Kapitel 38

Hannover

D as Ergebnis nach fast achtzehn Monaten Redemptio konnte sich sehen lassen. Über zweihundertfünfzig vereitelte Straftaten der höchsten Kategorie. Also Mord, schwere Raubüberfälle oder terroristische Anschläge. Auch vereinzelte Fälle von schwerer häuslicher Gewalt und sexueller Übergriffe konnten verhindert werden. Die Zahl der Verhaftungen und rechtskräftigen Verurteilungen waren um ein Vielfaches höher, da viele der verhinderten Straftaten von mehr als einem Täter verübt worden wären. Das Prinzip der Einsätze der PEG war immer dasselbe: Sie erfuhren mindestens eine Stunde vorher, dass etwas geschehen würde. Und sie wussten auch, wo und von wem die Straftat begangen wurde. Blessing musste zugeben, dass die PEG dank der Analysen des Programmes tatsächlich sehr viel erreicht hatte. So war es der PEG möglich, nahezu perfekt vorbereitet und rechtzeitig am Tatort zu erscheinen. Merkwürdigerweise hinterfragte niemand, wie das möglich war. Jeder war mit der lapidaren Aussage des Innenministeriums, man verfüge mit der PEG über ein sehr scharfes Schwert und ein Netzwerk von verdeckten Ermittlern und Informanten würde nun endlich Früchte tragen. Eine moderne Software zur Datenanalyse wurde nur am Rande erwähnt. Alle schluckten das, weil es gut und plausibel klang. Niemand vermutete, dass sich hinter diesem Erfolg eine äußerst fortschrittliche künstliche Intelligenz verbarg. Trotzdem hätte es Blessing bei seinem letzten Einsatz fast erwischt. Der inhaftierte Anführer eines arabischen Clans hatte im Gefängnis davon erfahren, dass ein rivalisierender Motorradclub wusste, wo der Clan Waffen, Bargeld und Drogen versteckt hatte.

Zu diesem Zweck hatte der Clan nämlich mehrere Lagerhallen und Garagen angemietet. Der Clanchef informierte seinen ältesten Sohn daraufhin am Telefon über die bevorstehende Aktion der Biker, sodass zwei Dutzend Mitglieder des Clans in Niedersachsen ausschwärmten, um ihren Besitz zu schützen. Redemptio hatte das Gespräch zwischen Vater und Sohn mitgehört, Alarm ausgelöst und sowohl den Clan als auch die Biker mittels Kameras überwacht. Als Sternberg das Team über den bevorstehenden Einsatz informierte, kamen Blessing erste Zweifel. Er kannte den Clan aus früheren Ermittlungen. Daher wusste er, dass der inhaftierte Vater überhaupt nichts mehr zu sagen hatte und im Gefängnis nur noch vor sich hinvegetierte. Er hatte keinen Einfluss mehr, keine Freunde. Blessing bezweifelte stark, dass sein ältester Sohn, der die Geschäfte übernommen hatte, auf eine Warnung seines Vaters gehört hätte. Er glaubte nicht einmal, dass der überhaupt ans Telefon gegangen wäre. Aber er behielt seine Zweifel für sich.

Blessing wurde der Einheit von Sternberg zugeteilt. Die Aufgabe ihres Teams bestand darin, eine Lagerhalle im Süden der Stadt zu überwachen und einzugreifen, sobald absehbar wäre, dass entweder etwas daraus entnommen wurde, oder aber die Biker eintrafen. Das Problem war, dass sie von außen nicht sehen konnten, was drinnen geschah. Sie verfügten zwar über kleine Drohnen, die mit Infrarotkameras ausgestattet waren, aber das genügte nicht. Als sie von einem Controller erfuhren, dass eine Horde Biker auf dem Weg zu ihnen war, entschied Sternberg, zuzugreifen. Sie schalteten das Clanmitglied aus, das vor dem Eingang der Halle postiert war. Damit war der Weg in die Lagerhalle frei. Drinnen sahen sie sich aber nach kurzer Zeit einer weitaus größeren Gefahr gegenüber. Es war ihnen gelungen, in der Halle drei weitere Männer des Clans auszuschalten. Dann erreichten sie den hinteren Teil des Gebäudes. Hier stießen Blessing und Sternberg auf den Anführer der Gruppe.

Es handelte sich bei ihm um den Sohn des ehemaligen Anführers. Als der Blessing erkannte, glomm blanker Hass in seinen Augen auf. Er griff sofort zur Waffe. Blessing war wie erstarrt. Sternberg reagierte schneller und erschoss den Mann. Blessing hatte sich jetzt Sternberg zugewandt, als hinter ihm plötzlich ein weiterer Angreifer auftauchte. Blitzschnell hob er die Waffe. Sternberg, der dachte, er würde auf ihn schießen wollen, sah Blessing ungläubig und entsetzt an.

