Kapitel 5

S ie rasten noch eine Stunde lang über die flache, leblose Ebene, bevor sich die Landschaft veränderte. Eine riesige Bergkette erschien auf der linken Seite, dann eine weitere auf der rechten, bis sie in einen sechs Meter breiten Pass zwischen den Felsvorsprüngen einbogen. Persh’al verlangsamte das Gefährt auf ein sichereres Tempo, als sie den Pass erreichten und Cheyenne betrachtete die hohen, zerklüfteten Felsen zu beiden Seiten.

Wenigstens gibt es keine Gesichter, die versuchen, hier durchzubrechen.

Persh’al blickte konzentriert geradeaus, die Augen entschlossen zusammengekniffen, während sein Irokesenschnitt in der Luft flatterte. »Wenn wir das hier überstanden haben, werden wir im Oronti-Tal sein. Dort wird es anders sein. Der Rest von hier? Das ist nicht das echte Ambar’ogúl, nicht so wie ich es kenne. Vertrau mir.«

Cheyenne runzelte die Stirn. »Oronti-Tal?«

»Ja.« Er sah sie an und hob die Augenbrauen. »Du hast schon davon gehört, oder?«

»Ja. Ich bin mir nicht sicher, ob es so ist, wie du es in Erinnerung hast.«

»Wie kommst du darauf?«

Sie schüttelte den Kopf und beobachtete das Ende des Passes, das immer näher kam. »Ein paar alte Nachbarn von mir haben dort gewohnt. Eine Trollfamilie mit einem kleinen Kind.«

»Oh, schön. Trolle sind immer gut.« Persh’al schlug sich mit der Faust auf die Brust und grinste.

»Sie haben den Übergang gemacht, offensichtlich. Wegen dem, was mit dem Tal passiert ist.«

Sein Lächeln verblasste und er wandte seinen Blick für zwei Sekunden von ihr ab, bevor er ihn schnell wieder aufnahm. »Waren sie Bauern?«

»Ich glaube schon. Vielleicht Radanhirten?«

»Oh, ich verstehe.« Der Troll schenkte ihr ein schiefes Lächeln und zuckte mit den Schultern, während er sich wieder dem Ende des Passes zuwandte. »Ich würde nicht zu viel auf die Geschichten der Dorfbewohner im Oronti-Tal geben, Kind. Die Outernóre machen sich gerne über alle lustig, auch über uns. Bauern und Hirten? Sie beschönigen alles. Und zwar sehr viel. Wo ich herkomme, benutzen wir ein Sprichwort: ›Die Krone scheißt und die Bauern haben sie auf einem Drachen davonfliegen sehen‹.« Er brach in Gelächter aus und schlug mit der Hand auf die Schalttafel. Das Skiff kippte zur Seite, aber richtete sich sofort wieder auf, als Persh’al einen Fluch murmelte.

»Wer ist ›wir‹ in diesem Szenario?«

»Hm?«

»Du hast ›wir‹ gesagt und ›wir benutzen ein Sprichwort‹.« Cheyenne musste sich ein Lachen verkneifen, als sie seinen erschrockenen, verwirrten Blick sah. »Wer benutzt diese Redewendung noch?«

»Scheiße, Kleine.« Persh’al rieb sich den Kopf und ließ die Schultern sinken. »Okay, vielleicht wurde es nur als Scherz weitergegeben. Ein Insiderwitz.«

»Ja?«

»Okay, ganz unter uns. Bist du jetzt zufrieden?« Er warf ihr einen Seitenblick zu. »Wie machst du das?«

»Ich habe nur ein paar Fragen gestellt, Mann. Der Rest war deine Sache.« Sie konnte ihr Lächeln nicht weiter zurückhalten. »Du hältst dich wahrscheinlich nicht sehr gut in einem Verhör, oder?«

»Kommt drauf an, was für eins.« Persh’al lehnte sich von ihr weg und blickte den immer kürzer werdenden Pass vor ihnen hinunter. »Anscheinend bin ich ein Trottel, wenn mich Drow ausfragen. Aber ich kann Prügel einstecken und meinen Mund halten. Ich habe es schon einmal getan und kann es immer noch. Wenn es das ist, worüber du dir Sorgen machst, solltest du es nicht tun.«

Tief durchatmend richtete Cheyenne ihre Position auf der harten Bank unter ihr neu aus und blickte hinauf zu den Felswänden, die an ihnen vorbeizogen. Falls ich vergessen haben sollte, warum wir hier sind, hat er mir gerade eine beschissene Erinnerung geliefert.

