Nigel wies die Fahrerin an, auf dem Rückweg bei Mr Swetenhams Hof anzuhalten. Dort angekommen, verriet er den wahren Grund für seine Anwesenheit in Wunderland und zog weitere Erkundigungen über den mysteriösen Besucher des Vorjahres ein. Der Bauer konnte ihm nur wenig weiterhelfen. Der Besucher, ein Mr Charles Black, hatte während seines Aufenthalts zweifellos den Klatsch über Ishmael und seine Auseinandersetzung mit Wunderland zu hören bekommen. Er hatte sich zwar in das Besucherbuch eingetragen, aber als Adresse nur ›London‹ angegeben. Er war ein reservierter Gentleman, erinnerte sich der Bauer, aber im Großen und Ganzen umgänglich und sehr diskret. Nigel fragte Mr Swetenham, ob er zufällig eine Fotografie von ihm habe.
»Komisch, dass Sie fragen. Meine Älteste hat einmal unbemerkt ein Foto von ihm gemacht. Als sie es ihm gezeigt hat, war er außer sich. Wollte es ihr zuerst abkaufen – auch das Negativ, glaub ich. Dann hat er halb im Spaß gedroht, es zu zerreißen, und gemeint, er wäre viel zu hässlich. Am Ende hat er sie versprechen lassen, dass sie es nicht herumzeigt. Ich schätze mal, sie hat es immer noch. Sie hatte sich ein bisschen in ihn verguckt, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.«
Nigel überredete den Bauer, ihn den Schnappschuss und das Besucherbuch mitnehmen zu lassen – er würde beides so bald wie möglich wieder zurückbringen. Bei der Unterschrift hatte der Besucher womöglich seine Handschrift verstellt, und es war nicht besonders wahrscheinlich, dass Charles Black sein richtiger Name war, aber die Aufnahme, die einen älteren, robust wirkenden, grauhaarigen Mann im Halbprofil zeigte, konnte wenigstens nicht lügen.
Zurück im Camp zeigte Nigel die Fotografie kommentarlos zuerst den Brüdern Wise und Miss Jones. Keiner von ihnen erkannte den Mann. Daraufhin fragte er Captain Wise, ob eines der konkurrierenden Urlaubscamps hinter den Vorfällen in Wunderland stecken könne. Der Direktor überlegte eine Weile, bevor er antwortete.
»Nicht unmöglich, aber sehr unwahrscheinlich«, erwiderte er schließlich. »Die Leute von Beale wetzen die Messer, das simmt. Wir haben sie ganz schön in den Sack gesteckt. Aber ich kann einfach nicht glauben, dass sie so drastische Maßnahmen ergreifen würden – sie wären ruiniert, wenn das herauskäme.«
»Ich würde heute Nachmittag gerne ihr Personal befragen, wenn es sich einrichten ließe. Jeden, der in den Gebäuden und auf dem Gelände arbeitet. Einzeln.«
»Das ist ziemlich viel verlangt. Aber wir können es arrangieren, denke ich. Sie möchten sich diesbezüglich vielleicht gleich mit Miss Jones besprechen?«
Nigel ging mit der Sekretärin in ihr Büro, das direkt neben dem Zimmer des Direktors lag. Sie holte ein riesiges Diagramm hervor, auf dem die Arbeitszeiten aller Angestellten eingetragen waren, und errechnete rasch einen Zeitplan, nach dem Nigel die Interviews führen konnte. Ihr Blick für Details war erstaunlich. Nigel fragte sich, wie Captain Wise mit der Organisation Wunderlands zurechtkommen würde, sollte sich seine talentierte Sekretärin dazu entschließen, ihn zu verlassen.
»Machen Sie all das hier gerne?«, fragte er. »Vermutlich ja, sonst wären Sie nicht so gut darin.«
»Es ist eine Arbeit … Und sie lenkt mich von anderen Dingen ab.«
»Was für andere Dinge? Oder sollte ich das lieber nicht fragen?«
Die Sekretärin verzog in humorvollem Selbstmitleid ihre vollen, roten Lippen. »Ach, das Leben hätte auch anders kommen können. Glanz von gestern. Ich bin Lysaght Jones’ Tochter.«
»Ich verstehe.« Nigel erinnerte sich an die Pleite des brillanten, unberechenbaren Finanziers vor drei oder vier Jahren und an dessen darauffolgenden Suizid.
