Kapitel 50

Salzgitter

A nabel wusste noch immer nicht, was ihr eigentliches Ziel war. Der mysteriöse Anrufer hatte nur noch eine einzige Nachricht geschickt und sie aufgefordert, die A7 an der Abfahrt Salzgitter-Derneburg zu verlassen und in Richtung Salzgitter weiterzufahren. Nun hatte sie die Stadt fast erreicht und wusste nicht weiter. Neben ihr döste Blessing auf dem Beifahrersitz. Sie sah am Straßenrand das Hinweisschild eines Campingplatzes und bog rechts auf die Straße Bergmühle ab. Zur Linken sah sie nur Felder, rechts von ihr befand sich ein kleiner Wald.

„Was hast du vor?“, wollte Blessing verschlafen wissen.

„Ich brauche einen Kaffee und ‘ne Kleinigkeit zu essen. Und pinkeln muss ich auch“, antwortete Anabel.

Sie hatten eigentlich vorgehabt, in dem Lokal in Hannover eine Kleinigkeit zu essen. Dazu war es aber nicht gekommen. Seit ihrer Flucht aus Hannover hatten sie nichts mehr gegessen oder getrunken. Das machte sich bei ihr allmählich bemerkbar.

„Willkommen im Club“, nuschelte Blessing, der daraufhin ausgiebig gähnte und sich streckte. „Was für eine unbequeme Karre“, beschwerte er sich.

Anabel ignorierte ihn und konzentrierte sich auf die Umgebung. Vor sich sah sie das Hauptgebäude des Campingplatzes. Wenn es Kameras gab, dann irgendwo hier. Aber sie konnte keine sehen. Was sie nicht beruhigte. Schließlich hatte sie die Kamera in der Kneipe auch übersehen. Sie fuhr langsam bis zum Gebäude vor und blieb dann stehen.

Auf einem Parkplatz standen drei Fahrzeuge. Zwei hatten Kennzeichen aus Salzgitter, der andere war in Hannover zugelassen.

„Und nun?“, wollte Blessing wissen.

„Ich seh mich mal um“, antwortete Anabel und stieg aus.

Kaum hatte sie das Fahrzeug verlassen, spürte sie die Verspannung im ganzen Körper. Sie streckte sich und machte leichte Dehnübungen. Als sie merkte, dass sich ihre Muskeln langsam lockerten, ging sie auf den Eingang des Hauses zu. Sie drückte den Türgriff nach unten und stellte fest, dass die Tür offen war. Kurz blickte sie zurück zum Fahrzeug, dann betrat sie das Gebäude. Drinnen war es kühl. Das änderte sich, als sie den Gästeraum betrat. Hier brannte ein Kaminfeuer und verbreitete angenehme Wärme. Zu sehen war niemand, aber aus einem Raum hinter dem Tresen hörte sie das für eine Küche typische Geklapper von Töpfen.

„Hallo? Haben Sie geöffnet?“

Wenige Augenblicke später kam eine ältere Frau aus der Küche.

Sie lächelte Anabel freundlich an. „Guten Tag, junge Frau. Was kann ich für Sie tun?“

„Kann ich bitte zwei Kaffee haben? Und eine Kleinigkeit zu essen? Brot und Aufschnitt würden vollkommen genügen.“

„Ich kann Ihnen auch ein richtiges Essen anbieten. Was halten Sie von einem deftigen Erbseneintopf?“

Alleine bei dem Gedanken daran fing ihr Magen an zu knurren.

„Das wäre fantastisch“, antwortete Anabel. „Im Auto wartet mein Bekannter. Reicht es für zwei?“

Der Frau lachte. „Es reicht für eine ganze Kompanie.“

„Dann hole ich ihn“, sagte Anabel und verließ das Gebäude.

Eine halbe Stunde später hatten jeder zwei Teller des guten Eintopfes gegessen. Blessing lehnte sich zurück, unterdrückter ein Rülpsen und sah dann Anabel prüfend an.

„Dieser Lasker … du sagtest vorhin, du und Dost wolltet Kontakt zu ihm aufnehmen. Ist es dazu gekommen?“

Anabel konnte nicht erklären warum, aber auf einmal läuteten ihre inneren Alarmglocken. Laut und deutlich. Äußerlich ließ sie sich nichts anmerken, als sie den Kopf schüttelte.

„Nein. Ich habe es nicht geschafft. Und mein letzter Kontakt zu Dost liegt schon lange zurück. Seitdem er auf der Flucht ist, habe ich nichts mehr von ihm gehört.“

Das entsprach sogar der Wahrheit. Aber hätte sie gestern mit Vincent telefoniert, wäre ihre Antwort an Blessing genauso ausgefallen.

„Verstehe …“, sagte Blessing leise.

„Warum fragst du?“

„Ich dachte gerade, dass es vielleicht dieser Lasker ist, der dir die Nachrichten geschrieben und uns hierher gelotst hat.“

Das war gelogen. Anabel erkannte das sofort.

