Am nächsten Morgen nach dem Frühstück nahm Mr Thistlethwaite Paul Perry zur Seite. Sie gingen hinüber zum Bowlingrasen, wo einige ältere Gäste bereits ihre Drinks nahmen, und setzten sich auf eine erhöhte Rasenfläche. Mr Thistlethwaite war in Gedanken, hatte aber offenbar keine Eile, diese zu teilen. Die gemächlichen Bewegungen der Spieler, ihre beiläufigen Flachsereien sowie das Sonnenlicht des noch jungen Morgens – die gesamte Umgebung wie auch Mr Thistlethwaites wohlbekleidete Fülle verhießen otium cum dignitate .
»Was für eine Erleichterung, Sir, dass der Kostümball gestern Abend ohne Zwischenfälle vonstatten ging.«
»In der Tat.«
»Gut gespielt, Sir! Schöner Wurf! Wissen Sie, Mr Perry, ich sage immer, dass Bowling ein für England typisches Spiel ist, denn es erfordert absolute Geduld, gute Stimmung, Voraussicht und harmlose Rivalität. Es ist außerdem – korrigieren Sie mich, wenn ich falschliege – der einzige nationale Zeitvertreib, dem noch nicht der Makel des Berufssports anhaftet.«
»Was ist mit Polo?«
»Sir, ich sprach von demokratischem Zeitvertreib«, erwiderte Mr Thistlethwaite einigermaßen streng. »Polo ist das Spiel des reichen Mannes, auch wenn es das nicht unbedingt schlechter macht. Viele Gentlemen meiner Klientel frönen diesem Sport – hart, aber herzlich – ein wahrlich mannhaftes Spiel. Doch nicht zugänglich für die Massen und daher nicht als typisch englischer Sport zu klassifizieren. Oh nein, Sir.«
»Ich nehme an, Bowls ist beispielhaft für unseren Nationalcharakter«, bekräftigte Paul diese Schönfärberei. »Aus Vorurteilen eine Tugend machen, zum einen, und unser Ziel über Umwege erreichen: Ausländer nennen das die ›britische Scheinheiligkeit‹. Aber wir wissen es besser: Wir nennen es Bowls.«
»Sie nehmen mich auf den Arm, Sir, wie ich sehe«, gab Mr Thistlethwaite gutgelaunt zurück. »Ach ja, wer könnte in Anbetracht dieser unschuldigen Szene vermuten, dass über ihr der Schatten des Todes liegt?«
»Allerdings«, Paul sah seinen Begleiter an und bemerkte, dass dessen Gesicht tatsächlich einen eher trübsinnigen Ausdruck angenommen hatte. »Aber Sie denken doch wohl nicht wirklich, dass dieser Verrückte Hutmacher …«
»Der Todesengel schwebt vielleicht schon über uns, Sir. Wir müssen dafür sorgen, dass er sich nicht zu uns herunterschwingt.«
»Das klingt, als bräuchten wir eher ein Luftabwehrgeschütz als einen Ermittler.«
Mr Thistlethwaite tat dies mit einer freundlichen Geste ab – eine Geste, die von Albert Morley, der auf der anderen Seite des Bowlinggrüns vorbeilief, als eine feierliche Einladung missinterpretiert wurde. Er kam zu ihnen, wackelte sorgenvoll ein- oder zweimal mit dem Kopf und setzte sich ein Stück abseits ins Gras. Es war typisch für seine Unentschlossenheit, dass er sich weder nahe genug setzte, um miteinbezogen zu werden, noch weit genug weg, als dass sie ihn hätten ignorieren können.
Mr Thistlethwaite beäugte den kleinen Mann einen Moment gedankenverloren und wandte sich dann an Paul.
»Wir sprachen gerade vom Tod, Sir«, unkte er. Mr Morley zuckte zusammen und drehte seinen Kopf zur Seite wie ein scheuendes Pferd.