»So clever, dass er sich am Ende den Ast abgesägt hat, auf dem er saß«, war das einmütige Urteil zu Lysaght Jones gewesen. Seine Tochter hatte scheinbar zweifellos sein Talent zur Organisation geerbt sowie eine Prise des spritzigen Humors, der wahrscheinlich stets seine Rettung gewesen war, vermutete Nigel. Jetzt war sie jedenfalls hier und arbeitete für ein Gehalt, das vor einigen Jahren wohl gerade so für einen ihrer Pelzmäntel gereicht hätte.
»Und sagen Sie jetzt bloß nicht, dass ehrliche Arbeit doch viel erhabener ist als mein früheres Schlaraffenleben«, fuhr sie fort. »Nach der Pleite musste ich ziemlich viel durchmachen, bevor ich diese Stelle bekommen habe. Alte Freunde meines Vaters hätten dem kleinen Mädchen gegen einen kleinen Entgelt liebend gerne eine Beschäftigung gefunden. Das übliche Etwas. In der einzigen Währung, die ich noch zur Verfügung hatte. Nein, es war nicht erhaben.«
»Trotzdem haben Sie es geschafft, etwas aus sich zu machen.«
»Bis dieser verdammte Verrückte Hutmacher aufgetaucht ist. Jetzt werde ich mich bald wieder nach einer neuen Arbeit umsehen müssen.«
»So schlimm ist es sicherlich auch wieder nicht.«
»Die öffentliche Aufmerksamkeit, die diese Sache erregt hat, hat uns in die Knie gezwungen, mein Freund. Sie hätten Arbuthnot – das ist der oberste Geschäftsführer – heute Morgen am Telefon hören sollen. Wir können uns von Wunderland verabschieden, und das weiß er auch. Armer Captain Wise. Ich weiß nicht, was er machen wird, wenn das Urlaubscamp untergeht. Man wird ihm mit Sicherheit keine Stelle mehr anbieten, und wovon soll er dann leben?«
Während sie sich unterhielten, legte sie die Reihenfolge fest, in der Nigel das Personal befragen sollte. Das Klappern der Schreibmaschine wurde nur von ihren Bemerkungen unterbrochen, die sie in unregelmäßigen Abständen verlauten ließ. Sie arbeitete mit einer Art unbekümmerter Geringschätzung, als ob es sie nicht weiter scherte, wenn Schreibmaschine, Listen, Akten, Büro und ganz Wunderland schon bald untergingen. Sie zog einen Bogen Papier aus der Schreibmaschine und sagte unvermittelt, »Trotzdem würde ich diesen Vogel gerne überführen, auch wenn es bereits zu spät ist. Wissen Sie irgendetwas über Initiationsriten, Nigel Strangeways?«
»Nicht besonders viel, wieso?«
»Mr Paul Perry kennt sich damit aus. Er hat mir gestern Nachmittag einen Vortrag darüber gehalten.«
Sie schwieg so unvermittelt, wie sie mit dem Reden angefangen hatte, nahm ihre Brille ab und schminkte sich die Lippen. Trotz ihres sorglosen Auftretens erwartete sie offensichtlich etwas von ihm.
