Kapitel 87
Harz
S ybille Schneider wusste inzwischen, wie sie es bewerkstelligen konnte, mehr über Wernhardt zu erfahren. Sie hatte sich an das Gespräch mit Koppe erinnert. Der hatte gesagt, dass er Wernhardt kenne. Daraufhin rief sie ihn an und fragte Koppe, was er von ihm halte.
„Wernhardt ist arrogant und jähzornig“, hatte seine spontane Antwort gelautet. „So jedenfalls habe ich ihn in Erinnerung. Unser letztes Aufeinandertreffen ist aber schon zwei, drei Jahre her.“
„Wenn ich Informationen über ihn haben möchte, also echte Infos, nicht das, was ich googeln kann, wen sollte ich fragen?“
„Sprecht mit seinen Studenten und Kollegen in Karlsruhe. Ich denke, sie werden euch sagen können, was für ein Mensch er ist.“
Und genau das taten sie. Anabel und Dost übernahmen diese Aufgabe. Als erfahrene Ermittler wussten sie, welche Fragen sie stellen müssten. Und sie konnten auch das verstehen, was nicht gesagt oder nur angedeutet wurde. Sie fuhren nach Karlsruhe und führten jede Menge Gespräche unter dem Vorwand, Michael Wernhardt stünde auf einer Liste von Wissenschaftlern, die in Betracht gezogen wurden, als Berater für die neue Regierung zu fungieren. Als sie ihre Gesprächspartner baten, ihre Smartphones auszuschalten, ernteten sie dafür zwar Stirnrunzeln, aber schlussendlich kam jeder dieser Bitte nach. Das Ergebnis ihrer Befragung mehrerer Studenten und Arbeitskollegen war eindeutig.
Als sie zurückkehrten und es den anderen präsentierten, reagierten die genauso geschockt, wie Anabel und Vincent es gewesen waren, als ihnen bewusst wurde, wie sehr sie sich offenbar in Wernhardt getäuscht hatten. Oder wie sehr Wernhardt sie alle getäuscht hatte. Denn dies schien zu seinem Charakter zu passen.
„Ich fasse dann mal zusammen“, sagte Lasker nach einer Weile. „Wenn wir den Worten seiner Kollegen Glauben schenken wollen, dann ist unser lieber Freund Michael Wernhardt so ziemlich das größte Arschloch auf diesem Planeten. Das jedenfalls sagen sie über ihn. Seine Kollegen sind der Meinung, er wäre ein Narzisst und pathologischer Lügner, neidisch und hinterhältig. Absolut nicht vertrauenswürdig. Seine Studenten attestieren ihm eine sadistische Ader. In einem sind sie sich alle einig: Das Verhältnis zwischen ihm und seinem Sohn war mehr als schlecht. Eigentlich hatten sie überhaupt keines. Also ist die Story des trauenden Vaters gelogen.“
„So schaut’s aus“, bestätigte Dost.
„Aber wir können nichts davon beweisen“, wandte Anabel ein.
„Dies ist keine strafrechtliche Verfolgung“, erinnerte Dost sie.
„Auch wieder wahr“, meinte Anabel.
„Also normalerweise würde ich jetzt sagen, dass Neid die höchste Form der Anerkennung ist. Gerade im Hinblick auf die Meinungen der Kollegen. Aber in diesem speziellen Fall neige ich dazu, dem Glauben zu schenken, was sie sagen“, fasste Lasker seine Meinung zusammen.
„Dann ist es jetzt sicher: Wernhardt folgt seiner eigenen Agenda und wir müssen herausfinden, wie diese aussieht“, machte Dost klar. Es war ihm anzusehen, wie sehr es ihn ärgerte, dass es Wernhardt gelungen war, ihn so sehr hinters Licht zu führen. „Ich schlage vor, dass wir ihn endlich zur Rede stellen.“
„So weit waren wir schon einmal“, wandte Anabel ein. „Und wir waren uns einig, dass wir es vorsichtig angehen wollen.“
Dost schüttelte den Kopf. „Es ist ihm die ganze Zeit über gelungen, uns zu täuschen. Ich glaube nicht, dass wir ihn mit subtilen Mitteln knacken können.“
„Sehe ich auch so“, bestätigte Harry.
„Und wenn er dicht macht?“, wollte Sybille wissen. „Ohne ihn haben wir keine Chance, das Virus im System von Redemptio zu installieren.“
„Wenn ich mir sein Persönlichkeitsprofil anschaue, dann glaube ich kaum, dass wir ihn nur durch gutes Zureden zur Kooperation bringen werden“, sagte Lasker.
„Ganz sicher nicht“, stimmte Dost zu. „Aber solche Typen haben eines gemeinsam: Sie sind alle feige. Oft genügt es, ihnen nur Schmerzen anzudrohen, und sie brechen zusammen.“
Was er damit andeutete, verschlug Sybille den Atem. „Wollen wir wirklich so weit gehen?“
Dost sah die ehemalige Innenministerin mit festem Blick an. „Welche Wahl haben wir denn?“
„Es besteht immer noch die Möglichkeit, dass wir uns irren und er auf unserer Seite ist.“
„Okay, dann sag mir, was wir stattdessen machen sollen. Wie würdest du vorgehen?“
„Ich würde erstmal nicht allzu viel auf das Gerede anderer geben. Wenn ihr wüsstet, wie Kollegen oder Mitarbeiter hinter meinem Rücken über ich sprechen, würdet ihr euch wundern. Was Henry gesagt hat, stimmt: Neid ist die höchste Form der Anerkennung. Wir haben einen vollkommen anderen Michael Wernhardt kennengelernt. Mürrisch, ja. Eigenbrötlerisch bestimmt. Aber ich glaube, keiner von uns hat den Menschen kennengelernt, den seine Kollegen beschrieben haben. Nun schlafen wir auch nicht auf dem Baum. Und mit Anabel, Vincent und Harry haben wir drei Polizeibeamte in unseren Reihen, deren Job es ist Lügen zu erkennen. “
Vincent sah zu Harry und Anabel, die nur mit den Schultern zuckten.
„Okay, dann sag bitte, was wir machen sollen“, bat Vincent.
„Ich möchte versuchen, ihn in ein ganz normales Gespräch zu verwickeln. Ich werde einfach ein bisschen mit ihm plaudern, ihn einwickeln. Mal sehen, wohin uns das führt.“
Harry nickte. „Du willst erreichen, dass er sich sicher fühlt. Und dann stellst du gezielt ein paar Fragen.“
Sybille Schneider nickte bestätigend. „Ja. Genau das habe ich vor.“
Harry grinste. „Jetzt hätte ich fast ‚alte Schule‘ gesagt.“
Sybille erwiderte das Grinsen. „Da ist schon was dran.“
Harry sah, wie Vincent und Anabel einen Blick wechselten. Ihr Verhältnis schien sich in den letzten Tagen geändert zu haben. Es wirkte auf ihn vertrauter, als noch zu Beginn ihres Exils.
Beide zuckten mit den Schultern.
Er verstand, was sie damit sagen wollten.
Versuchen wir es auf Sybilles Weise.
Geht das in die Hose, können wir immer noch auf unsere Methode ausweichen.