Kapitel 82
Braunschweig
H enry Lasker und Sybille Schneider trafen sich am nächsten Tag im Steigenberger-Hotel in Braunschweig mit Leon Koppe. Nach einer kurzen Aufwärmphase, in der Sybille und Koppe über alte Zeiten plauderten, kam die ehemalige Innenministerin zum Grund ihres Treffens. Zuerst bat sie Koppe, sein Handy auszuschalten. Ohne äußere Regung kam Koppe der Aufforderung nach.
Sybille beugte sich vor. „Vor knapp achtzehn Monaten wurde mir eine Software angeboten, die in der Lage sein sollte, die Verbrechensbekämpfung zu revolutionieren. Henry Lasker war einer der ersten, der sich von den Fähigkeiten dieser Software überzeugen konnte.“
Koppe wandte sich an Lasker. „Können Sie mir ein klein wenig mehr über dieses Programm sagen?“
„Ich bin kein Fachmann, aber das, was ich verstanden habe, ist Folgendes: Der verwendete Algorithmus stammt aus der Erdbebenvorhersage. Eine ähnliche Software wurde schon vor Jahren in den USA eingesetzt. Allerdings haben die drei Entwickler dieser Software diese optimiert. Ihre Software mit dem Namen Redemptio ist in der Lage, alle Kontakte aus den sozialen Medien mit in die Analyse einzubeziehen. Darüber hinaus kann sie sich in sämtliche elektronische Geräte einhacken. Also Überwachungskameras, Smartphones und Laptops. Zu guter Letzt ist sie auch dazu imstande, selbständig zu lernen.“
„Oha“, sagte Koppe, „das mit dem selbständig lernen halte ich für eher fragwürdig. Der Rest ist natürlich datenrechtlich mehr als brisant.“
Sybille nickte. „Deshalb hatte ich die Erfinder der Software gebeten, das Programm gesetzeskonform umzugestalten, bevor ich den Einsatz final genehmige. Essling jedoch hat diese Forderung rückgängig gemacht.“
„Das Programm wurde mit der vollen Leistungsfähigkeit in Betrieb genommen.“
„So ist es“, bestätigte Sybille.
„Was für ein fataler Fehler“, sagte Koppe. „Essling war, wie bereits erwähnt, vor einigen Tagen bei mir. Er versuchte, um den heißen Brei zu reden, aber es wurde deutlich, dass er ein großes Problem hatte.“
„Redemptio tötet Menschen“, sagte Lasker.
Koppe riss die Augen auf. „Wie bitte?“
„Sie haben richtig verstanden. Das Programm tötet Menschen, von denen es der Meinung ist, sie wären eine Bedrohung.“
„Eine Bedrohung für wen oder was?“
„Soweit ich das verstanden habe, wurden dem Programm keine Regeln auferlegt. Ihre Mission lautet, die Verbrechensbekämpfung zu optimieren. Zum Wohle der Menschheit. Wie genau sie das tut, welche Mittel sie dafür einsetzt, da gibt es offenbar keine Beschränkungen.“
„Gütiger Gott“, sagte Koppe leise.
„Nun ist es so, dass der Vater eines der getöteten Entwickler zu uns gestoßen ist. Er ist Professor für Informatik an der TU München. Von ihm erfuhren wir, dass Redemptio ursprünglich ein Forschungsprojekt seiner Uni war. Zwei seiner Studenten und der Sohn des Professors haben den Quellcode gestohlen und weiterentwickelt. Resultat war Redemptio. Dieser Mann, sein Name ist Michael Wernhardt …“
„Ich kenne Professor Wernhardt“, unterbrach Koppe Sybille Schneider.
„Umso besser. Wernhardt hat uns erzählt, dass er nach dem Tod seines Sohnes lange Zeit benötigte, bis er Zugriff auf dessen Computer und in die Cloud bekam. Als er das geschafft hatte, wurde ihm klar, was sein Sohn getan hatte.“
Sie trank einen Schluck Wasser und fuhr fort. „Aber, und das ist der eigentliche Grund für unser Treffen, Wernhardt behauptete, dass er einen geheimen Zugang in das System von Redemptio entdeckt habe. Der wurde von seinem Sohn angelegt. Über die Admin-Rechte seines Sohnes und diesen Zugang hat er einen zeitlich begrenzten Zugriff auf das System Redemptios. Es ist ihm gelungen, unsere Gesichter, die in der Datenbank des Programmes hinterlegt waren, gegen künstlich generierte auszutauschen. So war es uns möglich, wieder in die Öffentlichkeit zu gehen, ohne das Redemptio Alarm auslöste.“
„Weil das Programm sie nicht erkennt“, schlussfolgerte Koppe.
„Genau. Aber er behauptet, er wäre nicht in der Lage, das Programm zu zerstören. Obwohl er Änderungen vornehmen kann. Und das erschließt sich mir nicht.“
Koppe nickte. „Verstehe ich. Wie viel wisst ihr über die Rechte eines Administrators?“
Beide schüttelten den Kopf. „Nichts“, sagte Sybille für beide.
„Ein Administrator ist unter anderem zuständig für die Verwaltung, Wartung und Konfiguration einer IT-Infrastruktur. Und er kann neue Software installieren. Das sind verdammt viel Aufgaben. Um sie vollständig und zügig zu erfüllen, benötigt er die höchsten Zugriffsrechte. Dass Michael Wernhardt diese Rechte besitzt, könnt ihr an der Tatsache sehen, dass er in der Lage war, eure Gesichter zu löschen und durch neue zu ersetzen.“
„Und das bedeutet?“, fragte Lasker nach.
„Ich erwähnte ja eben, dass es unter anderem zu den Aufgaben eines Admins gehört, neue Software zu installieren. Es dürfte für ihn kein Problem sein, Redemptio durch einen Virus auszuschalten. Im Klartext; wenn er behauptet, dies nicht zu können, lügt Wernhardt.“
„Aber warum?“, fragte Lasker.
„Das müsst ihr schon ihn selbst fragen.“
„Er hat seinen Sohn verloren“, meinte Sybille nachdenklich. „Das ist bestimmt furchtbar.“
„Also will er was? Rache?“, wollte Lasker wissen.
Erschrocken blickte Sybille ihn an. „Hat er etwa all diese Menschen getötet?“
Lasker schüttelte den Kopf. „Nein, das würde keinen Sinn ergeben. Immerhin wurde meine Finca in die Luft gesprengt, um mich und Vincent umzubringen. Und danach hat Wernhardt uns geholfen, zurück nach Deutschland zu kommen. Er war es mit Sicherheit nicht, der den Gastank manipuliert hat. Also könnte man sagen, dass er in gewisser Weise auf unserer Seite ist. Warum und aus welchem Grund auch immer.“
Sie schwiegen eine Weile nachdenklich.
Schließlich blickte Lasker zu Koppe. „Können Sie einen Virus schreiben, der Redemptio ein für alle Mal zerstört? Ich meine irreparabel zerstört?“
„Ich nicht. Aber ich kenne Leute, die das können.“
„Egal, was es kostet. Bitte kontaktieren Sie die Leute und beauftragen Sie die damit.“
„Geht klar. Und was werden Sie beide jetzt machen?“
„Endlich herausfinden, was für ein Spiel Wernhardt spielt“, sagte Lasker.