»Sie meinen, diese Streiche weisen eine starke Ähnlichkeit zu jenen auf, die Jugendlichen bei Initiationsriten auf dem Kondominium Neue Hebriden von älteren Männern gespielt werden?«
»Wie ich sehe, sind Sie als Detektiv ernst zu nehmen.«
»Sie sagen mir lieber, was genau Sie im Sinn haben.«
»Ich will keine haltlosen Anschuldigungen erheben. Er scheint ein netter, junger Mann zu sein, wenn auch ein wenig zu ernst und selbstgefällig. Ist der verrückte Wissenschaftler wirklich Fakt und nicht bloß Fiktion? Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall ist er eine Art Anthropologe und besessen von seiner Arbeit. Er hatte nie das Geld oder den Einfluss, um sich einen Platz bei einer Expedition zu sichern. Würde er sich an Experimenten hier zu Hause versuchen? Ich weiß es nicht. Ich frage lediglich Sie .«
»Aber diese Streiche und die Reaktionen der Leute darauf ergeben doch sicherlich kein besonders nützliches wissenschaftliches Experiment? Und er würde sich kaum mit ihnen über Initiationsriten unterhalten, nur wenige Stunden bevor er den Leuten tote Tiere in die Betten legt.«
»Wohl wahr. Mir wäre es sowieso wesentlich lieber, wenn es jemand anderes wäre.«
»Sie haben noch etwas anderes im Sinn.«
»Na gut. Warum wollte er unbedingt den Fragebogen sehen? Die Antworten zu dem Verrückten Hutmacher? Das ist doch für seine Umfrage nicht von Wert.«
»Bloße Neugier, vielleicht.«
»Ist ein Wissenschaftler jemals bloß neugierig?«
»Interessante Auffassung. Sonst noch etwas?«
»Nichts, was man als Beweise bezeichnen könnte. Aber er hat einen schrecklich prüden Charakter. Er war tief bestürzt, als er das Kabarettkostüm seiner jungen Freundin zu sehen bekam. Und wo bitte würde ein Puritaner eher die Kontrolle verlieren, als hier, in einem Babylon der Vergnügungen? Weiß der Himmel, bei uns wird sich wirklich relativ unschuldig vergnügt – abgesehen von ein bisschen nächtlichem Hin und Her zwischen den Chalets. Aber Vergnügungen jeglicher Art reichen ja schon aus, um einen eingefleischten Puritaner zur Weißglut zu treiben.«
Nigel verabschiedete sich von Miss Jones und ging nachdenklich zu seinem Chalet zurück. Dort angekommen, schob er den Gedanken an ihre Andeutungen beiseite und schrieb einen Brief an seinen Onkel, den stellvertretenden Polizeipräsidenten Sir John Strangeways. Sir John, sein Lieblingsonkel und Vormund in seiner Jugend, war immer noch sein bester Freund. Nigels jugendliche Heldenverehrung seines Onkels war auch ausschlaggebend für seine Berufswahl gewesen. Es herrschte eine stillschweigende Übereinkunft zwischen den beiden, dass Nigel aus der Position Sir Johns keinen Profit schlagen würde, ebenso wenig bat er seinen Onkel um Rat oder Unterstützung, außer es war dringend erforderlich. Als Leiter des Dezernats für Sondereinsätze hatte Sir John bereits alle Hände voll zu tun. Allerdings gab es hin und wieder Fälle, die Nigel nicht im Alleingang weiter bearbeiten konnte, sodass Nigel die Fakten für Sir John in einem Memorandum zusammenfasste und dieser darauf basierend entschied, ob ein offizielles Einschreiten vonseiten des Staats gerechtfertigt war.
Ohne den Gong zum Mittagessen zu beachten, schrieb Nigel weiter. Eine detaillierte Beschreibung der Vorfälle war nicht notwendig, Sir John konnte alles in der Daily Post nachlesen, und außerdem bestand kaum Zweifel daran, dass die Öffentlichkeit trotz Mr Leesons höflicher Zusicherungen sehr wohl über alle Ereignisse in Wunderland auf dem Laufenden gehalten würde.
