Kapitel 64
Berlin
D er Bundeskanzler starrte seine Innenministerin schweigend an. Das tat er nun schon eine geschlagene Minute. Sybille Schneider kannte diese Taktik von Kleinert. Immerhin arbeitete sie nun schon mehr als fünfzehn Jahre lang mit ihm in unterschiedlichen Positionen zusammen. Auf viele wirkte sein taktisches Schweigen einschüchternd. Aber wie sie feststellte, nutzte sein Verhalten sich irgendwann ab. Sie empfand es nicht mehr als einschüchternd. Auf sie wirkte es ermüdend.
„Möchten Sie auch mal etwas dazu sagen, Armin?“
„Ich denke noch darüber nach, ob ich Sie rausschmeiße, oder aber ob ich Ihren Rücktritt fordere.“
„Wenn Sie einen Sündenbock brauchen, stehe ich Ihnen zur Verfügung. Aber oberste Priorität sollte jetzt und hier diese verfluchte Software haben, die eine echte Gefahr darstellt.“
Kleinert machte eine wegwerfende Handbewegung. „Wir ziehen einfach den Stecker aus der Dose und damit hat sich das Problem erledigt.“
Sybille Schneider war über so viel Ignoranz entsetzt. „Haben Sie mir nicht zugehört, Armin? Das wurde schon versucht. Von Experten, nicht von mir. Das funktioniert nicht.“
„Das wird schon klappen“, entgegnete der Kanzler zuversichtlich. „Man muss nur die richtigen Leute darauf ansetzen.“
„Herr Bundeskanzler, ich gebe zu, dass ich Sie in eine unmögliche Situation gebracht habe. Sie verfügen dadurch nicht über ausreichend Informationen, um eine fundierte Entscheidung treffen zu können. Daher empfehle ich …“
„Ich werde dem Bundespräsidenten Ihre Entlassung empfehlen. Das ist meine Entscheidung. Und sie basiert auf fundierten Erkenntnissen. Guten Tag, Frau Schneider.“
Da er davon ausging, dass das Gespräch beendet war, widmete sich der Kanzler einer Akte, die vor ihm auf dem Tisch lag. Allerdings hatte Sybille Schneider nicht vor zu gehen.
Bundeskanzler Kleinert hob den Blick. „Ist noch etwas?“
„Das Einzige, was Sie interessiert, ist die Schuldfrage. Dass uns die Welt gerade um die Ohren fliegt, ist Ihnen vollkommen gleichgültig.“
„Erlauben Sie mal, wie reden Sie mit mir …?“
„Angemessen, Herr Bundeskanzler . Absolut angemessen. Sie haben keine Ahnung, mit was wir es hier zu tun haben. Dieses Programm hat bereits zwei Menschen getötet.“
Kleinert schnaubte. „Wie soll ein Computerprogramm Menschen umbringen? Hören Sie sich eigentlich selber zu?“
„Im Gegensatz zu Ihnen weiß ich verdammt gut, was ich sage. Redemptio ist eine selbstlernende künstliche Intelligenz, kein einfaches Computerprogramm. Und es hat zwei Menschen umgebracht, indem sie sich in die Bordelektronik eines LKW, mehrerer PKW und eines Baukrans gehackt hat, um diese zu manipulieren. Sie tragen einen Herzschrittmacher, richtig? Machen Sie nur einen einzigen Fehler, wird Redemptio Sie als Bedrohung ansehen und Sie töten. Wahrscheinlich, indem sie Ihren Schrittmacher ausschaltet. Einfach so. Damit haben wir es zu tun. Und wir können das Programm nicht abstellen, geht das in Ihren Schädel? WIR.KÖNNEN.ES.NICHT.ABSTELLEN.“
Der Kanzler griff sich unwillkürlich an die linke Brustseite.
„Möchten Sie immer noch, dass ich gehe?“
„Sybille, ich kann Ihnen nicht mehr vertrauen. Dementsprechend kann ich auch nicht mehr mit Ihnen arbeiten.“
Auf dem Gesicht des Kanzlers erschien ein hämisches Grinsen. „Sie dachten, die Erfolge dieser dummen Polizeireform würden Sie ins Kanzleramt befördern, richtig? Aber daraus wird nichts. Sie haben nun endlich Ihr wahres Gesicht gezeigt, Sybille. Und es ist hässlich.“
Der Kanzler lehnte sich zurück und verschränkte die Hände vor der Brust. „Wissen Sie, bis eben dachte ich, es wäre an der Zeit, meine Karriere als Politiker zu beenden. Endlich Privatmann sein. Vielleicht ein Buch schreiben, was weiß ich. Aber nun, irgendwie verspüre ich so etwas wie … einen zweiten Frühling? Ja, dass trifft es gut. Ich bin voller Energie. Voller Tatendrang. Ich glaube, ich werde noch mal antreten. Und die Wähler werden mich lieben, wenn ich denen erkläre, vor welcher Gefahr ich sie bewahrt habe.“
„Sie störrischer dummer Mann“, sagte Schneider leise.
„Wie bitte …?“
„Sie werden uns alle umbringen.“
Mit diesen Worten stand sie auf und verließ das Büro des Kanzlers.