»Darüber müssen wir uns keine Sorgen machen. Deshalb sind wir doch hierhergekommen, oder? Damit ich sehen kann, was ich sehen muss, bevor L’zar das nächste Mal mit mir die Grenze überquert und wir dem Ganzen ein Ende setzen? Dem Krieg. Der Fäulnis, die durch die Portale kommt. Dass wir Prügel einstecken und den Mund halten müssen.«

Der Troll rümpfte die Nase. »Das ist das Ziel, klar. Aber in diesem Spiel gibt es keine Garantien, Kleine. L’zar wusste das, als er mit dieser ganzen Sache anfing. Der verdammte Drow tut so, als hätte er alle Antworten auf das Universum, aber er filtert immer das in die Gleichung ein, was er nicht kontrollieren kann. Manchmal geht die Scheiße schief.«

»Ja, das habe ich bemerkt.« Cheyenne zuckte halbherzig mit einer Schulter. »Ich denke, es kommt darauf an, wie oft es schiefgeht, oder?«

»Sicher. Das ist eine gute Art, es zu betrachten.«

»Also.« Sie stützte ihre Unterarme auf die Oberschenkel und lehnte sich vor. »Wie oft geht die Scheiße für L’zar Verdys und seine Bande von rebellischen O’gúleesh schief?«

Persh’al schnaubte. »Das ist doch mal eine wunderschöne Beschreibung.«

»Ich meine es ernst.«

Sein Lächeln verschwand, als er ihr einen kurzen Blick zuwarf. »Ja, du hast dein ernstes Gesicht aufgesetzt und so. Ehrlich gesagt, Kleine, die letzten fünfundsiebzig Jahre waren die ruhigsten. Es gibt zwar immer noch ein paar Hindernisse, aber nichts, was wir nicht sofort in den Griff bekommen hätten.«

»Du sagst also, es ist alles in Ordnung, solange er hinter Gittern ist.«

»Ich habe nicht …« Der Troll schüttelte den Kopf und blickte starr geradeaus. »Du und deine Fragen.«

»Das habe ich mir gedacht.«

»Okay, hör zu. Er ist ein verrückter Kerl. Den Punkt gebe ich dir. Vielleicht nicht klinisch verrückt, aber er hat seine Momente. So sehr dein Vater auch nervt, wir anderen wären nicht für ihn durchs Fellfeuer und zurück gegangen, wenn wir nicht an das glauben würden, was er tut.«

Cheyenne richtete sich auf und rieb sich die Oberschenkel. »Ich habe gehört, dass L’zar sich für nichts und niemanden interessiert, es sei denn, er profitiert in irgendeiner Weise.«

»Wer hat dir das gesagt?«

»Corian.«

Persh’al stieß einen Atemzug aus, der eine Mischung aus Überraschung und Belustigung war. »Direkt aus dem Mund des Nachtpirschers. Ich würde Corian nicht als Lügner bezeichnen, aber ich würde L’zar auch nicht als Tyrannen bezeichnen, der sich an den Untertanen vergreift, die er eigentlich beschützen soll.«

»Ziemlich schwer, wenn er keine Untertanen hat.«

Persh’al warf ihr einen kurzen Blick zu und ruckte mit dem Kopf wieder nach vorne. »Nein, die hat er nicht. Aber das ist es, was die Krone tut und diejenigen von uns, die ihren Mist satthaben und etwas Besseres für alle O’gúleesh wollen, sind bereit, L’zars nicht ganz so perfekte Qualitäten in Kauf zu nehmen. Ich habe keinen Zweifel daran, dass er uns dorthin bringen wird, wo wir hinwollen, vor allem jetzt, wo du mit im Spiel bist.«

»Nun, ich habe auch keine Untertanen.«

»Du bist etwas Besonderes, Kleine. Ich sag dir was.« Der Troll lachte kurz und schüttelte den Kopf. Sein Gesichtausdruck erhellte sich, als sie das Ende des Passes erreichten. »Also, das ist es, was du …«

Als sie den Pass hinter sich gelassen hatten, sank das Boot sanft ab und trug sie schnell über den felsigen Hügel am Fuße der Berge. Das Oronti-Tal erstreckte sich vor ihnen in sanften Hügeln.