»Wie du siehst, mein lieber Onkel«, schloss er, »habe ich momentan über vierhundert Verdächtige, ganz zu schweigen von etwaigen Komplizen, was so viele mögliche Verbindungen zulässt, dass selbst Dir der Kopf davon rauchen würde. Natürlich kann man die meisten von ihnen aus guten Gründen ausschließen, aber es bleiben leider immer noch recht viele übrig. Der einzige konkrete Hinweis führt zu diesem Paul Perry, aber das Motiv, das ihm unterstellt wird, überzeugt mich nicht vollends. Dann wäre da noch der mysteriöse ›Mr Charles Black‹ – siehe beigefügte Fotografie. Haben Deine Jungs irgendwelche Informationen über ihn? Beziehungsweise kannst Du herausfinden, ob er mit einem der anderen Urlaubscamp-Unternehmen in Verbindung steht, insbesondere mit Beale, Wunderlands Hauptkonkurrenten? Eine dritte Möglichkeit ist unsere Esmeralda Jones: eine attraktive und intelligente Frau, die auf Werte und Moral keine Rücksicht nimmt, wenn ich das richtig sehe, und sich die Butter nicht vom Brot nehmen lässt, allerdings doch lieber Kaviar als Butter hätte. Kannst du mir sagen, ob einer der Geschäftsführer Wunderlands maßgeblich an der Insolvenz ihres Vaters, Lysaght Jones, beteiligt war? Rache wäre ein mögliches Motiv, wenn auch etwas weithergeholt. Aber was ist in diesem merkwürdigen Fall nicht weit hergeholt. Ich hätte außerdem gerne jegliche Informationen, die Du eventuell zu Mortimer Wise und seinem Bruder Edward hast. Sein Ruf ist untrennbar mit dem des Camps verbunden, nehme ich an, aber sicher sein kann man sich auch nicht – ich wäre daher dankbar für jede Information. Vielleicht könntest Du auch mit dem Polizeipräsidenten sprechen, mir bleibt dazu kaum Zeit, denn eine große Anzahl an Besuchern verweilt hier nur für eine Woche, und diesen Samstag werde ich mich von all diesen potenziellen Zeugen verabschieden müssen. (Nebenei bemerkt, wieso hat noch niemand etwas gesehen außer den Faits accomplis? Falls dieser Verrückte Hutmacher weiterhin den Unsichtbaren spielt und den gesegneten Urlaub in unserem schönen Land verhagelt, bleiben mir nur noch Tränen.) Dein Nigel.«
Nachdem er den Brief abgeschickt hatte, rief Nigel seinen Onkel an und lieferte ihm eine Zusammenfassung – je eher er konkrete Informationen erhalten konnte, desto besser. Sir John sicherte ihm zu, alles zu tun, was in seiner Macht stünde. Daraufhin aß Nigel eine Packung Milchschokolade und zwei Äpfel, die er aus London mitgebracht hatte. Er war niedergeschlagen, denn in seinen Augen stand er auf verlorenem Posten: Selbst wenn er nun die Identität des Übeltäters enthüllte, der Schaden war angerichtet. Der Ruf Wunderlands war unwiederbringlich ruiniert – falls man Captain Wise Glauben schenken konnte. Und er selbst war der Lösung des Problems kein bisschen nähergekommen. Tatsächlich hatte der Verrückte Hutmacher, indem er den toten Hasen so sorgfältig in Nigels Bett platziert hatte, nur die Machtlosigkeit des Detektivs demonstriert.
In der Zwischenzeit würde die übliche Arbeitsroutine das beste Heilmittel für seine Niedergeschlagenheit bieten. Die Befragung aller Angestellten Wunderlands dauerte beinahe bis fünf Uhr. Die Animateure und Animateurinnen, das Küchenpersonal und die Hausangestellten, die Tanzkapelle, die Gärtner, die Gelegenheitsarbeiter – eine schier endlose Prozession, bei der er nicht schlauer wurde.
