Kapitel 76
Braunschweig
V incent war Anabel in sicherem Abstand gefolgt. Allerdings ging er nicht hinter ihr her, sondern benutzte den Pfad, der oberhalb des Schotterweges verlief, den Anabel entlangschritt. So konnte er sie sehr gut im Blick behalten, ohne Gefahr zu laufen, von ihr entdeckt zu werden. Ihm war noch immer nicht klar, aus welchem Grund er Anabel nicht aus den Augen lassen sollte, ging aber davon aus, dass er es erfahren würde, wenn es so weit war. Alle zehn oder fünfzehn Meter beleuchtete eine Laterne den Weg unter ihm. Durch seine erhöhte Position sah Vincent die drei Männer noch vor Anabel. Als sie stehenblieb und mit ihnen redete, dachte er zuerst, sie hätte sich mit ihnen verabredet. Sein zweiter Gedanke war, dass er gerade Augenzeuge eines Drogengeschäftes wurde.
Er versuchte, näher heranzukommen, ohne entdeckt zu werden. Vorsichtig pirschte er nach vorn. Vincent wollte sich nicht zu früh zu erkennen geben, da die Gefahr bestand, dass die Typen bewaffnet waren. In diesem Moment machten die drei Männer einen Schritt auf Anabel zu. Hören konnte er sie nicht, aber als er sah, dass Anabel ihr Gewicht auf das hintere Bein verlagerte, wusste Vincent, dass es sich keineswegs um einen Drogendeal handelte, sondern um eine ernste Bedrohung. Er machte sich bereit einzugreifen, als Anabel zu seiner Verblüffung angriff. Fassungslos sah er dabei zu, wie sie die drei Männer attackierte und in einer unfassbaren Geschwindigkeit brutal und entschlossen fertig machte. Langsam stand er auf und ging vorsichtig die Böschung hinunter. Als sie ihn entdeckte, erschien ein feines Lächeln in ihrem Gesicht.
„Lass mich raten: Harry schickt dich.“
„Er bat mich, auf dich aufzupassen. Ohne mir den Grund dafür zu verraten“, sagte Vincent und stellte sich neben sie. Er blickte auf die am Boden liegenden Männer. „Aber wie es aussieht, brauchst du niemanden, der auf dich aufpasst.“
„Sie hätten zu viert sein können“, meinte Anabel.
„Dann wäre ich zur Stelle gewesen.“
Anabel lächelte. „Mein Held.“
„Und?“, wollte Vincent wissen und bot ihr einen Arm an. „Wollen wir?“
„Aber gerne“, sagte Anabel.
Ohne den auf dem Boden liegenden Männern eines Blickes zu würdigen, setzten die beiden ihren Weg fort. Als sie den Wanderweg verlassen hatten und wieder auf Asphalt liefen, blieb Anabel plötzlich stehen und blickte Dost prüfend an. „Harry hat dir wirklich nicht verraten, warum du mir folgen sollst?“
Vincent schüttelte den Kopf. „Nein. Ich hab gefragt, aber er wollte mir den Grund nicht nennen.“
Anabel lächelte. „Er ist ein wirklich guter Freund.“
„Verrätst du mir, was los ist?“
„Lass uns was trinken gehen“, schlug Anabel anstatt einer Antwort vor.
Sie gingen bis in die Innenstadt und setzten sich schließlich an einen freien Tisch im Außenbereich einer Kneipe am Bohlweg. Es war fast Mitternacht, aber noch immer angenehm warm. Beide bestellten sich ein Bier.
„Ich war weder auf der Suche nach Sex, noch wollte ich Drogen kaufen“, sagte Anabel unvermittelt, als sie ihren ersten Schluck des frisch gezapften Bieres genommen hatten.
„Jetzt bin ich aber enttäuscht“, antwortete Vincent.
Anabel musste grinsen. „Weil ich keine Drogen nehme?“
Vincent hustete. „Genau ...“
„Ich habe ein Problem damit, meine Impulse zu regulieren.“
„Das klingt wie aus einem Handbuch für Physik.“
Anabel lachte. „Es bedeutet, dass ich ...“
Vincent hob eine Hand. „Anabel, das geht mich wirklich nichts an …“
„Ist dir das peinlich?“
Vincent dachte darüber nach. „Nein. Eigentlich nicht.“
„Gut.“
„Darüber hinaus kann ich mir nach der Vorstellung von vorhin einigermaßen vorstellen, um was es geht.“
„Ach ja?“
Vincent nickte. „Ja. Du hättest dem armen Kerl nicht die Schulter auskugeln müssen. Der war schon erledigt. Du bist ein Mensch, der seine Emotionen nicht wirklich im Griff hat. Ich frage mich, wie du es damit geschafft hast, Polizistin zu werden.“
„Bist du immer so ehrlich?“
„Ja.“
„Das finde ich ziemlich sexy. Um deine Frage zu beantworten; es war Harry. Er hat es mir ermöglicht, im Staatsdienst zu bleiben. Unter bestimmten Bedingungen, versteht sich.“
„Und diese Bedingungen waren psychologische Betreuung und Medikamente, nehme ich an.“
„Richtig. Wobei Betreuung ein klein wenig nach stationärem Aufenthalt und persönlichen Pflegern klingt. Es waren nur Sitzungen. Also Gespräche.“
„Und Medikamente“, fügte Vincent an.
„Ja.“
„Rezeptpflichtige Medikamente.“
„Stimmt.“
„Hast du noch welche?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein.“
Langsam begann er zu verstehen. „Der Stress der letzten Tage, die Isolation in der Blockhütte und die Tatsache, dass du keine Medikamente mehr hast, sind eine höllische Mischung.“
Sie senkte den Kopf. „Tut mir leid. Ich hätte euch davon erzählen müssen.“
„Du hättest mir davon erzählen sollen. Ich hätte dir helfen können.“
„Wie denn?“
„Ich kenne Leute, Anabel. Auch solche, die auf der dunklen Seite stehen. Ein Rezept zu besorgen ist für die, als würden sie eine Grußkarte ausdrucken.“
„Warum kenne ich solche Typen nicht?“
Vincent grinste. „Weil du sie krankenhausreif schlägst.“