Kapitel 81

Berlin

N ormalerweise freute sich Ludger Bräuer, wenn er nach Hause kam. Auf seine Frau, aber auch auf sein Heim. Das war sein ganzer Stolz. Selbst geplant. Selbst gebaut. Seine eigene kleine Hightech-Villa. Er hatte all sein Erspartes in ihr Eigenheim gesteckt. Sogar an Kinder hatte er damals gedacht und ein ausbaufähiges Dachgeschoss berücksichtigt. Zu dem Umbau war es nie gekommen, da seine Frau Mareike keine Kinder bekommen konnte.

Sie hatten das erst erfahren, als sie jahrelang erfolglos versuchten, Nachwuchs zu bekommen. Anfangs war das nicht ausgebaute Dachgeschoss für beide wie ein Zeichen ihrer Unvollkommenheit gewesen. Mit der Zeit ließ das Gefühl des Versagens nach und sie machten wieder Pläne. Sie verreisten viel und Stück für Stück kehrten beide in ihr normales Leben zurück. Nach einigen Monaten sprachen sie sogar das erste Mal von einer Adoption. Allerdings verwarfen sie diesen Gedanken wieder. Entweder ein eigens Kind, oder aber gar keines. Beide konzentrierten sich auf ihre Karrieren. Sie als Maklerin, er im Staatsdienst. Irgendwann war das Thema Kind vom Tisch und aus dem Dachgeschoss wurde ein Gästezimmer. Dann, nach zehn Jahren im Haus, wurde bei ihnen eingebrochen. Aber der Einbruch war nicht das Problem. Schlimmer war, dass Mareike zu Hause war, als die Einbrecher durch den Garten ins Haus eindrangen. Sie war im Keller gewesen. In der Waschküche. Als sie die Treppe nach oben ging, hörte sie die Eindringlinge. Voller Panik schlich sie wieder zurück in den Keller und versteckte sich in einer winzigen Nische zwischen Waschmaschine und Trockner.

Als die Einbrecher in den Keller kamen und sich über sie unterhielten, wäre sie fast gestorben vor Angst. Sie hatten im Wohnzimmer Fotos von ihr gefunden und sprachen darüber, was sie alles mit ihr anstellen würden, wäre sie jetzt hier.

Erst Stunden später, als Bräuer nach Hause kam, traute sie sich, aus ihrem Versteck zu kommen. Mareike war nervlich am Ende. Sie erholte sich nie wieder von diesem traumatischen Erlebnis.

Und Bräuer machte danach aus dem Haus eine Festung.

Smart Home war gestern. Bräuers Haus konnte mehr.

Er war nicht nur in der Lage, das komplette Haus über sein Smartphone so abzuriegeln, dass es nahezu unmöglich war, von außen einzudringen. Er konnte sogar durch eine spezielle Vorrichtung sowohl im Wohn- als auch im Schlafzimmer aus der Luft Stickstoff extrahieren. Dadurch konnte sich ein Feuer in diesen beiden Räumen nicht ausbreiten. Feuer brauchte zum Leben Sauerstoff. Natürlich war diese Vorrichtung von einem Fachmann installiert worden. So war sichergestellt, dass der Sauerstoffgehalt der Luft nicht unter den kritischen Wert von dreizehn Volumenprozent sank.

Bräuer fuhr vors Haus und öffnete mit seinem Smartphone das Garagentor. Geschickt lenkte er den Wagen in die Garage. Hinter ihm schloss das Tor sich wieder. Er verließ die Garage, betrat den dahinterliegenden Keller, ging durch einen kleinen Flur und stieg die Treppe hinauf ins Erdgeschoss. Seine Frau war in der Küche. Es roch nach Zwiebeln und Gewürzen. Erst jetzt spürte er, dass er hungrig war. Als er die Küche betrat, wandte sich seine Frau zu ihm um. Automatisch musterte er Mareike prüfend. Achtete auf bestimmte Anzeichen, die ihm Auskunft über ihren Gemütszustand geben konnten. Ringe unter den Augen, blasse Haut. Heute schien sie einen guten Tag zu haben.

Sie lächelte sogar.

„Heute gibt’s Buletten“, verkündete sie.

Bräuer nahm sie in den Arm. „Das ist schön. Eines meiner Lieblingsgerichte.“

„Das weiß ich doch.“ Sie widmete ihre Aufmerksamkeit wieder den Töpfen und der Pfanne. „Wie war dein Tag?“, wollte sie dann wissen.

Ich habe meinen Job verloren und der neue Innenminister wird mich wahrscheinlich aus dem Weg räumen wollen. Dann habe ich noch einen alten Bekannten getroffen. Und deiner? dachte Bräuer. Er wusste noch immer nicht, wie er seiner Frau klar machen sollte, dass ihr altes Leben vorbei war. Dass sie in Gefahr waren.

„Ganz gut soweit“, sagte er ausweichend. „Ich hab mir überlegt, endlich mal wieder Urlaub zu machen. Was sagst du dazu?“

„Ich finde die Idee gut. Am Haus müsste eine Menge gemacht werden.“

„Ich dachte eigentlich, dass wir mal wieder vereisen könnten.“

Sie drehte sich herum und sah ihn erstaunt an. „Aber warum denn?“

Es war klar, dass Mareike seinen Vorschlag nicht ohne Widerstand zustimmen würde. Routine gab ihr Sicherheit. Dementsprechend war alles, was die Routine durchbrach, mit Gefahren verbunden. Er wollte gerade seine Argumente anbringen, als etwas Merkwürdiges geschah. Sämtliche einbruchsicheren Außenrollläden fuhren hinunter.