Als der Letzte gegangen war, lehnte Nigel sich zurück, um noch einmal die Informationen durchzugehen, die er erhalten hatte. Ein hoffnungsloses Unterfangen. Der oberste Gärtner übergab ihm einen übelriechenden Sack, den er in einem der Schuppen gefunden hatte. Es handelte sich zweifellos um den Sack, in dem die toten Tiere transportiert worden waren, aber ein jeder hätte den Sack aus dem Schuppen stehlen und wieder zurücklegen können. Der Gärtner stammte aus der Gegend und konnte Nigel Details zu verschiedenen Verstecken in der Nachbarschaft schildern, sodass man die Tiere, sollten sie vom Galgen eines Wildhüters genommen worden sein, identifizieren konnte. Keine große Hilfe, dachte Nigel bei sich, denn der Verrückte Hutmacher hatte die Kadaver wahrscheinlich bei Nacht gesammelt, sie in der Nähe des Camps versteckt und auf die folgende Nacht gewartet. Immerhin untermauerte das die Theorie eines Komplizen außerhalb des Camps. Ein Angestellter oder ein Gast ging ein gewisses Risiko ein, wenn er einen Sack mit sich herumtrug – selbst nachts. Old Ishmael gehörte mit seinem Sack dagegen sozusagen ins Bild, ihm würde man keine besondere Aufmerksamkeit schenken.
Als das Licht nach der ersten Durchsage des Verrückten Hutmachers wieder angegangen war, stand das letzte Tanzpaar, das man ausschloss – Miss Jones und Paul Perry –, näher an den Mikrofonen als alle anderen, darin waren sich die Tanzkappelle und der Dirigent einig. Doch das hatte nichts zu bedeuten. War tatsächlich einer dieser beiden über die Lautsprecher zu hören gewesen, konnte man davon ausgehen, dass sich das Paar wieder von den Mikrofonen entfernte, bevor das Licht anging. Bisher hatte noch niemand ein überzeugendes Alibi für diesen Zeitpunkt liefern können, bis auf Teddy Wise und Miss Thistlethwaite, die im Scheinwerferlicht auf der anderen Seite des Saals gestanden waren. Miss Jones hatte Nigel bereits berichtet, dass sie und Paul sich in der Dunkelheit verloren hatten, nachdem sie ausgeschieden waren. Sie kamen mithin beide infrage. Aber dasselbe galt für alle Anwesenden in der Konzerthalle, ganz zu schweigen von jemandem, der eventuell durch die Seitentüren bei der Bühne hereingekommen war.
Ebenso wenig erhielt Nigel relevante Informationen über die unfreiwilligen Tauchgänge. Die Wise-Brüder sowie zwei oder drei der Angestellten waren an jenem Morgen zu verschiedenen Zeiten am Strand gewesen. Sie hatten niemanden gesehen, der den Klippenpfad hinaufgegangen oder zur Mittagszeit wieder zurückgekehrt war. Auch waren sie geteilter Meinung darüber, wer sich in nächster Nähe der Opfer befunden hatte, als diese untergetaucht worden waren.
Nachdem er jedem der Angestellten eine Reihe detaillierter Fragen gestellt hatte, erkundigte sich Nigel, ob ihnen irgendjemand bekannt sei, der einen Groll gegen das Unternehmen oder die Geschäftsführung hegte, ob ihnen zu irgendeinem Zeitpunkt ein Besucher aufgefallen war, der sich ungewöhnlich oder verdächtig verhielt, und ob sie von den Gästen etwas erfahren hatten, das nahelegte, dass einer von ihnen über die Taten Bescheid wusste. Nigel erhoffte sich Resultate von dieser letzten Frage, da die Besucher, sonst diskret, wie es sich für die Oberschicht gehörte, höchstwahrscheinlich kein Blatt vor den Mund nehmen würden, wenn es um die Angestellten ging.
Trotz alledem erfuhr er kaum etwas. Die Antworten auf die erste Frage waren einander erstaunlich ähnlich: Es gab keinen Zweifel, dass Captain Wise, wie Miss Jones schon gesagt hatte, bei dem gesamten Personal äußerst beliebt war. Laut einer der Kellnerinnen war er »ein echter Gentleman. Es macht Spaß für ihn und das Camp zu arbeiten. Er hat immer ein Ohr für unsere Beschwerden und hintergeht uns nie. Ohne ihn wäre Wunderland verloren, glaub ich. Wie ich das sehe, hat er ein höheres Gehalt verdient.« Es gab auch niemanden, der – weder offenkundig noch verhalten – einen Groll gegen das Unternehmen hegte.
