VI

Am nächsten Morgen erwachte Sally Thistlethwaite aus einem eher schlechten, aber nicht gänzlich unangenehmen Traum, dessen Leitmotiv ein Duell zwischen Teddy Wise und Paul Perry gewesen war. Sie hatten wie in einem Gangsterfilm ununterbrochen gekämpft, während das Duell mit verblüffender Geschwindigkeit den Schauplatz gewechselt hatte. In einem Moment griffen sich die beiden mit Wasserbällen an, angestachelt von einer Schar badender Schönheiten, und im nächsten waren sie weit draußen im Meer und schlugen wie wild um sich, während das Wasser die Farbe und Konsistenz von Sirup annahm. Dieses Seegefecht wurde wiederum zu einem Kampf an Land, wo Mr Perry, mit Zylinder und verschanzt hinter einer Maginot-Linie aus Konzertflügeln, Mr Wise mit Tennisbällen bewarf, die in einem Regen aus Fragebögen explodierten. Captain Wise hatte ebenfalls einen kurzen Auftritt, in der undankbaren Rolle des Schiedsrichters bei einem Ringkampf. Auch andere Charaktere trieben sich am Rande des Traums herum, insbesondere Miss Jones, die abwechselnd Verrat und Vetternwirtschaft frönte, gleich einer Göttin in einem homerischen Kampf. Die Duellanten hatten zudem proteushafte Fähigkeiten zu ihrer Verfügung, denn beide konnten sich ohne Schwierigkeiten in Mr Thistlethwaite verwandeln sowie in eine Schlange, König Edward VII , verschiedene Haustiere, den Direktor von Sallys Sekretärinnen-Schule und sogar in Sally selbst.

Da sie nicht besonders introspektiv veranlagt war, fragte Sally sich nicht, weshalb das warme Gefühl von Genugtuung andauerte, nachdem sie aufgewacht war, sondern gab sich einfach damit zufrieden, es zu genießen. Sie streckte sich auf der Sleepeesi-Matratze, die sämtliche Versprechen der Wunderland-Broschüre erfüllte, warf die Bettdecke auf den Boden und tauchte ihre Zehen in das Sonnenlicht, das durch das offene Fenster hereinschien. Wieder ein wunderbarer Tag. Die Schnitzeljagd. Selbst wenn es regnen sollte, gab es hier immer noch eine Menge zu tun. Sie war bislang weder am Schießstand gewesen, noch hatte sie Tischtennis gespielt; außerdem gab es ein Kabarett, organisiert von den weiblichen Gästen, in dem sie eine Rolle übernommen hatte.

Wenn bloß diese dummen Streiche aufhören würden. Sie waren so kindisch. Vielleicht steckte eines der Kinder im Camp dahinter oder eine ganze Bande von ihnen? Nein, natürlich nicht. Die Hände, die sie an den Fußgelenken gepackt und so grausam unter Wasser gezogen hatten, waren keine Kinderhände gewesen. Und dann war da noch das, was Daddy gestern Abend nach dem Konzert gesagt hatte. Er glaubte nicht daran, dass es sich bloß um einen Scherzbold handelte. Teddy Wise hatte angemerkt, wie seltsam es war, dass sich niemand mit Informationen gemeldet hatte, denn man sollte meinen, dass in einem Camp von fünfhundert Leuten die Gerüchteküche kochen würde. Paul Perry hatte daraufhin erwidert, das läge daran, dass hier jeder genug zu tun habe. Gerüchte seien die Freizeitgestaltung derer, die sich kein anderes Vergnügen leisten konnten. Oder irgendetwas Intellektuelles in die Richtung. Und Daddy hatte gefragt, ob dasselbe nicht auf den Verrückten Hutmacher zutraf. Niemand würde einfach so Streiche spielen wollen, wenn man hier doch so viel Spaß haben konnte. Paul meinte, das sei eine falsche Analogie – er musste einfach irgendein unmögliches Wort aus dem Lexikon benutzen. Dann wurde Daddy sehr geheimnisvoll und sagte, er habe schon eine Theorie, und er würde beweisen, dass die Streiche des Verrückten Hutmachers aus kaltblütiger Überlegung und Bösartigkeit begangen wurden. So wie er das gesagt hatte, war ihr für einen kurzen Moment das Blut in den Adern gefroren.