Das ist das einzig Sanfte an diesem ganzen Ort.

Die Reisenden betrachteten schockiert die Einöde, die mit verfallenen oder zerstörten Gebäuden übersät war. Zu ihrer Linken erstreckte sich ein toter Wald mit kahlen und knorrigen Bäumen von der geschwungenen Bergkette. Die meisten von ihnen waren umgestürzt oder in verbogene, verdrehte Teile zerbrochen. Einige Äste trugen noch ihre Blätter, aber es waren nur wenige und sie hatten eine groteske, schwarzgelbe Farbe. Aus einigen Stämmen sickerte eine dicke, giftig gelbe Substanz, die Cheyenne an eine entzündete Wunde denken ließ. Ein Teil des Grases war in das Tal zurückgekehrt, aber es war braun – an manchen Stellen sogar weiß – und seit Langem nicht mehr von Bauern bearbeitet worden.

»Nein.« Persh’al blinzelte und betrachtete das zerstörte Land. »Das auch?«

»Wenn Landwirte dafür bekannt sind, Geschichten zu beschönigen, dann war es vor einem Jahr wohl noch nicht so schlimm.«

»Ein Jahr?« Der Troll warf ihr einen leeren Blick zu, als er merkte, dass er sich in dem, was sie hier finden würden, geirrt hatte.

»Diese Trollfamilie.« Cheyenne runzelte die Stirn angesichts der Verwüstung. »Sie sagten, sie seien vor einem Jahr aus ihrer Heimat vertrieben worden und hätten den Übergang gemacht. Das Radan sei verschwunden und die Lage immer trostloser geworden. Sie haben mir nichts Genaueres gesagt, aber ich bin sicher, dass sie so etwas erwähnt hätten.«

Persh’al murmelte etwas und schüttelte den Kopf. »In nur einem Jahr auf der Erde.«

»Verläuft die Zeit hier anders?«

»Nicht sehr viel, Kleine.«

Das Skiff glitt über das zerklüftete Land, während kleine, kaum sichtbare Kreaturen durch das lange, weißbraune Gras hinter ihnen huschten. Persh’al lenkte sie nach rechts in Richtung eines dichteren Waldes, der nicht annähernd so schlimm aussah wie der erste. Doch je näher sie kamen, desto falscher kam ihnen alles vor.

Die Bäume hatten noch ihre Blätter, aber sie pulsierten mit dunklem Licht wie ein Herzschlag. Das Gleiche galt für die Stämme und die Wurzeln, die sich aus dem Boden gehoben hatten, als wollten sie sich von der Quelle der Krankheit entfernen. Persh’al verlangsamte die Fahrt und die Luft um sie herum füllte sich mit einem feuchten, schlürfenden Geräusch, das fast synchron mit dem kränklichen Pulsieren der Bäume war.

»Das ist ein Fluss, stimmt’s?« Cheyenne zeigte durch den Wald auf die sich langsam bewegende Oberfläche der schwarz schimmernden Flüssigkeit. Dort, wo sich der Fluss über Felsen brach, bildete sich um die Hindernisse herum grüner Schaum, der zum Teil flussabwärts floss.

»Nicht mehr.« Persh’al presste die Lippen zusammen und fuhr am Waldrand entlang – nah genug, um zu sehen, was aus ihm geworden war, aber nicht zu nah. »Ich kann das nicht glauben. Die Lage war so schlimm, dass Schutzsuchende über die Grenze geschickt wurden, aber ich habe noch nichts von dem gehört, was das hier ist.«

»Es geht zu schnell.« Die Nasenflügel der Halbdrow blähten sich, als der Geruch von verrottendem Fleisch in einer kühlen, leicht feuchten Brise zu ihnen herüberwehte. Das ist das Gegenteil von erfrischend .

»Muss so sein. Ich habe noch nie gesehen, dass so eine Veränderung so schnell geht.«

Eine riesige, dunkle Gestalt schlich sich vor ihnen vom Flussufer weg. Persh’al lenkte das Skiff zur Seite, um dem Ding auszuweichen und stöhnte, als sie nahe genug waren, um zu sehen, was es war.