Automatisch schaltete sich im gesamten Haus das Licht an.

Mareike sah ihren Mann fragend an. „Hast du das gemacht?“

„Nein.“

Bräuer glaubte an einen technischen Defekt.

Bis er hörte, wie sich die Haustür selbständig verriegelte.

„Mach bitte den Herd aus und komme mit“, sagte er um Gelassenheit bemüht zu seiner Frau.

„Aber die Buletten sind gleich fertig.“

„Bitte Mareike, tue, was ich sage.“

Sie sah ihren Mann fragend an. „Was ist denn los?“

„Wir müssen ein paar Sachen packen und verreisen.“

Sie lachte unsicher. „Das geht nicht. Das Essen ist …“

„Mareike, wir sind hier nicht mehr sicher.“

Er wollte das nicht so brutal sagen, aber sie ließ ihm keine andere Wahl.

Die Reaktion folgte auf dem Fuß.

Sie begann zu zittern. „Was … was ist passiert? Warum sind wir hier nicht sicher?“

Bräuer ging auf seine Frau zu und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Mach dir keine Sorgen, Liebling. Es gibt ein Missverständnis auf der Arbeit. Deshalb müssen wir erst mal weg von hier. Nur für kurze Zeit.“

„Ein Missverständnis? Was für ein Missverständnis?“

Er ging an ihr vorbei und schaltete den Herd aus. Dann griff er ihre Hand und zog sie sanft in Richtung Schlafzimmer.

„Pack Sachen für ein paar Tage ein.“

Sie stand im Schlafzimmer und blickte sich um. „Was soll ich denn mitnehmen?“

Bräuer, der allmählich die Geduld verlor, wollte schon etwas erwidern, als plötzlich die Automatik der Schlafzimmertür aktiviert wurde. Die Tür fiel ins Schloss und verriegelte sich.

Er sprang nach vorn und zog am Türgriff. Keine Chance. Ohne Werkzeug würde er diese massive, feuerfeste Tür nicht aufbekommen. Dann, mit der Wucht eines Faustschlages, wurde ihm bewusst, was als nächstes geschehen würde. Kaum hatte er diesen Gedanken erfasst, erklang auch schon die mechanische Stimme.

„Sauerstoffreduktion eingeleitet.“

„Was ist los?“, wollte Mareike wissen.

Bräuer wusste genau, was nun folgen würde.

Die Atemluft bestand zu einundzwanzig Prozent aus Sauerstoff, zu achtundsiebzig Prozent aus Stickstoff und ein Prozent bestand aus Kohlenstoffdioxid. Der Apparat, den Bräuer vor ein paar Jahren gekauft hatte, bestand aus zwei Kompressoren, diversen Leitungen, Messinstrumenten und einer ausgefeilten Elektronik. Die Kompressoren würden Druckluft erzeugen und ein Kältetrockner würde dies auf ein richtiges Niveau bringen. Eine Membrane sorgt schließlich dafür, dass aus der Luft der Stickstoff extrahiert wird. Normalerweise würden Sensoren den Sauerstoffgehalt der Luft ständig kontrollieren, da dieser nicht unter dreizehn Volumenprozent fallen durfte. Geschah dies, wird es für den Menschen gefährlich.

Bräuer war sicher, dass Redemptio diese Sensoren ausgeschaltet hatte. Sie waren verloren, würden hier in ihrem Schlafzimmer ersticken und er könnte nichts dagegen tun.

„Es ist alles in Ordnung, Liebling. Lass uns ein bisschen dösen, ich bin erschöpft.“

„Gerade wolltest du noch fort von hier.“

„Das hat keine Eile. Komm, wir legen uns aufs Bett.“

Mareike legte sich neben ihren Mann.

Der nahm ihre Hand und drückte sie sanft.

„Ich liebe dich wie am ersten Tag, weißt du das?“

Sie sprachen über die Zeit, als sie sich kennengelernt hatten. Nach einigen Minuten spürte Bräuer, dass er Schwierigkeiten hatte, sich zu konzentrieren. Mareike neben ihm gähnte ständig. Schließlich fielen ihr die Augen zu.

Erleichtert stellte Bräuer fest, dass sich ihr Brustkorb hob und senkte. Sie atmete also noch. Er holte sein Smartphone aus der Hosentasche und aktivierte es.

Kein Netz.

Natürlich nicht. Redemptio machte eben keine Fehler.

Dachte an alles.

Immer.

Aber Bräuer schrieb dennoch eine Kurznachricht an Harry Steinhardt. Sobald sein Handy wieder Empfang hatte, würde die automatische Sendewiederholung die Nachricht verschicken. Er hatte große Probleme, fehlerfreie Sätze zu formulieren, daher hielt er sich kurz.

Seine Augen wurden immer schwerer …

Es geht los, dachte er und empfand eine tiefe Traurigkeit.