Was Nigel aufhorchen ließ, war ein scheinbar irrelevanter Kommentar von einer Animateurin. »Die einzige Person hier, die Grund hat, sauer auf uns zu sein, ist dieser seltsame, kleine Kerl, Mr Morley. Alle nennen ihn Albert. Sie ziehen ihn immer wegen irgendwas auf, aber er ist so gutmütig wie …«
»›Sauer auf uns ‹ sagten Sie. Hänseln die Angestellten ihn etwa auch?«
»Oh, aber natürlich nicht, Mr Strangeways. Captain Wise würde uns gehörig die Leviten lesen. Sonntagmorgen erst hat er seinen Bruder davon abgehalten, und Teddy hat es wirklich nicht böse gemeint.«
Nigel hörte sich an, wie Albert am Strand beim Ballspielen gefoppt worden war und später, von einem anderen Zeugen, die Episode am Schießstand. Das alles bedeutete aber nicht viel, überlegte er, selbst nachdem er erfahren hatte, dass Mr Morley bei seinem ersten Urlaub im Camp letztes Jahr genauso Zielscheibe des Spotts gewesen war. Das mochte in dem kleinen Mann zwar Unmut über Teddy Wise und die anderen Gäste hervorrufen, aber Nigel ging nicht davon aus, dass jemand sich Scherze sehr zu Herzen nahm, wenn er sie gutgelaunt über sich ergehen ließ. Außerdem konnte er sich nur schwer vorstellen, dass Albert Morley auf so makabre Weise und derart massiv Vergeltung übte. Zudem erinnerte sich Nigel nun wieder, dass Albert ein Alibi für den Zeitraum vorweisen konnte, in dem die Tierkadaver ausgelegt worden waren. Mr Thistlethwaite hatte heute Morgen im Auto vergnügt erwähnt, dass Mr Morley und er sich füreinander verbürgen könnten: Sie waren beim Abendessen zusammen gesessen, danach an die Bar gegangen, während des Kabaretts nebeneinander gesessen und hatten in der Pause gemeinsam eine Zigarette geraucht.
Die Antworten auf Nigels zweite Frage ergaben null. Auch seine dritte lieferte kaum Hinweise, außer dass sowohl unter den Angestellten als auch den Gästen Wunderlands Solidarität und Gemeinschaftsgeist herrschten. Die meisten seiner Zeugen fühlten sich offensichtlich nicht wohl dabei, Klatsch weiterzugeben, der dem Camp weiteren Schaden zufügen könnte. Die einzige Ausnahme bildete der Saxofonist der Tanzkapelle, ein eher schmieriger und selbstgewisser junger Mann mit einem dünnen dunklen Schnurrbart, der kenntnisreich kommentierte, »Klatsch? Hier gibt es keinen Skandal, mein Bester, jedenfalls nicht, wenn du mich fragst. Hier mischen sich Männchen und Weibchen, und das gilt natürlich auch fürs Management, oder?«
»Ach ja?«, fragte Nigel angewidert.
»Von mir erfährst du nichts, mein Bester. Wenn Captain Wise sich ’ne kleine Süße im Camp hält, habe ich nichts dagegen. Wir leben ja nicht im Mittelalter, oder?«
»Was Süßes?«, erkundigte sich Nigel und grinste anzüglich. »Vielleicht im Büro?«
»Ich verstehe nicht – ach, jetzt. Im Büro. Esmeralda Jones. Eine gute alte Spürnase lässt sich nicht täuschen. Die beiden sind diskret, wohlgemerkt. Schreiben Sie mit, Miss Jones. Stets zu Diensten, Captain Wise. Aber Artie Foscuro können sie nicht zum Narren halten. Sie glauben nicht, was ich gesehen hab …«
»Was hat Miss Jones an Ihnen nicht gefallen?«, fragte Nigel betont kühl. »Ihre Manieren? Oder dieser ekelhafte Schnurrbart?«
»Jetzt mach mal halblang.« Arties gekünsteltes Amerikanisch verkam zu weinerlichem Cockney. »Ich will saagn …«
»Sagen Sie’s woanders. Guten Tag.«
Noch bevor der Saxofonist verschwunden war, machte Nigel sich Vorwürfe. Leute, die Zeugen gegenüber herrisch oder als Moralaposteln auftraten, waren ihm zuwider. Ich wollte doch den Gerüchten nachgehen, warum dann darauf reagieren wie ein Oberlehrer? Ein Grund dafür ist sicher, überlegte Nigel, der selten eine Gelegenheit verstreichen ließ, um mit sich ins Gericht zu gehen, dass ich zunehmend verärgert darüber bin, wie nutzlos all diese Befragungen sind, und außerdem will ich Esmeralda Jones wohl ein wenig beschützen. Und wenn ein Mann anfängt, eine Frau beschützen zu wollen, ist es höchste Zeit, dass jemand anfängt, ihn zu beschützen.
