Kapitel 65

Berlin

U nmittelbar nachdem Sybille Schneider das Kanzleramt verlassen hatte, begann der Kanzler damit, seine Truppen zu formieren. Als Erstes rief er Staatssekretär Essling zu sich.

„Sie sind über das Dilemma mit dieser Software informiert, nehme ich an?“

Essling nickte dienstbeflissen. „Jawohl, Herr Bundeskanzler. Leider war es mir nicht möglich, Sie einzuweihen. Ich hatte der Ministerin gegenüber ständig erwähnt, wie wichtig es sei, Sie zu involvieren, aber … na ja, Sie kennen sie ja selber …“

Kleinert machte eine Handbewegung, als würde er eine lästige Fliege verscheuchen. „Sybille Schneider wird als Innenministerin entlassen. Sie muss uns nicht mehr kümmern. Jetzt geben Sie mir bitte einen vollständigen Bericht. Wo genau ist das Problem?“ Bevor Essling antworten konnte, hob der Kanzler mahnend eine Hand. „Und bitte, verschonen Sie mich mit der Science Fiktion-Geschichte über eine außer Kontrolle geratene Maschine wie aus dem Film Terminator. Das hat die Schneider schon versucht.“

Essling begriff, dass der Kanzler nichts über Probleme hören wollte, von denen er ohnehin nichts verstand. Vielmehr wollte er Lösungen präsentiert bekommen. Essling dachte fieberhaft nach. Schneider war Geschichte. Auf sie konnte er nicht mehr zählen. Hätte er wahrscheinlich eh nicht gekonnt. Das Problem war, dass sie tatsächlich enorme Schwierigkeiten mit Redemptio hatten. Aber das wollte der Kanzler nicht hören.

Ihm bot sich hier eine einmalige Chance.

Durch Redemptios Fähigkeiten, alles zu sehen und zu hören, hatte Essling in den letzten Monaten über jeden politischen Gegner und jeden einflussreichen Wirtschaftsboss umfangreiche Dossiers angelegt. Jetzt war er es, der alles wusste.

Essling kannte die dunklen Seiten eines jeden Freundes oder Feindes. Er wusste genau, wer Leichen im Keller versteckt hatte. Im übertragenen, aber auch im wörtlichen Sinne. Dem Kanzler jetzt die volle Wahrheit zu erzählen, wäre kontraproduktiv. Zumal er dem ohnehin keinen Glauben schenken würde. Das hatte Kleinert selbst klar zum Ausdruck gebracht. Essling traf eine Entscheidung. Er würde die Schwierigkeiten mit Redemptio dem Kanzler gegenüber kleinreden. Parallel dazu würde er das tun, was Sybille Schneider vorgehabt hatte; einen Krisenstab gründen, der sich auf professionelle und diskrete Art dem Problem widmen würde. So könnte er die Zügel in der Hand behalten und würde das Programm als wertvolle Quelle nicht verlieren.

Er lächelte den Kanzler an. „Herr Bundeskanzler, es handelt sich hier um einen kleinen Fehler in der Programmierung der Software. Nichts Weltbewegendes. Ich gehe davon aus, dass wir das innerhalb der nächsten zehn Tage in den Griff bekommen werden.“

„Und was ist mit dieser vollkommen verrückten Behauptung Schneiders, diese Software würde Leute umbringen?“

Essling sah Kleinert leicht amüsiert an. „Frau Schneider geht es nicht besonders gut, Herr Bundeskanzler. Vielleicht die Wechseljahre, keine Ahnung. Natürlich ist an dieser Bemerkung nichts dran.“

Kleinert wirkte merkwürdigerweise ein klein wenig enttäuscht. „So so … also geht keine Gefahr von dem Programm aus“, murmelte er. „Nichts, vor dem ich die Menschen schützen könnte …“

Essling verstand. Der Kanzler erlebte gerade eine Art Wiederauferstehung. Zumindest jetzt, in diesem Augenblick, war seine Amtsmüdigkeit verschwunden und er hatte gehofft, auf eine Rettungsmission gehen zu können. Für eine nächste Amtsperiode.

„Herr Bundeskanzler, sagen Sie mir, was Sie möchten, und ich werde dafür sorgen.“

Kleinert hob den Kopf und sah Essling an.

Es war, als würde der Kanzler ihn gerade erst richtig wahrnehmen.

„Eine Frau hätte so etwas niemals gesagt“, meinte Kleinert und musterte Essling prüfend.

„Frauen ticken einfach anders, Herr Bundeskanzler. Wo gehandelt werden muss, wägen sie ab. Wo Entscheidungen getroffen werden müssen, können sie sich nicht dazu durchringen.“

„Darauf trinke ich, Essling. Wollen Sie auch?“

„Sehr gerne.“

Beschwingt stand der Kanzler auf und trippelte mit kleinen Schritten zur Schrankwand. Er öffnete eine Tür und dahinter offenbarte sich eine voll ausgestatte Bar. Kleinert füllte zwei Gläser mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit und kehrte mit den Gläsern zu seinem Schreibtisch zurück.

Er prostete Essling zu. „Auf eine erfolgreiche Zusammenarbeit, Herr Innenminister.“

Essling hätte sich fast verschluckt. „Danke“, krächzte er.

„Und jetzt erkläre ich Ihnen, was mir vorschwebt.“