Wie dem auch sei, wer immer dahintersteckte hatte bislang ein ziemlich erbärmliches Schauspiel abgeliefert. Mit Untertauchen und Sirup würde er nicht besonders weit kommen, wenn er den Leuten wirklich den Urlaub verderben wollte. Natürlich hatte die Sache mit dem Klavier die Leute ordentlich verärgert. Man hatte sich hinter vorgehaltener Hand gefragt, wieso die Direktion nicht effektivere Vorsichtsmaßnahmen ergriffen hatte. Es sollte eigentlich nicht so schwer sein, jemanden zu fassen, der mit einer riesigen Dose Sirup durch die Gegend lief, meinten die Leute. Aber Teddy hatte sie alle bald wieder aufgeheitert – alle bis auf Mr Scripps. Der war fuchsteufelswild geworden, sagte, er würde am nächsten Tag abreisen und wolle sein Geld zurück und war davongestürmt. Armer Mr Scripps, er hatte so witzig ausgesehen, wie er gegen seinen Schnurrbart blies und versuchte zu singen, während das Klavier nur gluck gluck gluck von sich gab. Die Leute hatten ihn ausgelacht, und man konnte es ihnen nicht verübeln, aber Sänger sind so empfindlich, wenn auch nur die kleinste Kleinigkeit schiefläuft.

Ja, Teddy war wunderbar gewesen. Hatte die ganze Sache von der witzigen Seite betrachtete und jeden zum Lachen gebracht – auf nette Weise, nicht so, wie sie anfangs über Mr Scripps gelacht hatten. Dann hatte Teddy ein paar Gewichtheber kommen lassen, die ihm dabei halfen, das Klavier aus dem Tanzsaal zu tragen, und das Konzert war fortgesetzt worden, als ob nichts passiert wäre. Na ja, vielleicht nicht ganz. Einige der Darsteller waren angespannt gewesen und hatten sich vor dem gefürchtet, was ihnen vielleicht bevorstand – ausgerechnet dann, wenn sie an der Reihe waren. Ein Mädchen hatte ein klassisches Musikstück auf ihrer Klarinette vorgetragen, und auch wenn diese intellektuelle Musik ziemlich schrecklich war, konnte es doch nicht sein, dass sie so klingen sollte. Sie sagte, dass etwas mit dem Rohrblatt nicht stimmte, hatte schließlich die Nerven verloren, und alle waren sehr verständnisvoll gewesen. Und dann hatten die Angestellten Wunderlands mit ihrem Getuschel und Kommen und Gehen alle etwas aus der Fassung gebracht. Captain Wise hatte schließlich die Gäste gefragt, ob sie damit einverstanden wären, ihre Chalets durchsuchen zu lassen, und sie hatten abgestimmt, und alle hatten ihr Einverständnis gegeben. Natürlich mussten sie sich fügen, nachdem sie sich beschwert hatten, dass die Direktion nicht genug unternahm. Doch das Publikum hatte Schwierigkeiten, sich auf die Musik zu konzentrieren, wo sie doch nur darauf warteten, dass jeden Augenblick jemand hereinkam und verkündete, dass in einem der Chalets eine leere Dose Sirup gefunden worden war. Eigentlich konnte man sich auch nicht ganz sicher sein, dass die Dose nicht in der eigenen Unterkunft gefunden würde.