Die Kugel aus Blessings Waffe zischte an seinem rechten Ohr vorbei und traf den Mann in die Stirn. Sternberg drehte sich um, sah den Mann am Boden liegen und wandte sich wieder Blessing zu. „Wow …“

Danach kehrten sie zurück in die Kaserne, schrieben ihren Bericht und waren anschließend in ein Lokal in der Innenstadt von Hannover gefahren, um ihren Sieg und ihr Überleben zu feiern. Richtig genießen konnte Blessing seinen Erfolg jedoch nicht. Der Streit mit Anabel beschäftige ihn noch immer. Er entschloss, sich bei ihr zu entschuldigen, und rief sie an. Sie verabredeten sich in einer anderen Kneipe, da Sternberg und der Rest des Teams nicht mitbekommen sollten, dass er sich mit seiner ehemaligen Kollegin traf.

Blessing behauptete, müde zu sein und verschwand.

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Fünfzehn Minuten nachdem er sein Team verlassen hatte, betrat er die Kneipe. In einer Ecke war noch ein Tisch frei und Blessing setzte sich. Anabel kam fünf Minuten später. Sie plauderten ein wenig um den heißen Brei herum, dann schließlich entschuldigte sich Blessing bei ihr. Anabel prostete ihm als Zeichen dafür, dass sie seine Entschuldigung annahm zu. Beide grinsten sich an und tranken.

Anabel wurde wieder ernst. „Wie gefällt es dir bei der PEG?“

„Gut. Ist ein ziemlich krasser Haufen.“

„Hattest du schon Einsätze?“

„Oh ja, allerdings.“

Anabel beugte sich vor. „Erzähl.“

Und Blessing erzählte. Vor allem berichtete er vom letzten Einsatz, denn immerhin waren diese Eindrücke noch sehr präsent.

Da Anabel den alten Clanchef ebenfalls kannte, war sie genauso überrascht von dessen Anruf bei seinem Sohn, wie Blessing es gewesen war, als er bei der Einsatzbesprechung davon erfuhr.

„Ich dachte, der Alte hätte nichts mehr zu melden“, gab Anabel ihrer Verwunderung Ausdruck.

Blessing nickte knapp. „Dachte ich auch. Wir haben uns wohl geirrt.“

„Kann ich mir eigentlich nicht vorstellen“, sagte Anabel leise.

Blessing hob das Glas. „Das ist jetzt nicht mehr wichtig. Der Sohn ist tot, ich bin noch am Leben und der Clan ist zumindest geschwächt, wenn nicht sogar am Ende.“

„Ich frage mich nur …“

Blessing stellte das Glas ab und wartete einen Moment, aber Anabel sprach nicht weiter.

„Was fragst du dich?“, bohrte er nach.

Die Nachbartische waren mittlerweile auch leer. Sie nickte in Richtung Smartphone von Blessing, das auf dem Tisch lag. „Kannst du das bitte ausmachen?“

Er zuckte mit den Schultern. „Klar.“ Blessing griff sich das Handy und schaltete es aus.

Anabel hatte ihr Smartphone bereits heruntergefahren und im Auto gelassen. Das machte sie neuerdings immer so.

Sie beugte sich vor. „Ich frage mich, wie das alles funktioniert. Ich meine, woher bekommt ihr die Informationen? Immerhin seid ihr immer da, bevor etwas passiert. Das ist doch nicht normal.“

Blessing sah sie staunend an. „Das ist doch kein Geheimnis. Hast du doch bestimmt auch schon gehört. Informanten und verdeckte Ermittler.“

Anabel schüttelte den Kopf. „Ich bitte dich. Die gibt’s schon seit hunderten von Jahren. Aber in den seltensten Fällen haben die dafür gesorgt, Verbrechen zu verhindern. Sie haben immer geholfen, sie aufzuklären.“

„Da ist was dran …“, sagte Blessing leise. Dann hellte sich seine Miene auf. „Diese Software, die eingesetzt wird. Ich nehme an, die macht das möglich.“

Anabel war verzweifelt. Sie hatte in den letzten Tagen immer wieder vergeblich versucht, Kontakt zu Dost aufzunehmen. Aber der reagierte nicht auf die Nachrichten, die sie ihm hinterlassen hatte. Krüger wusste ebenfalls nicht, wo Dost war oder wie es ihm ging. Auch zu ihm schien Dost den Kontakt abgebrochen zu haben. Harry hatte nichts herausgefunden, Dost war abgetaucht und sie hatte es auch nicht geschafft, Antworten zu erhalten. Einfach deshalb, weil sie nicht wusste, wem sie Fragen stellen sollte. Blessing war der Einzige, der möglicherweise etwas wusste. Aber er war jetzt bei der PEG. Daher war es gut möglich, dass er involviert war. Auf der anderen Seite hatte sie, bevor er zur Spezialeinheit wechselte, jahrelang mit ihm zusammengearbeitet. Also entschloss sich Anabel, all in zu gehen.

„Was genau weißt du über diese Software, die euch bei eurem Job hilft?“