Das Tier sah aus wie eine Kreuzung aus Kuh und Büffel und hatte ein riesiges, schwarzes Geweih, das aus seinem Schädel wuchs. Das Geweih war verdreht und unförmig und glich Keulen. Der Kopf des Tieres schien auf einer Seite wegen des Geweihs schwerer zu sein, sodass das Wesen sich ständig mit verdrehtem Kopf bewegte. Das Ding schnaubte, als sie vorbeikamen und starrte sie mit drei glasigen, schwarzen Augen und einem vierten an, das so ekelhaft gelb war wie der Schlamm, der aus dem anderen Wald auf der anderen Seite des Tals quoll. Ein fünftes Glied ragte aus seiner Brust und baumelte dort ohne Muskeln oder Knochen, die ihm einen Sinn gaben.

»Scheiße.« Persh’al fuhr sich mit der Hand über die Wange und wendete das Skiff von der Baumgrenze weg und zurück auf das braune Gras des Tals.

Cheyenne konnte nicht anders, als über ihre Schulter auf die mutierte Kreatur zu schauen. Zwei kleinere Tiere mit blutroten Schnauzen und etwas, das aussah wie Krallen anstelle eines Geweihs, traten hinter dem riesigen Wesen hervor. »Bitte sag mir, dass das nicht die Radan sind, von denen meine Nachbarn so nostalgisch geschwärmt haben.«

»Das sind keine Radan. « Persh’al schluckte schwer und ließ beide Hände in den Schoß fallen, während er das Skiff durch das verlassene Tal treiben ließ. »Mutiert, ja, aber ich würde sogar sagen, dass sie nicht einmal mehr die Hälfte ihrer ursprünglichen Gestalt haben.«

»Nichts mutiert so schnell.«

»Nö. Nicht einmal in einer Welt, in der Magie die Norm ist, Kleine. Wenn du dich mit dem genetischen Code in der Natur anlegst, liegst du weit außerhalb des Bereichs der Magie, so wie sie eigentlich verwendet werden sollte.«

Cheyenne nickte. »Es sieht also nicht so gut aus.«

»Im Moment finde ich diese Untertreibung in Ordnung.«

Sie näherten sich einer Reihe an Gebäuden, die kaum noch standen. Die Dächer waren eingestürzt, die Türen zerbrochen und der Schutt überall verstreut. Die Zaunpfosten der ehemaligen Ställe und Gehege waren zersplittert und standen schief, als hätten die Tiere gewusst, was passieren würde und versucht, davonzulaufen.

Persh’al verlangsamte das Skiff wieder, als sie näher kamen und sie sahen die Leichen – vier von ihnen, die ineinander lagen, mit violettfarbener Haut und scharlachrotem Haar, das im stinkenden Wind flatterte. »Verdammt. Diese magischen Wesen haben noch hier draußen gelebt.«

»Bis vor nicht allzu langer Zeit.« Cheyenne untersuchte die Trümmer der Gebäude, die einen Halbkreis neben ihnen bildeten. »Sieht aus, als wäre jemand durchgekommen und hätte alles auseinandergerissen.«

»Ja. Das ist also jetzt normal hier draußen, was? Das Oronti-Tal reduziert auf diese Farm und die anderen vier, die wir gesehen haben?«

»Ich kam nicht nah genug heran, um zu sehen, was noch übrig ist.«

Persh’al legte seine Hände wieder auf die Schalttafel und blickte finster drein. »Ja. Ich glaube, von dem hier haben wir auch genug gesehen.«

Das leise Brummen des Skiffs hörte auf, stattdessen ertönte ein metallisches Kreischen und der Motor stotterte und fiel dann aus.

»Was?« Der Troll fuhr mit der Hand über die Schalttafel und ließ das grüne Licht wieder aufleuchten, aber die Steuerung reagierte nicht. Das Gefährt verlangsamte seine Fahrt und landete sanft auf dem langen Gras drei Meter vor dem letzten Nebengebäude und verstummte. »Verdammt. Dieser Ork hat mir meine Veréle weggenommen und uns die Hälfte von dem gegeben, wofür wir bezahlt haben.«

»Was ist los?«

»Das muss ich überprüfen.« Mit einem frustrierten Knurren sprang Persh’al über die Seite des Skiffs und ging um den Rumpf herum nach hinten. Er drückte auf einen Knopf an der Seitenwand, die sich erst rührte, als er sie mit einem Fußtritt öffnete, und machte sich an die Arbeit.