KAPITEL DREIUNDZWANZIG

 

Durch die Schlacht war Genoveva gezwungen gewesen, in die Wälder zu fliehen. Sie lief neben dem Pferd, mit dem sie geflohen war und versuchte, einen klaren Kopf zu kriegen und zu überlegen, was sie als nächstes würde tun müssen. Sie schwankte zwischen Freude und Angst. Sie war glücklich über Royces Sieg und ängstlich vor dem, was das für sie bedeuten konnte.

Sie hatte gewusst, dass sie in dem Lager, in das Altfor sie gebracht hatte, nicht bleiben konnte, und zu der anderen Armee konnte sie auch nicht einfach fliehen und hoffen, dass sie Gnade walten lassen würden. Es mochte Royces Armee sein, aber es war noch immer eine Armee, und Genoveva hatte genug von der Welt gesehen, um zu wissen, in welche Gefahr sie das hätte bringen können.

Zum Glück waren alle ihre Wachen davongelaufen als sie merkten, dass die Schlacht den falschen Ausgang zu nehmen schien. Genoveva hatte zum Schlachtfeld geblickt und gesehen, welcher Glanz von Royce ausgegangen war als dieser dort kämpfte. In diesem Moment war sie so stolz auf ihn gewesen. Sie hatte ihn nie mehr geliebt, auch wenn sie danach die Gelegenheit ergriffen hatte, ein Pferd zu stehlen, um damit zu fliehen. Erst hinter der Heidelandschaft war sie abgestiegen.

„Jetzt läufst du im Wald umher und weißt nicht wohin“, sagte Genoveva.

Hier konnte sie nicht bleiben. Sie wusste zu wenig darüber, wie man draußen überlebte, und durch ihre Schwangerschaft wäre das sowieso nicht möglich gewesen. Schon bald würden Picti und andere sie im Wald jagen, sodass Genoveva riskierte, gefangen genommen zu werden oder schlimmer noch hier bleiben zu müssen.

Sie setzte sich auf einen Baumstumpft und versuchte, einen Sinn in all dem zu sehen. Vor der Schlacht war es ihr so einfach erschienen: sie hätte Royce ihre Hand nicht geben können, hätte nicht riskieren können, mit ihm zu gehen, da sie schon andere Pläne gemacht hatte. Doch jetzt...

... jetzt hielt sie nichts mehr davon ab.

Diese Erkenntnis ließ Genoveva aufspringen. Sie begann zu laufen, auch wenn sie sich nicht ganz sicher war, wo sie sich befand. Sie wusste, dass sie irgendwann in der Nähe der Hauptstadt des Herzogtums hinauskommen würde, und von dort aus würde sie den Weg finden. Was danach geschah... nun, Genoveva konnte nur hoffen.

Sie lief bis ihr die Füße wehtaten und ihr Atem von der Anstrengung kürzer wurde. Sie schien noch immer keinen Weg aus dem Wald gefunden zu haben.

„Wenn du zurückgehst, wirst du leiden“, sagte die Stimme einer Frau.

Genoveva blickte sich um, und eine Frau trat hinter einem Baum hervor. Sie schien auf den ersten Blick beinahe so jung wie sie selbst, doch bei näherer Betrachtung konnte sie sehen, dass sie etwas Zeitloses an sich hatte, als wäre sie schon eine lange Zeit so jung.

„Wer bist du?“ fragte Genoveva. Ihre Hand schnellte zu dem Messer an ihrem Gürtel.

„Das brauchst du für mich nicht“, sagte die Frau. „Mein Name ist Lori, und wir haben uns schon einmal gesehen.“

„Ich erinnere mich nicht an dich“, sagte Genoveva, noch immer die Hand am Schaft ihres Messers.

„Ich sah damals anders aus“, sagte Lori. „Aber ich habe dich gesehen. Du bist ein guter Mensch, Genoveva, besser als der Plan, den du mit deiner Schwester gemacht hast. Besser als das, was dir widerfahren wird, wenn du weiter nach Royce suchst.“

„Drohst du mir?“ fragte Genoveva.

„Nein, Mädchen“, antwortete  Lori. „Ich versuche, dir zu helfen. Dinge fangen an ihren Lauf zu nehmen, und du wirst sie nicht verstehen; Dinge, die ich gehofft hatte, meiden zu können indem ich alt werde und eines natürlichen Todes sterbe. Jetzt kommt ein wahrer König mit allem was dazugehört.“

Genoveva schüttelte den Kopf. „Wenn du mir wirklich helfen willst, dann zeig mir den Weg aus diesem Wald heraus.“

Lori trat zurück und gab den Blick auf zwei Pfade durch den Wald frei. Sie deutete auf beide.