So gesehen war das Konzert ziemlich gut verlaufen. Und Teddy war ganz zweifellos wunderbar mit dem Publikum umgegangen. Schon ein sympathischer Typ, dieser Teddy. Und richtig gutaussehend. Man weiß immer, woran man bei ihm ist. Ganz im Gegensatz zu Paul Schnüffler, der so ganz anderes daherredet und einen ständig piesackt. Aber Paul hat schöne Hände. Er wäre gar nicht so unattraktiv, wenn er nicht immer so finster dreinblicken würde. Außerdem ist er irgendwie interessant, was man von Teddy nicht gerade behaupten kann. Natürlich muss Teddy darauf achten, wie er sich gibt, schließlich ist er der Verantwortliche für die Spiele hier; er muss alle Mädchen gleich behandeln, wie ein Offizier auf einem Schiff. Ich frage mich, ob Paul an mir interessiert ist. Er scheint sich oft mit dieser Sekretärin herumzutreiben. Er wird jemanden brauchen, der sich um ihn kümmert, falls das Mädchen es ernst meint. Aber sie führt ihn sowieso nur an der Nase herum; ich wette, dass sie es in Wirklichkeit auf Captain Wise abgesehen hat. Wenn man sich sein Luxusauto, die Kleidung und alles andere ansieht … Also, wenn ich nur aufs Geld aus wäre wie Esmeralda Jones, dann würde ich mich auch für ihn interessieren. Trotzdem sollte ich nicht einfach so zusehen, wie sie sich Paul krallt. Er ist so hilflos. Typ Bücherwurm. Bücher bringen dir nicht bei, wie man mit Vamps wie der Jones umzugehen hat. Komisch, dass ich von ihnen geträumt habe. Und noch komischer, wenn Paul und Teddy sich wirklich prügeln sollten. Der arme Paul hätte keine Chance. Das muss man sich mal vorstellen, sich in einem Zylinder zu prügeln, so wie in meinem Traum. Und darin war ein Zettel. Der Hut vom Verrückten Hutmacher. Alles Unsinn. Bloß ein Traum. Reiß dich zusammen, Sally. Vergiss es.

Das Mädchen griff nach dem Umschlag, er lag auf dem Boden, wo sie ihn am Abend zuvor hingeworfen hatte. Er enthielt den ersten Hinweis für die Schnitzeljagd heute Nachmittag, die folgendermaßen ablaufen würde: Jeder Mitstreiter erhielt Hinweise, die ihn zu einem bestimmten Ort führen würden, wo ein weiterer Hinweis versteckt war, der zum nächsten Ort führte, und so weiter. Alles in allem gab es sechs Hinweise, die in der Wunderland-Anlage oder der ländlichen Umgebung versteckt waren. Um zu verhindern, dass alle einfach einander hinterherliefen, und um das Feld zu Beginn zu zerstreuen, führte der erste Hinweis in verschiedene Richtungen. Sobald das erste Ziel erreicht war, konnte man sich mit einem anderen Spieler zusammentun – nicht vorher. Die Hinweise an all den verschiedenen ersten Orten führten zu einem einzigen zweiten Ziel, von dem aus alle Spieler denselben Weg nehmen würden. Sally hatte sich den ersten Hinweis am Vorabend ansehen wollen, war aber eingeschlafen, bevor sie dazu kam. Im Vorjahr war sie nur deshalb um den Sieg gebracht worden, weil ein wilder Stier auf dem Feld zwischen ihr und dem Schatz aufgetaucht war, der sich dann aber als Kuh entpuppt hatte. Sie drehte sich auf den Bauch, öffnete den Umschlag und nahm einen Bogen Papier heraus. Als sie den Hinweis las, erstarrte sie.

»Ein Einsiedler lebt im Wald,

Sein Bart ist lang und weiß,

Im Bart des alten Mannes, im Busch am Straßenrand

Versteck ich mich ganz leis.«

Sallys Blick fiel auf das offene Fenster, dessen Vorhänge leicht in der Brise wehten. Angst ließ sie frösteln, und sie zog sich ihren Morgenmantel über, zwang sich aufzustehen und zum Fenster zu gehen.

Draußen war niemand. Natürlich nicht. Nichts außer den Rhododendronbüschen und Birken hinter den Chalets – die ›grüne Umgebung‹, die zu Recht in der Wunderland-Broschüre gefeiert wurde. Es gab nichts, wovor man Angst haben musste. Die Bäume waren nachts nicht vor ihr Fenster gerückt. Sally drehte sich um und klopfte an die Tür, die ihr Zimmer von dem der Eltern trennte.