»Tod«, fuhr Mr Thistlethwaite fort, »der größte Demagoge, den es gibt. Hm. Nun, Sir, Sie sind in genauer Beobachtung geschult und im Vorteil, wenn es darum geht, die psychologischen Reaktionen sowie die generelle Stimmung und Moral einer Gemeinschaft abzuschätzen. Würden Sie sagen, dass es hier bei uns seit gestern eine spürbare Veränderung gegeben hat?«
»Na ja, ich glaube, dass die Leute sich der Panik, in die sie gestern Abend geraten sind, etwas schämen. Und wenn Menschen diese Art von Erleichterung und Demütigung erfahren, neigen sie dazu, ihren Ärger an jemand anderem auszulassen.«
»Ganz genau. Eine scharfsinnige Beobachtung, wenn ich das so sagen darf. Die Menschen suchen nach einem Opfer, einem Sündenbock. Bitte fahren Sie fort.«
»Es herrscht merklich mehr Zusammenhalt. Der Esprit de corps erhebt sein hässliches Haupt.«
»Ich würde es vielleicht anders formulieren, aber nichtsdestotrotz stimmt es. Die Präsenz eines Staatsfeindes in unserer Mitte, die erst leichte Verärgerung und Neugier hervorrief, dann Feindseligkeit und Verdächtigungen, hat uns nun in eine dritte Phase gebracht. Diejenigen, die am lautesten geschrien haben, dass die Campleitung etwas unternehmen solle und ihre Ineffizienz angeprangert haben, sind nun die ersten« – Mr Thistlethwaite billigte seine umgangssprachliche Formulierung mit einem gutmütigen Nicken – »die ersten, die angelaufen kommen. Nehmen wir Miss Gardiner. Captain Wise – habe ich läuten hören – kann sich kaum noch retten vor Hilfsangeboten. Abgesehen davon sieht es die Mehrheit der Gäste, die sich scharenweise hätte verabschieden beziehungsweise ausstempeln können, wie der junge Mr Wise sich ausdrücken würde, mittlerweile als eine Frage der Ehre an, hierzubleiben und sich dem Feind zu stellen. Es möge sich der hüten«, schloss Mr Thistlethwaite, »der mit dem Feuer spielt.«
»Schweifen wir nicht eher weit vom Thema Tod ab?«, fragte Paul.
Sein Begleiter verfolgte mit den Blicken eine gerade geworfene Bowls-Kugel, die perfekt ausgerichtet war, das Grün hinaufrollte, um die anderen Kugeln herum und schließlich den Jack leicht berührte und dort liegenblieb.
»Sir«, sagte er, »wie weit wir auch abschweifen, dem Tod entkommen wir nicht. Aber lassen Sie uns zum Thema zurückkehren. Meine Argumentation lässt folgenden Schluss zu: Nehmen wir einmal an, dass die Gräueltaten des Verrückten Hutmachers dazu gedacht waren, die Gäste zu demoralisieren und so dem Unternehmen Wunderland zu schaden. Dieses Ziel ist eklatant verfehlt worden, und der Übeltäter sollte dies mittlerweile auch bemerkt haben. Daher könnten wir damit rechnen, dass die Feindseligkeiten ein Ende haben, vor allem da öffentlich gemacht wurde, dass die Campleitung einen Ermittler einbestellt hat.«
»Na also, da werden alle ziemlich erleichtert sein.«
Mr Thistlethwaite hob drohend einen Finger. »Aber diese Hypothese kann auch falsch sein. Es besteht die Möglichkeit, dass diese Schandtaten letztendlich nur einer einzigen Person galten.«
»Oh, aber ich wollte noch sagen …«, protestierte Albert Morley, der vor Ungeduld angefangen hatte zu zappeln.
»Erlauben Sie mir, meinen Gedankengang weiterzuverfolgen. Nehmen wir außerdem an, dass ich ein persönliches Motiv habe, Sie umzubringen, Mr Morley …«
Albert starrte ihn an, bleich und wie gebannt vor Entsetzen.