„Beide Wege führen dich aus dem Wald hinaus“, sagte sie. „Dieser wird dich zum dem Schloss führen, das bis eben noch deinem Ehemann gehörte. Wenn du wirklich dorthin willst, dann wird dich der Pfad dorthin bringen.“

Genoveva machte Anstalten den Pfad sogleich einzuschlagen, doch da hob Lori eine Hand.

„Bitte hör dir bitte wenigstens an, wohin der andere führt. Er wird dich zu einem Boot führen und einem Dorf auf einer Insel. Dort gibt es einen Bauernjungen, der schon bald den Hof und einiges mehr besitzen wird. Dort wartet ein Leben – “

„Nicht mein Leben“, sagte Genoveva und ging an Lori vorbei. „Und du kannst mich nicht zwingen, es zu wählen.“

„Ich zwinge niemanden“, sagte die andere Frau. „Das ist der Fluch, wenn man Teile dessen, was die Zukunft bringt, kommen sieht: nur die wahrhaft Bösen würde versuchen, für jemand anderen zu entscheiden, selbst wenn sie wissen, dass es anders besser für sie wäre.“

Genoveva schüttelte den Kopf. „Ich traue dir nicht.“

„Vertraue dem“, sagte Lori. „Wenn du Royce nachläufst, wirst du nicht finden, was du suchst. Vielleicht hättest du das einmal, aber jetzt nicht mehr, denn jemand hat seine Finger im Spiel. Du wirst nichts als Traurigkeit finden.“

Genoveva ignorierte das, was sie sagte und lief weiter auf den Pfad zu, der wie die Frau gesagt hatte zum Schloss führen würde.

„Dein Ehemann lebt“, rief Lori ihr nach. „Er hat die Schlacht überlebt und ist auf dem Weg gen Süden, um sich dem König anzuschließen.“

Genoveva ignorierte auch das. Das einzige, was sie gerade wollte, war zurück zu Royce zu gehen. Sie würde ihm erklären, warum sie vor der Schlacht ihm gegenüber hatte so hart sein müssen.

Sie lief neben dem Pferd bis sie den Waldrand erreicht hatte und in das helle Sonnenlicht jenseits des Waldes blinzelte. Die Stadt lag jetzt in sichtbarer Ferne, und Genoveva stieg wieder auf ihr Pferd und ritt mit ihm in Richtung des Schlosses.

In den Straßen konnte sie sehen, wie die Menschen versuchten nach allem, was geschehen war, wieder auf die Beine zu kommen. Sie konnte Soldaten in den Uniformen von Graf Undines Männern sehen. Es sah so aus, als packten sie für die Heimreise zusammen während einige Picti am Stadtrand herumliefen und sich offenbar bereit machten, in die Wildnis zurückzukehren.

Genovevas Herz rutschte ihr in die Hose als sie ihr Pferd durch die Stadt führte. Sie hielt es nach einer Weile an und band es an einem Posten fest, sodass die Leute sie nicht für eine feine Dame hielten, die durch die Stadt ritt. Sie wusste, was die Leute jetzt von ihr hielten, und das letzte was sie jetzt wollte war, wiedererkannt zu werden. Wenn Royce nicht hier gewesen wäre, wäre sie um keinen Preis zurückgekommen.

„Ich kenne dich oder?“ fragte eine Frau.

Genoveva zwang sich zu lächeln und zuckte mit den Schultern. „Vielleicht weil ich manchmal zum Markt hergekommen bin.“

Sie eilte davon bevor die Frau erkannte, dass es mehr als nur das gewesen war. Wie würden die Leute die behandeln, wenn sie in ihr Altfors Frau erkannten? Würden sie sie als einen auf Abwege geratenen Freund, der wieder zu ihnen zurückgefunden hatte, behandeln oder als eine Erinnerung an die Vergangenheit oder einen Feind, der beseitigt werden musste?

Genoveva hielt den Kopf gesenkt als sie über den geschäftigen Marktplatz auf das Schloss zulief.

„Sie haben die ganze Nacht zusammen getanzt“, sagte ein Mann in ihrer Nähe. „Da hat sich Royce ja ein hübsches Exemplar ausgesucht.“

„Und der Moment, in dem er ihr den Ring angeboten hat“, antwortete eine Frau.

Diese Worte reichten aus, Genoveva erstarren zu lassen und sich ihnen zuzuwenden.