„Warum sollte er das tun? Und woher sollte er diese Fähigkeiten haben?“, fragte sie Blessing. Sie wollte, dass er weiterlog. Vielleicht entlarvte er damit die Wahrheit. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass ein Lügner sich selbst überführte und immer mehr Tatsachen in die Lügen mischte. Und manchmal konnte man so schließlich an der Wahrheit kratzen.

Blessing zuckte mit den Achseln. „Ach, ich weiß auch nicht. Ich versuche einfach ein bisschen Licht ins Dunkle zu bringen. Und dieser Lasker scheint mir jemand zu sein, der über enorme Mittel verfügt.“

Obwohl das logisch klang, glaubte Anabel ihm kein Wort.

Er beugte sich vor. „Es könnte natürlich auch Dost sein, der hier versucht, Kontakt zu dir aufzunehmen.“

Anabel schüttelte den Kopf. „Wir hatten eine andere Methode, um in Verbindung zu treten.“

„Ach. Und welche war das?“

Anabel hatte schon eine spitze Bemerkung auf den Lippen, als das Smartphone den Eingang einer Nachricht signalisierte. Sie nahm das Handy und las.

Fahren Sie in den Harz. Nach Osterode. Ich melde mich bei Ihnen, wenn Sie dort angekommen sind. Versuchen sie, Ihren Begleiter loszuwerden. Er spielt ein doppeltes Spiel. Sie dürfen ihm nicht vertrauen.

Anabels Herz schlug heftig in ihrer Brust. Ihr Instinkt sagte ihr, dass sie diesem Unbekannten vertrauen konnte. Und das bedeutete, dass Blessing doch nicht zu den Guten gehörte. Verdammt. Sie hatte so gehofft, dass es anders wäre. Es hätte ihr Halt gegeben zu wissen, dass einer der ihren auf der richtigen Seite war. Auf ihrer Seite.

Versuchen sie, ihren Begleiter loszuwerden.

Tolle Idee. Aber wie?

„Und, was schreibt er?“

„Es könnte auch eine sie sein“, meinte Anabel, um Zeit zu gewinnen.

„Ja klar, du hast recht. Also, was schreibt es ?“

„Wir sollen nach Kassel fahren“, log sie.

„Nach Kassel? Komisch. Warum sind wir dann von der A7 runter?“

„Hat er nicht geschrieben.“

„Und dann?“

„Wenn wir in Kassel sind, wird er sich wieder melden.“

Blessing sah Anabel forschend an. „Mehr hat er nicht geschrieben?“

„Nein.“ Anabel stand auf. „Ich geh jetzt endlich aufs Klo. Und danach werde ich eine rauchen.“

Ohne auf seine Antwort zu warten, setzte sie sich in Bewegung. Während sie in Richtung Toilette ging, rasten ihre Gedanken. Anabel fühlte sich, als säße sie in einem Kettenkarussell, das sich immer schneller drehte und ihr keine Chance ließ, auszusteigen. Ihr wurde regelrecht schwindelig. Wer war Freund, wer war Feind? Wenn der Unbekannte recht hatte, und Blessing zu den Bösen gehörte, wurde er auf sie angesetzt, um sie auszuschalten?

Oder war er bei ihr, um an den mysteriösen Unbekannten heranzukommen?

Nein, das war Quatsch. Von dem hatte sie ja bis vor kurzem selbst nichts gewusst. Und Blessing hatte natürlich recht mit seiner Frage, woher der Unbekannte das Wissen und die Fähigkeiten besaß, ihnen zu helfen. Er schien über die gleichen Fähigkeiten zu verfügen wie Redemptio.

Wie waren nochmal seine Worte gewesen …?

Mir stehen alle halbe Stunde genau vier Minuten und zwanzig Sekunden zur Verfügung, um mit Ihnen zu kommunizieren. Danach übernimmt Redemptio die vollständige Kontrolle.

Bedeutete dies nicht, dass er Zugriff auf das Programm hatte?

Natürlich. Alleine der Satz: Danach übernimmt Redemptio die vollständige Kontrolle, zeigte doch, dass er in der Lage war, sie zu … umgehen? Manipulieren? Egal was, er hatte Möglichkeiten, die Gefahr zu minimieren.

Anabel hatte inzwischen die Toiletten erreicht und sich erleichtert. Sie verließ die Kabine und sah sich um. Es gab ein Fenster, das groß genug sein wüsste, um durchzuklettern.

Sie überprüfte den Fenstergriff und stellte erleichtert fest, dass sich der Flügel vollends öffnen ließ. Ohne weiter nachzudenken schwang sie sich hindurch und sprang auf der anderen Seite auf den Boden. Sie orientierte sich und machte sich auf den Weg zum Wagen. Schlüssel, Smartphone und Waffe hatte sie dabei. Als sie gerade um die Ecke biegen wollte, sah sie Blessing, der am Wagen lehnte und auf sie wartete.