Mr Thistlethwaite saß im Bett und füllte sorgfältig den Fragebogen aus, während seine Frau ihren allmorgendlichen Tee trank. Die Szene war so normal und so vertraut, dass Sally augenblicklich ihre Zurückhaltung vergaß. Schluchzend warf sie sich auf das Bett.

»Was ist los, Kleine?«, fragte Mr Thistlethwaite verwundert. Tränenblind drückte sie ihm den Zettel mit dem Hinweis in die Hand.

»Er muss letzte Nacht in meinem Zimmer gewesen sein. Er hat den echten mitgenommen und den hier dagelassen.«

»Na, na. Was …?« Mr Thistlethwaite las den unheimlichen Reim laut vor. »Ich verstehe nicht. ›Er hat den echten mitgenommen‹?«

»Ja. Das ist der erste Hinweis für die Schnitzeljagd, begreifst du nicht? Ich meine, das sollte er sein, aber …«

»Aber was stimmt denn nicht damit, Schatz?«, fragte ihre Mutter. »Für mich hört sich das nach einem ganz normalen Hinweis an.«

»Das kann nicht sein. Versteht ihr denn nicht? Es bedeutet, dass der nächste Hinweis im Bart des Einsiedlers versteckt ist – dieser furchtbare, alte Mann, der da oben im Wald lebt und mir mit der Faust gedroht hat. Das ist doch absurd. Captain Wise oder wer auch immer sich diese Hinweise ausdenkt, würde niemals etwas im Bart des Einsiedlers verstecken und erwarten, dass er es über sich ergehen lässt, wenn die Gäste danach suchen. Das ist doch Wahnsinn.«

»Es wäre sicherlich einigermaßen geschmacklos«, erwiderte Mr Thistlethwaite und war wieder ganz er selbst.

»Na also. Falls es keiner der echten Hinweise ist, muss er geschrieben worden sein, um mir Angst einzujagen, und wurde dann in meinem Zimmer versteckt. Jeder weiß, dass ich Angst vor diesem furchtbaren, alten Einsiedler habe, und …«

»Moment.« Ihr Vater erhob gebieterisch den wurstigen Zeigefinger. »Jeder weiß? Wem hast du davon erzählt, außer deiner Mutter und mir?«

»Meine Güte! Das stimmt. Es war mir tatsächlich ein bisschen peinlich, dass ich Angst hatte. Ich habe niemandem außer Teddy davon erzählt. Oder doch? Ach genau, Paul hatte mitgehört. Er hat mich gestern Morgen damit aufgezogen, als wir baden gegangen sind.«

Ein Ausdruck von bemerkenswertem Scharfsinn trat auf Mr Thistlethwaites Gesicht. »Nicht ganz unverdächtig. Außer, natürlich, Mr Wise oder Mr Perry haben die Information an jemand Dritten weitergegeben. Mr Perry und Mr Wise. Hm. Es scheint, einer von ihnen muss der Verfasser dieses Drohbriefs sein. In welchem Fall …«

»Mr Wise und Mr Perry? Das ist doch Unsinn«, sagte Mrs Thistlethwaite. »Beide sind sehr liebenswürdige, höfliche Gentlemen. Als Nächstes willst du mir noch erzählen, einer von ihnen sei der Verrückte Hutmacher. Ich verstehe nicht, weshalb ihr so einen Wirbel macht.«

»Oh, aber Mummy, siehst du denn nicht …?«

»Mein Liebes, es ist doch wirklich offensichtlich, dass …«, riefen Sallys Eltern gleichzeitig.

»Dieser Tee ist nicht so gut wie der zu Hause, meinst du nicht, James?« Mrs Thistlethwaite schenkte sich mit mildem Ausdruck eine weitere Tasse ein.