„Was?“ fragte sie. „Was habt ihr da gerade gesagt? Royce hat einer Frau einen Ring angeboten?“

„Die Tochter des Grafen, Olivia. Oh, sie werden ein solch perfektes Paar sein. Sag mal, bist du nicht – “

„Ich bin ein Niemand“, sagte Genoveva und lief weiter. Sie senkte den Kopf nun nicht mehr nur, um von den Menschen um sie herum nicht erkannt zu werden, sondern auch, um den Schmerz, den sie empfand, zu verstecken.

Das durfte nicht sein. Royce war erst vor wenigen Nächten zu ihr gekommen. Niemals hätte er in solch kurzer Zeit eine andere geheiratet. Selbst als sie ihn fortgeschickt hatte, hätte er nicht einfach so all die Gefühle für sie zur Seite wischen können. Genoveva musste jetzt dringlicher denn je ins Schloss zurück, denn sie musste mit Royce sprechen und von ihm anhören, was geschehen war.

Es würde eine Erklärung geben. Die Menschen auf dem Platz mussten sich einfach geirrt haben. Sie mussten es einfach.

Als Genoveva das Schloss erreicht hatte, fand sie es offen stehend vor. Menschen kamen und gingen wie ihnen beliebte, was so ziemlich das genaue Gegenteil zu der Abschottung war, die Altfor und seine Familie hier betrieben hatten. Das bedeutete zumindest, dass Genoveva hineingehen konnte und erst anhalten musste als sie die Wachen vor den Toren erreichte.

„Ist Royce hier?“ fragte sie.

„Es tut mir leid“, sagte einer der Männer. „Heute waren einfach schon zu viele Leute hier, um den Helden anzugaffen.“

„Darum geht es mir nicht“, beharrte Genoveva. „Ist er hier? Ich muss mit ihm sprechen.“

„Und ich bin mir sicher, dass er auch mit dir sprechen würde“, sagte der andere, „aber es ist einfach gerade – “

„Wo ist Royce?“ fragte Genoveva. Ihr war egal, dass sich ihr Tonfall dabei verschärfte. „Ich muss sofort mit ihm sprechen.“

„Jetzt hör mal zu“, sagte der erste Wächter und versperrte ihr mit seinem Speer den Weg. „Wir versuchen hier gerade, dir höflich mitzuteilen, dass – “

„Ist alles in Ordnung?“ fragte die Stimme eines Mädchens. Eine junge Frau etwa in dem Alter von Genoveva tauchte hinter den Wachen auf.

„Nichts worüber Ihr Euch Sorgen machen müsstet, meine Lady“, sagte der Mann. „Irgendein Mädchen, das Royce sehen will. Wahrscheinlich die nächste, die ihm ihre Liebe gestehen will nachdem sie ihn in der Schlacht hat kämpfen sehen.“

Das Mädchen trat an ihm vorbei und wandte sich Genoveva zu. „Es tut mir leid“, sagte sie. „Royce ist nicht hier. Er ist vor zwei Tagen aufgebrochen zusammen mit seinen Brüdern.“

Genoveva wusste in diesem Moment, dass vor ihr Olivia, die Tochter Graf Undines, stand. Als würde etwas sie zwingen, wanderten ihre Augen zu den Fingern des Mädchens, wo ein Ring steckte.

Ohne es mit eigenen Augen gesehen zu haben, hätte sie es nicht geglaubt. Sie hätte nicht geglaubt, dass Royce zu so etwas im Stande gewesen wäre. Doch dieses Mädchen war genauso schön wie sie selbst und sogar schöner. Sie war offenbar gütig, das schlussfolgerte sie von der Art, mit der sie nach dem Rechten gesehen hatte. Sie war sogar die Tochter eines Grafen mit all der Macht und dem Reichtum, die damit einhergingen.

Natürlich würde Royce sie heiraten.

Dennoch hatte Genoveva Angst, ihr die Frage zu stellen.

„Hat Royce dir diesen Ring gegeben?“ fragte sie atemlos und hoffte ohne Hoffnung, dass die Antwort ein Nein sein würde.

„Das hat er“, sagte Olivia mit einem Lächeln, das sagte, wie viel er ihr bedeutete. „Ich werde seine Frau werden.“

Diese Worte brachten Genovevas Welt zum Einsturz.

Alles wofür sie gelebt hatte, war plötzlich bedeutungslos.

Royce war fort. Er gehörte jetzt einer anderen Frau.

All die Liebe, die sie für ihn noch immer empfand, wurde nicht länger erwidert.

Sie war ihm nicht länger wichtig.

Genoveva spürte, wie sie zusammenbrach, und die Welt um sie schwarz wurde. Bevor sie vollkommen das Bewusstsein verlor, hatte sie noch einen letzten Gedanken: Jetzt bin ich ganz und gar allein.