»… oder vice versa«, schloss Mr Thistlethwaite. »Es wäre doch ein Leichtes, zufällig ausgewählten Opfern eine Reihe von Streichen zu spielen, und dann, wenn eine humorige Atmosphäre geschaffen wurde, das wirkliche Opfer anzugreifen. Nur ein weiterer Streich, allerdings einer, der unglücklicherweise zu weit ging. Geschickt getarnt, würde gar nicht erst der Verdacht aufkommen, dass es sich um vorsätzlichen Mord handelt. Was meinen Sie, Mr Morley?«
»Schon möglich. Aber die Sache mit dem Motiv … Ich meine, wie kann man je herausfinden …?«
»Genau«, sagte Paul, »unter fünfhundert Leuten diejenigen zu finden, die ein Motiv hätten, jemanden umzubringen, wäre eine Heidenarbeit.«
»Viele von ihnen können wir ausschließen, Sir. Man kann davon ausgehen, dass der Gauner seinen Plan bereits ausgearbeitet hatte, bevor er nach Wunderland kam. Das bedeutet, dass sein zukünftiges Opfer nicht jemand ist, den er erst hier kennengelernt hat, sondern eine Person, die ihm aus seinem Alltag bekannt ist.«
»Wenn wir also herausfinden könnten, welche der Gäste sich kannten, bevor sie hierherkamen, würde sich die Suche nach dem Verbrecher und seinem Opfer auf diesen Personenkreis beschränken?«
»Ganz genau. Vielleicht gehören sie zur gleichen Familie. Die meisten Morde geschehen aus Besitzgier. Angenommen X ermordet Y, um von seinem Testament zu profitieren, so ist das Motiv normalerweise nur allzu offensichtlich – die Polizei muss sich einfach bloß im Kreis der Familie umsehen. Doch ein scheinbarer Unfalltod, als Ergebnis eines misslungenen Streiches als Teil von einer ganzen Serie von Streichen und in einer großen Gemeinschaft vollzogen, würde solch ein Motiv äußerst effektiv verbergen.«
»Da haben Sie recht. Aber ich verstehe immer noch nicht, wie wir herausfinden sollen, welche der Gäste – abgesehen von jenen, welche mit ihren Familien angereist sind – auf Ihre Beschreibung passen.«
»Hier kommen Ihre eigenen Dienste ins Spiel, Mr Perry. Sie bekleiden eine semi-offizielle Position hier, was sie in die Lage versetzt, Fragen zu stellen, ohne in das Privatleben der Leute einzudringen. Außerdem wäre da noch Ihr Fragebogen, auf dem die Gäste ihre Namen und Adressen eintragen sollten. Eine Untersuchung dieser Adressen würde wenigstens vorläufige Ergebnisse liefern.«
Sie beschlossen, sofort mit der Arbeit an den Fragebögen zu beginnen, obwohl Paul insgeheim überzeugt war, dass die Ermittlungen sich dadurch nur geringfügig eingrenzen lassen würden. Mr Thistlethwaite hatte sich indes so sehr auf diese Theorie versteift, dass er einem dieser durchschnittlichen, vertrauenerweckenden Männer mit Hängebacken ähnelte, unter dessen Foto in der Zeitung man lesen konnte »Hauptkommissar …, einer der fünf Verantwortlichen der Ermittlungen«. Nur die Melone fehlte noch.
