Kapitel 63

Berlin

M an sah Staatssekretär Essling nur äußerst selten rennen. Heute aber rannte er durch den langen Flur des Ministeriums, als wäre der Leibhaftige hinter ihm her. Essling beeilte sich so sehr, weil Ministerin Schneider ihn sprechen wollte. Er hoffte, der Grund, weshalb sie ihn sprechen wollte, hatte nichts mit dem zu tun, was er vor nicht einmal einer Stunde erfahren hatte. Da hatte der Leiter der PEG ihn angerufen.

„Fangen wir jetzt schon an, unsere eigenen Leute umzubringen?“

„Wovon reden Sie da, Mann?“

„Verarschen Sie mich nicht, Essling“, hatte Bräuer ihn angeschnauzt.

„Jetzt beruhigen Sie sich bitte und verraten mir, was passiert ist.“

„Rainer Blessing ist tot.“

„Was um Himmels Willen ist passiert? Ich dachte, er hätte Hausarrest.“

„Hatte er auch. Aber er hat sich nicht darangehalten und ist spazieren gegangen.“

„Davon stirbt man aber nicht“, hatte Essling bemerkt.

„Nein. Aber wenn Ihnen dabei zwei Tonnen Beton auf den Kopf fallen, dann schon.“

„Was? Was sagen Sie da?“

„Ein Baukran hat sich selbständig gemacht und seine Ladung auf Blessing abgeworfen. Da blieb nicht mehr übrig, als ein blutiger Fleck auf dem Asphalt. Die von der Rechtsmedizin haben einen Teil einer Kreditkarte gefunden. Anhand der Nummer wurde er identifiziert. Die DNA-Analyse dauert noch ein bisschen, aber es ist mit ziemlicher Sicherheit Blessing.“

„Und der Kran …? Ich meine, wie …?“

„Der Kranführer hat ausgesagt, dass sich sein Kran wie von Geisterhand bewegt hat. Kommt Ihnen das bekannt vor?“

Das tat es natürlich. Die beteiligten Fahrer beim tödlichen Unfall von Ansgar Engelbrecht hatten dasselbe über ihre Autos ausgesagt.

„Redemptio …“, hatte Essling leise gesagt.

„Was ist da bei Ihnen los, Essling? Wenn Sie nicht den Befehl gegeben haben, Blessing auszuschalten, wer dann?“

Und nun wollte die Innenministerin ihn sprechen. Das konnte kein Zufall sein. Als er ihr Büro erreichte, blieb er keuchend stehen und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Schließlich betrat er das Vorzimmer. Die Sekretärin der Ministerin betrachtete ihn, als wäre er ein besonders ekelerregendes Insekt.

„Sie können gleich rein“, sagte sie kühl. „Die Frau Ministerin erwartet Sie.“

Ohne anzuklopfen, öffnete er die Tür und betrat das Büro von Sybille Schneider. Die saß nicht an ihrem Schreibtisch, sondern hatte es sich auf einer Couch in der Sitzecke bequem gemacht. Als sie Essling sah, bedeutete sie ihm mit einem Handzeichen, zu ihr zu kommen. Essling nahm ihr gegenüber Platz und sah sie erwartungsvoll an.

„Sie sehen ein klein wenig angespannt aus, Jochen“, bemerkte die Innenministerin.

„Viel zu tun. Der übliche Wahnsinn“, gab er zur Antwort.

Sybille Schneider schenkte sich und ihrem Gast je eine Tasse Kaffee ein. Gedankenverloren verrührte sie die Milch in ihrer Tasse. „Wir beide waren in der Vergangenheit ein verdammt gutes Team“, sagte sie schließlich.

Essling nickte bestätigend. „Ja, das ist wahr.“

„Ich weiß nicht, ob ich es ohne Sie bis ins Innenministerium geschafft hätte.“

Garantiert nicht, dachte er. „Ganz gewiss hätten Sie das“, sagte er.

„Wie dem auch sei. Ich habe nachgedacht. Noch immer finde ich es nicht gut, dass Sie Redemptio einfach so scharfschalten ließen, ohne sich vorher mit mir abzustimmen …“

„Das war ein großer Fehler“, fiel er Schneider ins Wort.

„Ja, das war es. Aber es ist so, wie es ist. Und wir müssen nun das Beste daraus machen. Und das gelingt uns nur, wenn wir zusammen, und nicht gegeneinander arbeiten.“

Essling nickte heftig. „Absolut. Das sehe ich genauso.“

Schneider hob warnend eine Hand. „Aber Jochen, agieren Sie nie wieder hinter meinem Rücken. Ich will über alles umfassend informiert sein. Haben wir uns verstanden?“

„Ja. Ich werde niemals wieder eine Entscheidung treffen, ohne mich vorher mit Ihnen abzustimmen. Das schwöre ich.“

Sybille Schneider nickte zufrieden. „Nun denn, geben Sie mir ein Update.“

Esslings Gedanken rasten. Sollte er der Ministerin jetzt wirklich reinen Wein einschenken? Ihr alles gestehen? Wie würde sie reagieren? Würde sie hysterisch werden und blind um sich schlagen, wodurch sie nur noch alles schlimmer machen würde, oder wäre sie die Ruhe selbst, so, wie er sie kannte? Egal, er musste es darauf ankommen lassen.

„Schalten Sie bitte Ihr Handy aus. Ich werde meines auch abschalten. Auch Ihren Computer müssen Sie bitte runterfahren.“

Sybille Schneider sah Essling erstaunt an.

„Es ist wichtig, Sybille“, sagte er und schaltete sein Handy aus.

Sie tat es ihm gleich. Dann stand sie auf, ging zu ihrem Schreibtisch und fuhr den Computer herunter. Sie kehrte zu ihm zurück und nickte Essling auffordernd an.

