Nachrichten, die der jeweils andere erhalten sollte, nicht zu versenden, sondern als Entwurf abzuspeichern. Da beide die Zugangsdaten des anderen hatten, konnten sie sich in die Accounts einloggen, und die Nachrichten lesen. So hatte es auch die Al-Qaida getan.

Sehr erfolgreich, zum Leidwesen von NSA und CIA.

Dost und Anabel hatten erst ein einziges Mal Kontakt gehabt, seit er untertauchen musste. Mit einem Prepaid-Handy hatte sie die Nummer angerufen, die er ihr in seiner Nachricht hinterlassen hatte. Er hatte sie daraufhin zurückgerufen. Bei diesem Gespräch hatte Vincent ihr von seiner Idee erzählt, wie sie Nachrichten austauschen konnten, ohne dass man ihnen auf die Spur kommen konnte. In einer der ersten Nachrichten hatte Anabel ihn aufgefordert, über einen abhörsicheren Chat-Room in Internet Kontakt zu Sebastian Krüger aufzunehmen.

Krüger hatte Vincent zugesagt, ihm eine neue Identität inklusive eines falschen Ausweises zu besorgen. Dieser Ausweis würde einer intensiven Kontrolle nicht standhalten, daher musste Dost Ausflüge auf ein Mindestmaß beschränken. Natürlich würde Vincent auch sein Äußeres entsprechend anpassen, aber das wäre nur ein geringer Preis, um sich nicht länger tatenlos verstecken zu müssen. Aber es dauerte seine Zeit. Und die hatten sie nicht.

Anabel war es bislang noch nicht möglich gewesen, Henry Lasker einen Besuch abzustatten, da sie einige neue Fälle bearbeiten musste und trotz ihres Kniefalls immer noch befürchtete, unter Beobachtung zu stehen. Und die Aufgabe, mit Lasker Kontakt aufzunehmen, konnte sie unmöglich delegieren. Dost hatte sich am heutigen Tag wieder in Richtung Osterode aufgemacht, um mit Krüger zu chatten.

Als er das kleine Industriegebiet im Südosten der Stadt erreichte, suchte er sich eine ruhige Ecke und loggte sich ein. Da er den TOR-Browser nutzte, dauerte es quälend lange, bis eine Verbindung zustande kam.

Die Bildqualität war miserabel, aber Dost legte keinen großen Wert darauf, Krüger zu sehen. Er wollte ihn hören. Er erfuhr, dass es etwa eine Woche dauern würde, dann bekäme er seinen neuen Ausweis. Das Foto dafür hatte Krüger schon. Dost trug jetzt einen Vollbart und sein halblanges dunkles Haar war strohblond und kurz.

Auf den ersten Blick würde man ihn nicht erkennen.

Krüger hatte aber einen weiteren Trumpf im Ärmel. „Ich habe elektronische Karten sämtlicher Städte Deutschlands, die über zweihunderttausend Einwohner haben. Darin sind alle, und ich meine wirklich alle Überwachungskameras aufgeführt.“

„Okay …“

„Sag du mir, wo du hinwillst, und ich stelle dir eine Route zusammen, in denen es entweder gar keine, oder aber nur sehr wenige dieser Scheißdinger gibt. Krasse Sache, oder?“