Während sie mit den Fragebögen beschäftigt waren, wurde Sally, die beim Sonnenbaden am Strand war, von einem Mann angesprochen, der sich zwanglos, wie in Wunderland üblich, zu ihr setzte. Sie lag auf dem Bauch, spielte mit den Zehen in dem weichen Sand und schenkte ihm anfangs keine große Beachtung. Er sah aus wie einer der typischen, älteren Gäste, in grauen Flanellhosen, Sakko und offenem Hemd, mit einem dieser alterslosen Gesichter, dessen Falten und graue Haare im Widerspruch zu den scharf geschnittenen Zügen und dem wachsamen Ausdruck standen. Auch seine Stimme war angenehm – tief, väterlich und irgendwie beruhigend. Später, als ihre Mutter sie nachsichtig dafür tadelte, wie sie sich ihm gegenüber verhalten hatte, konnte Sally nur erwidern, dass er einen absolut harmlosen Eindruck gemacht hatte.
Die beiden hatten sich einige Minuten unbeschwert unterhalten, bis Sally sagte, »Seien Sie so freundlich und cremen Sie mir den Rücken mit dem Sonnenöl hier ein.«
»Sie sehen nicht so aus, als würden Sie es brauchen.«
»Oh doch. Ich soll in dem Kabarett morgen eine Südsee-Schönheit spielen.«
Während der Fremde das Öl einrieb, wandte sich die Unterhaltung dem Verrückten Hutmacher zu. Er hatte nicht gewusst, dass sie das erste Opfer des Übeltäters gewesen war. Das musste eine furchtbare Erfahrung gewesen sein, so untergetaucht zu werden. Wie hatte sie sich dabei gefühlt?
Sally plapperte fröhlich weiter. Sie sprachen über die anderen Taten des Verrückten Hutmachers und welche Auswirkungen sie auf die Gäste gehabt hatten. Dann stand der Fremde auf, wischte sich die Hände an einem schmutzigen Taschentuch ab und ging davon. Als sie aufsah, um ihm für seine Hilfe zu danken, nahm sie unbewusst etwas wahr, das ihr erst später, als der Mann bereits oben auf den Klippen angekommen war, vollends klar wurde.
Er hatte keine der Identifikations-Plaketten getragen wie in Wunderland üblich. Das war es gewesen.
Aber er war keine Ausnahme. Am Strand wurde sie von vielen Leuten nicht getragen. Er war indes nicht schwimmen gewesen, hatte kein Handtuch oder Badekleidung bei sich gehabt. Jetzt mach dich nicht lächerlich. Ja, er war ein älterer, grauhaariger Mann, der mit Bedacht gesprochen hatte, doch die Stimme des Einsiedlers klang wesentlich anders – heiser, belegt. Aber man konnte seine Stimme auch verstellen. Angenommen es war der Einsiedler, der Verrückte Hutmacher gewesen. Er hat dir nichts angetan, du armer, nervöser Einfaltspinsel. Er war sehr nett und freundlich. Er hat sogar …
Sallys Blick fiel auf die Flasche mit dem Sonnenöl, die noch dort stand, wo er sie im Sand hingestellt hatte. Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt, als würde sie draußen im Meer abwechselnd durch kühlere und wärmere Strömungen schwimmen. Sie fühlte sich einer Ohnmacht nahe und beim Gedanken an das andere Mädchen mit den Blasen hätte sie schreien mögen. Blasen. Senfgas, hatte es geheißen, bis Captain Wise in einer Rede die Leute angeprangert hatte, die solch ein lächerliches Gerücht verbreiteten. Aber innerhalb weniger Stunden konnte man seine Gedanken nun einmal nicht von diesem Gerücht befreien.
Oh Gott, dachte sie und hielt die Flasche hoch in dem verzweifelten Versuch, sich daran zu erinnern, wie voll sie vorhin noch gewesen war. Oh Gott, wenn es nun was anderes war, das er mir auf den Rücken getan hat, etwas aus einer anderen Flasche?
Sie erschauderte. Sie konnte wieder seine Hand spüren, die sanft, aber beharrlich ihren Rücken eingerieben hatte, die Hand dieses furchtbaren, alten Mannes im Wald, sein Armwedeln, der Verrückte Hutmacher, der Hunde vergiftete.