„Wir haben offenbar die Kontrolle über Redemptio verloren.“

+

Sybille Schneider erstarrte. „Oh mein Gott“, sagte sie erschrocken. Sie musste an all das denken, was Henry ihr erzählt hatte. Der verunglückte LKW, der tote Journalist. Und schließlich die explodierte Finca auf La Palma.

„Soll das etwa heißen, dass niemand, auch nicht Sie, den Befehl dazu gegeben hat, all diese Menschen zu töten?“

„Niemand gab den Befehl, Ansgar Engelbrecht zu töten“, antwortete er ausweichend.

Sybille Schneider sah ihn prüfend an. „Und was ist mit den Koflers? Und den drei jungen Männern, die Redemptio erfunden haben?“

Er erwiderte ihren Blick, schwieg aber.

Ministerin Schneider wurde blass. „Großer Gott, Jochen … was haben Sie getan?“

„Was nötig war. Die drei Entwickler stellten Forderungen, die nicht zu erfüllen waren. Und sie drohten damit, an die Öffentlichkeit zu gehen. Genauso wie Kofler. Sie waren doch dabei, als er uns drohte. Und seine Frau? Was soll ich sagen, Kofler hatte Vorbereitungen für den Fall getroffen, dass ihm etwas zustoßen würde. Seine Frau kam in den Besitz der von Kofler zusammengestellten Beweise und wurde ebenfalls zu einer Bedrohung. Ich habe das getan, um Sie zu beschützen.“

Sybille Schneider hatte Mühe, sich zu beherrschen. Sie atmete mehrmals tief ein und wieder aus. Es war also noch viel schlimmer als angenommen.

Essling hatte all das nicht getan, um seinen persönlichen Ehrgeiz zu befriedigen, sondern um sie zu beschützen. Das machte sie in ihren Augen zu einer Mitschuldigen. Unwissenheit schützt nicht vor Bestrafung.

„Und was meinen Sie, wenn Sie sagen, Sie hätten die Kontrolle über Redemptio verloren?“

Essling erzählte ihr von Rainer Blessing, dem erfolglosen Versuchen, ihn von der Fahndungsliste zu nehmen und seinem furchtbaren Tod, der auf erschreckende Weise dem LKW-Unfall glich, bei dem der Journalist ums Leben gekommen war.

Voller Entsetzen hörte Sybille Schneider ihm zu.

Als er geendet hatte, schüttelte Schneider voller Abscheu den Kopf. „Die Geister, die ich rief.“

„Ja, da ist was dran“, erwiderte Essling leise.

„Gibt es irgendetwas, was wir tun können, um diese Höllenmaschine abzustellen?“

Essling sah sie voller Verzweiflung an. „Ich habe mit Experten gesprochen. Unabhängig davon, dass die sich nicht einmal vorstellen können, dass es so eine Software überhaupt gibt, wissen sie nicht, was wir tun können.“

Sybille Schneider sackte in sich zusammen. „Also sind wir in den Händen einer Maschine, von der wir nicht wissen, was sie als Nächstes plant. Möglicherweise ist die gerade dabei, darüber nachzudenken, dass wir Menschen entbehrlich sind, und schmiedet einen Plan, uns auszurotten.“

„Sybille, so weit würde ich nun nicht gehen. Immerhin besteht ihre einprogrammierte Aufgabe darin, die Verbrechensbekämpfung zu optimieren. Nicht mehr, nicht weniger.“

Sybille Schneider sah ihren Staatssekretär staunend an.

„Ja Jochen. Ganz genau das meine ich. Was, wenn Redemptio beschließt, dass die beste Methode, Verbrechen zu verhindern, die ist, gar keine Verbrechen mehr zuzulassen. Nämlich, indem die Menschheit vernichtet wird. Keine Menschen, keine Verbrechen. Eine unschlagbare Logik. Und das zeichnet Redemptio doch aus, oder? Ihre unbestechliche Logik.“

Obwohl Sybille Schneider große Angst verspürte, genoss sie das Mienenspiel Esslings. Zuerst Unglaube, fast schon Belustigung. Darauf folgte Nachdenklichkeit, die von Erstaunen und schließlich blankem Entsetzen abgelöst wurde.

„Oh mein Gott, Sie haben recht …“

„Wir müssen einen Krisenstab einrichten“, sagte Sybille Schneider tonlos. „Wir brauchen Experten. Richtige Fachleute, die sich mit einer solchen Bedrohung auskennen …“ Ihre Gedanken überschlugen sich. Dann traf sie eine Erkenntnis wie ein Faustschlag. „Oh Mann, wir müssen den Kanzler informieren …“

Als Essling ihr Büro verlassen hatte, holte sie ihr Kryptohandy aus der Schublade, vergewisserte sich, dass noch immer alle elektronischen Geräte ausgeschaltet waren, und wählte schließlich die Nummer von Henry Lasker.

„Sybille, was ist passiert?“, meldete er sich sofort.

Sie erzählte ihm von ihrem Gespräch mit Essling.

„Er hat also gesagt, dass sie die Kontrolle über das Programm verloren haben“, sagte Lasker. Sybille konnte förmlich sehen, wie er mit dem Kopf schüttelte. „Sybille, ihr hattet zu keinem Zeitpunkt die Kontrolle. Aber egal. Was macht ihr jetzt?“

„Das ist das Problem“, erklärte Sybille Schneider. „Ich muss den Kanzler informieren.“

„Wie wird er reagieren?“

Sie holte tief Luft. „Nicht gut. Er wird das Heft des Handelns in die Hand nehmen und damit alles nur noch schlimmer machen.“

„Das musst du unter allen Umständen verhindern“, sagte Lasker mit Dringlichkeit in der Stimme.

„Das kann ich nicht.“