»Was ich sagen wollte – ihr wart so aufgeregt, dass ich nicht zu Wort gekommen bin – ich wollte sagen, dass ihr viel Aufhebens um nichts macht. Zeig mir dieses Gedicht. Ja, das dachte ich mir. Ihr Mädchen lernt heutzutage anscheinend nichts Nützliches mehr in der Schule. Ihr könnt nicht kochen, ihr könnt nicht nähen. Nur noch Französisch und Wissenschaften und Pappmaché. Als ich in deinem Alter war …«

»Mutter, kannst du bitte bei der Sache bleiben?«

»Als ich in deinem Alter war – und das ist eine ganze Weile her, aber ich weiß noch einiges von dem, was ich gelernt habe –, hat man uns Botanik gelehrt. Unsere Lehrerin war eine gewisse Miss Brown. Sie sagte immer, dass Botanik eine Beschäftigung für Damen sei. Ich habe immer noch ein paar von den gepressten Blumen, die ich damals gesammelt habe. Ich glaube, ich habe auch einmal einen Preis dafür gewonnen. Aber was wollte ich sagen?«

»Du hast über deine hektischen Mädchenjahre gesprochen«, erwiderte Sally beherrscht.

»Natürlich. Also, der Bart des alten Mannes hat nichts mit einem Einsiedler zu tun. Von wegen Einsiedler! Es ist eine Pflanze, die Gemeine Waldrebe. Ihre Blüten haben vier dicke, flaumige Kelchblätter, und im Herbst verlängern sich ihre Griffel zu kleinen, weißen Bärten. Diese ganze Dichtkunst, die euch so aufgeregt hat, bedeutet nichts anderes, als dass ein Hinweis im Bart einer Pflanze am Straßenrand versteckt ist. Was ihr braucht, ist eine gehörige Dosis Riechsalz – dieser Verrückte Hutmacher hat euch ja ganz hysterisch gemacht.«

»Ähm … Ts, ts, ts … Also gut«, murmelte Mr Thistlethwaite und vermied es dabei, seine Frau anzusehen.

»Also ist das doch der richtige Hinweis?«, stieß Sally hervor. Sie hüpfte über das Bett und umarmte ihre Mutter. »Ach, ich bin so erleichtert. Ich hatte wirklich Angst. Immer schön Klassenbeste bleiben, liebste Mutter!«

»Das ist mein Magen, den du gerade trittst«, beschwerte sich Mr Thistlethwaite. Sally blickte plötzlich erschrocken drein. »Oh, ich muss ja immer noch in den Wald rauf und den Hinweis suchen. Brrrr! Ich hoffe, der alte Einsiedler ist nicht da. Ich denke, es war töricht von Captain Wise, einen Platz wie diesen auszusuchen, um den Hinweis zu verstecken. Er weiß doch, dass der Einsiedler das Camp hasst. Und er wird außer sich sein, wenn eine Horde Gäste um seinen Unterschlupf herumtrampelt … Du liebes Bisschen, wie spät es ist! Ich muss zum Sportkurs.«

Fünf Minuten später war sie in den Freizeitanlagen, etwas außer Atem, aber mit hübsch geröteten Wangen. Jeden Morgen um 8:30 Uhr wurden sie hier vom Verantwortlichen der Spiele oder einem seiner Assistenten in einer milderen Variante von physischer Ertüchtigung unterwiesen. Heute war Teddy Wise persönlich anwesend.

»Hallo, da ist ja Sally«, sagte er, als sie näherkam. »Ein Bild für die Götter.«

»In welchem Sinne?«, erwiderte Sally als Antwort auf diese altbekannte, doppeldeutige Redewendung, allerdings weniger lebhaft als sonst. Teddys Scherze hörten sich heute an wie leere Phrasen. Die hätte auch ein Lautsprecher übernehmen können. Mag ich ihn etwa nicht mehr?, fragte sie sich.