Augenblicklich wappnete sie sich gegen die Panik, die in ihr aufstieg. Man rieb Leute nicht mit Senfgas ein; und wenn es Säure – Schwefelsäure oder so etwas – gewesen wäre, dann hätte sie sofort ein Brennen gespürt, und außerdem hätte er sich selbst die Hand verätzt. Aber trotzdem, es hätte immer noch der Verrückte Hutmacher sein können, den es zurück an den Schauplatz seines Verbrechens gezogen hatte. Er hatte keine Plakette getragen und angefangen über diesen Witzbold zu sprechen und das auf eine so seltsam interessierte, ja wissbegierige Weise, als ob er die Streiche nicht selbst gesehen hätte und sich an dem Bericht eines Augenzeugen ergötzen wollte.
Sally sprang auf, lief ins Wasser und schwamm hinaus zu Teddy Wise, der auf einem der Flöße saß. Atemlos erzählte sie ihm, was sich zugetragen hatte. Sofort kam Leben in seine müden Augen. Sie beeilten sich, zurück ans Ufer zu kommen, warfen sich ihre Bademäntel um die Schultern und kletterten den steilen Pfad hinauf. Sally hatte keine klare Vorstellung davon, wie sie den Unbekannten unter all den Menschen und Gebäuden in Wunderland finden sollten, aber mit Teddys riesigen Schritten mithalten zu müssen, ermutigte sie.
Als sie sich dem Hauptgebäude und den Freizeitanlagen näherten, stellten sie fest, dass es doch ein großer Unterschied war, ob man durch eine Ansammlung von Fremden rannte oder durch eine Menschenmenge in Krisenstimmung. Es war kein Durchkommen, die Gäste Wunderlands scharten sich sofort um die beiden, um Hilfe anzubieten oder Fragen zu stellen, sobald sie Teddy und Sally rennen sahen. Schließlich mussten sie einhalten, und auf Teddys Vorschlag hin beschrieb Sally den Mann vom Strand. Die Gäste schwärmten aus, um ihn zu suchen.
»Hör mal, Teddy«, sagte sie. »Falls es der Verrückte Hutmacher war und er wirklich herumläuft, um sich zu erkundigen, was die Leute von seinen Späßen halten, wird er vielleicht auch mit der Frau sprechen, deren Hund er vergiftet hat oder mit dem Mädchen mit den Blasen. Schnell! Wen sollen wir zuerst suchen?«
Sie entschieden sich für Phyllis Arnold, der der Arzt Bettruhe in ihrer Unterkunft verordnet hatte. Es war die richtige Entscheidung. Als sie sich dem Chalet näherten, sah Sally, wie der Unbekannte gerade herauskam, und sie war sofort überzeugt von seiner Schuld; denn sobald er sie gesehen hatte und noch bevor Teddy ihm zurufen konnte, er solle stehenbleiben, machte er sich auf und davon und rannte den Weg zwischen den Chalets hinunter.
»Schau nach, ob es ihr gut geht«, rief Teddy und zeigte hektisch auf Phyllis Arnolds Chalet. Sally gehorchte ihm widerwillig. Das Mädchen lag auf dem Sofa und sah elend aus, aber kein bisschen erstaunt.
»Wieso schreien alle so?«, fragte sie.
»Ach, das ist nur irgendjemand«, erwiderte Sally vage. Es würde nichts helfen, das Mädchen noch mehr zu beunruhigen.
»Sie sind ganz außer Atem, Miss.«
»Ich bin gerannt.« Trotz ihrer jungen Jahre wusste Sally instinktiv, dass die Wahrheit gelegentlich weitaus trügerischer sein kann als jede Lüge. »Ich dachte mir, ich schaue vorbei, um nachzusehen, wie es Ihnen geht.«
»Sehr freundlich von Ihnen. Nicht, dass ich krank wäre, wohlgemerkt. Nicht, was Sie als krank bezeichnen würden. Das ist alles Ansichtssache, denken Sie nicht?« Miss Arnold zog die Decke über ihre Arme. »Trotzdem sage ich immer, dass man nie weiß, wie mitfühlend die Leute sind, bis es einem schlecht geht. Man muss sich nur die Arbeiterklasse ansehen, wie dort die Leute einander helfen. So viele Leute haben sich heute Morgen nach mir erkundigt. Kurz bevor Sie gekommen sind, war ein Gentleman da – er war so freundlich –, der mich gefragt hat, wie das alles passiert ist, und meine Narben, also meine Arme, sehen wollte.«
»Haben Sie sie ihm gezeigt?«
»Ich wollte nicht, verstehen Sie, meine Liebe? Aber er war so freundlich, dass es einfach zu unhöflich gewesen wäre. Also habe ich ihn den Verband abnehmen lassen.«
»Ach ja?« Sallys Herzschlag schien einen Moment auszusetzen. »Hat er … etwas gemacht«?
»Etwas gemacht? Er war äußerst respektvoll. Ich würde einem Mann niemals erlauben, sich etwas herauszunehmen.«
»Hat er sie berührt? Die Narben?«
»Nein, er hat sie sich nur angesehen. Das war alles. Wieso?«
»Ach, nichts. Ist das da auf dem Tisch der Verband? Sollten Sie ihn nicht wieder anlegen? Lassen Sie mich das machen. Eine gute Übung in Erster Hilfe.«
»Nein, meine Liebe, aber trotzdem vielen Dank. Ich darf nicht nochmal so schwach werden. Das ist alles Ansichtssache, verstehen Sie?«
»Sie meinen, die Blasen waren gar nicht da?«
»Nicht ganz. Aber wenn ich daran glaube, dass ich gesund bin und genug Glauben habe, dann werde ich auch gesund sein.«
»Aber könnten Sie nicht den Verband wieder anlegen und das trotzdem glauben …?«
»Sie verstehen nicht, meine Liebe«, erwiderte Miss Arnold mit nervtötender Eindringlichkeit. In diesem Augenblick tauchte Teddy Wise auf, erkundigte sich nach der Kranken und nahm Sally mit nach draußen. Der Unbekannte sei ihm entwischt, sagte er, und zwischen den Bäumen hindurchgerannt, über die Steinmauer geklettert und auf einem Motorrad davongefahren. Teddy hatte das Nummernschild nicht erkennen können, und bis er sein eigenes Auto aus der Garage des Camps geholt hätte, um die Verfolgung aufzunehmen, wäre der Kerl schon über alle Berge gewesen. Sally erzählte ihm, weshalb der Fremde in Miss Arnolds Hütte gewesen war.
»Falls dieser Bursche der Einsiedler und der Verrückte Hutmacher ist«, sagte Teddy, »dann lässt sich nur schwer sagen, was er vorgehabt hat. Er hätte schon mit mehr Sirup herumrennen müssen, oder was auch immer sein nächster schmutziger Trick ist, anstatt sich mit seinen Opfern auszutauschen.«
»Aber wer hätte es sonst sein können? Warum ist er weggerannt?«
»Ich habe keinen Schimmer. Wahrscheinlich war ihm die ganze Aufregung zu viel. Weißt du irgendwas über diesen Ermittler, den dein Vater empfohlen hat?«
»Nein, keine Ahnung.«
»Für mich sind private Ermittler nichts anderes als hinterhältige Quälgeister, die gerade groß genug sind, um durch Schlüssellöcher zu spähen. Aber der hier wird wohl ein Meister seines Fachs sein – Adleraugen, Achtzylindergehirn und der ganze Zirkus. Na ja, wird er alles brauchen.«
»Ich wünschte wirklich, ich hätte eine Ahnung, was dir so im Kopf herumgeht.« Sally überraschte sich selbst mit dieser Aussage. Teddy ließ sein entwaffnend bescheidenes Lächeln aufblitzen.