Sie nahm ihren Platz in der vorderen Reihe der kleinen Truppe ein, deren Uniform aus kurzer Hose, Brassière und Sandalen bestand. Sie folgte Teddys Übungen, leichte Bewegungen, die sich immer wiederholten, und hörte die älteren Frauen in der hinteren Reihe, deren Beweglichkeit nicht mit ihrem Eifer Schritt hielt, grunzen und protestieren. Sie machte Rumpfbeugen, behielt dabei Teddy im Auge, um im Rhythmus zu bleiben, und dachte, Er hat einen eindrucksvollen Brustkorb, genau wie Johnny Weismüller. Und seine Arme – ich wünschte, ich würde so braun. Aber er macht das ja auch den ganzen Sommer über. Muss schon komisch sein, ständig nur Spiele zu veranstalten und von allen Seiten von Frauen bewundert zu werden, ohne dabei irgendwelche Annäherungsversuche unternehmen zu dürfen – wie ein Priester. Irgendwie eine seltsame Existenz. Ich frage mich, wie er so ist, wenn er allein ist. Kurz darauf stellte sie überrascht fest, dass sie sich Teddy nicht allein vorstellen konnte.

Sie machten eine kurze Pause, Teddy gähnte und streckte sich. »Ich bin ein bisschen müde«, sagte er. »War spät gestern Abend.«

»Oh, Mr Wise, mussten Sie Wache stehen wegen dem Verrückten Hutmacher?«

»Keine Angst. Den können wir unbesorgt euch muskulösen Ladies überlassen, oder? Nein, ich musste die Hinweise für die Schatzsuche verstecken. Mondschein-Mission. Nicht so spaßig. Ich habe ein paar Stiere auf der Strecke platziert, Sally, nur um dich auf Trab zu halten. Hey, bist du in Trance gefallen? Wach auf, Sally! Was starrst du da denn an?«

Er drehte sich langsam in die Richtung, in die sie deutete. »Da ist Miss – wie heißt sie nochmal? – die Lehrerin, Miss Gardiner. Was zur Hölle trägt sie da?«

Sally kam dieser Augenblick wesentlich schlimmer vor als die Sekunden, in denen sie unter Wasser gezogen worden war. Das war viel zu plötzlich geschehen, um Angst zu haben. Der Situation jetzt war solch eine Langsamkeit zu eigen, dass sie den Horror in all seinen Nuancen zu spüren bekam. Wie die Schritte von Trauernden, die widerwillig, doch unaufhaltsam auf ein offenes Grab zugingen. Und doch, als sie später darauf zurückblickte, gab es nichts, was den Todesschreck hätte erklären könnten, der über sie gekommen war; nichts außer einer grobgliedrigen Frau, in Pullover und Tweedrock, die gleichmäßigen Schrittes aus dem morgendlichen Grün hinter den halbmondförmig angeordneten Chalets auf sie zukam und etwas im Arm hielt.

»Was zum Teufel trägt sie da?«, wiederholte Teddy schwach. Aus dieser Entfernung konnte man nichts erkennen außer einem weißen Fleck, der sich von ihrem grellorangenen Pullover abhob.

Gefasst, beinahe wie mit der anonymen tödlichen Intention eines funkferngesteuerten Panzers, bewegte sich Miss Gardiner auf sie zu. Sie hielt das Ding, ohne dabei Angst zu zeigen, doch auf eine irgendwie unnatürliche Weise. Als sie mit in der Sonne glitzerndem Kneifer näherkam, bot sie es ihnen dar wie eine Opfergabe. Es war ein Hund, ein drahthaariger Terrier, dessen Körper grässlich sichelförmig verbogen war.

»Mr Wise«, sagte sie mit unheilverkündender Stimme, »weshalb wurden keine Vorsichtsmaßnahmen ergriffen? Dieser Hund wurde vergiftet.«

»Das tut mir schrecklich leid, wirklich, aber …«

Hinter Sally ertönte ein Schrei. Eine Frau kam herbeigelaufen und nahm Miss Gardiner den Hund ab. »Das ist Bingo!«, rief sie. »Mein kleiner Hund! Sie …«, sie starrte Miss Gardiner verwirrt an, »Sie waren das! Sie haben Bingo vergiftet!«