»Überhaupt nichts, wenn du es genau wissen willst. Aber nicht weitersagen.«
Das war höfliche, aber bestimmte Warnung, dass sie sich auf dünnes Eis begab, wurde ihr klar. Sie war verärgert und zugleich verwundert. Sie sagte, »Für dich ist alles ein Spiel.«
»Na ja, auf etwas anderes verstehe ich mich nicht.« Er warf ihr einen defensiven Blick zu – ein wenig argwöhnisch, aber trotzdem immer noch gutgelaunt, wie ein Boxtrainer, dessen Schüler einen unerwartet schweren Treffer gelandet hat.
»Aber du kannst doch nicht dein ganzes Leben lang Spiele spielen.«
»Darüber kann ich mir immer noch Gedanken machen, wenn ich altersschwache Aufschläge serviere, ein Sportlerherz und Senkfüße habe, holde Maid.«
Sally konnte der Versuchung nicht widerstehen, seinen Panzer aus guter Laune zu durchbrechen – ihn zu hänseln hatte etwas wunderbar Verwegenes. Er war so stark und gutaussehend. Sie wünschte sich beinahe, dass er ihr endlich Grenzen aufzeigte.
»Aber du willst doch bestimmt vorwärtskommen und etwas aus dir machen«, sagte sie. »Etwas Besseres als Schlagball mit krummbeinigen Mädchen zu spielen. Du musst doch Ambitionen haben.«
»Oh, Ambitionen überlasse ich Mortimer. Ein hohes Tier in der Familie muss reichen. Aber woher diese plötzlichen Sorgen um meine Zukunft?«
»Mir fällt es schwer mitanzusehen, wenn Leute nichts aus sich machen.«
»Das Leben ist ernst oder der Ernst des Lebens, so was? Hört sich ganz danach an, als hätte dich jemand einer Gehirnwäsche unterzogen. Unser Mr Perry etwa?«
»Unsinn. Immerhin nimmt er seine Arbeit wenigstens ernst.«
»Ach, und ich etwa nicht? Der Verantwortliche für die Spiele ist die emsigste kleine Arbeiterbiene im ganzen Stock. Immer wach, immer zur Stelle, um über Schwierigkeiten hinwegzuhelfen. Der wegweisende Lichtstrahl Wunderlands. Das erinnert mich daran, dass ich heute Morgen das Tennisturnier leiten soll. Aber jetzt muss ich mich trollen und meinem Bruderherz noch von der düsteren Gestalt berichten, die wir davongejagt haben. Immer beschäftigt. Ein selbstloses Leben im Dienste der Allgemeinheit. Adieu, Sally.«
Sie musste es wohl dabei belassen. Als sie zum schwarzen Brett spazierte, um nachzusehen, um wie viel Uhr sie in dem Turnier spielen sollte, ging Sally in sich. Der Schreck, den sie diesen Morgen bekommen hatte, dazu diese unnatürliche Atmosphäre von Verunsicherung, die der Verrückte Hutmacher in Wunderland verbreitete, sorgten für Ernüchterung. Gegenwärtig konnte sie jedenfalls weder sich selbst noch andere für bare Münze nehmen. Dieser Urlaub war irgendwie merkwürdig, und er war von Anfang an merkwürdig gewesen. Von dem Moment an, als Paul Perry im Zug mit ihnen gesprochen hatte und sie mit einer Distanziertheit behandelt hatte, die ihr noch bei keinem anderen jungen Mann begegnet war. Ich könnte ihn trotzdem für mich gewinnen, dachte sie bei sich. Und ich könnte Teddy für mich gewinnen, allerdings nicht so leicht. Ich frage mich, wie dieser Nigel Strangeways wohl sein wird? Ich habe Daddy nicht einmal gefragt, ob er verheiratet ist. Ich bin nicht mehr die Alte.