Als die Befragungen geendet hatten, beschloss Nigel, zur Selbstbestrafung Paul Perrys Notizbuch durchzulesen, in dem der gesamte Klatsch stand, den er im Camp mitgehört hatte. Die Buße musste jedoch aufgeschoben werden, denn kaum hatte er das Notizbuch geöffnet, kam ein besorgter Dr Holford herein.
»Miss Arnolds Zustand gefällt mir überhaupt nicht«, sagte er sofort. »Die Narben, die die Blasen hinterlassen haben, sind ungewöhnlich sensibel, und das dumme Mädchen gibt mittlerweile zu, dass sie gestern Morgen den Verband nicht wieder umgewickelt hat. Um ehrlich zu sein, die Wunden eitern. Und sie ist nicht besonders widerstandsfähig. Ich denke, sie sollte in ein Krankenhaus gebracht werden.«
»Ich verstehe«, sagte Nigel nach einer kurzen Pause. »Ist sie bereit, dorthin zu gehen?«
»Das ist das Problem.«
»Kann ich mich kurz mit ihr alleine unterhalten? Vielleicht kann ich sie überreden.«
»Sicherlich. Sehr freundlich von Ihnen.«
Phyllis Arnolds Gesicht war gerötet, und sie hatte offensichtlich Schmerzen, stellte Nigel bei seinem Besuch fest. Sie weigerte sich allerdings immer noch dickköpfig, dem Vorhaben des Arztes zuzustimmen.
»Es ist eine Frage des Prinzips«, sagte sie.
»Das respektieren wir. Doch sind Sie außerhalb des Camps wahrscheinlich sicherer. Unter Umständen sind Sie nämlich das eigentliche Ziel dieser furchtbaren Streiche.«
»Oh, Mr Strangeways, was meinen Sie damit?« Das Mädchen wirkte beunruhigt und zugleich befriedigt – genau die Wirkung, die Nigel hatte erzielen wollen. In ihrem Leben ergab sich nicht so oft die Gelegenheit, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen.
»Ich fürchte, mehr kann ich Ihnen nicht verraten.« (Das stimmt schon mal, dachte Nigel.) »Aber Sie würden mir einen großen Gefallen tun, wenn …«
»Dann tu ich’s. Ich sage immer, das Wohl der Gemeinschaft muss vor persönliche Bedenken gestellt werden. Sehen Sie das nicht auch so, Mr Strangeways?«
»In diesem Fall sollte das sicher so sein, denke ich. Ich würde Ihnen gerne noch ein paar Fragen stellen, und dann lasse ich Sie auch schon in Ruhe. Und bitte erzählen Sie niemandem, absolut niemandem, was ich Sie gefragt habe.«
»Ich verspreche es.« Miss Arnolds Röte rührte mittlerweile teilweise von innerer Aufregung her.
»Wusste irgendjemand im Camp – Angestellte oder Gäste –, dass Sie so auf diese Hundspetersilie reagieren oder anfällig für Blutvergiftungen sind? War das leicht in Erfahrung zu bringen? Von Ihrer Familie oder Ihrem Arbeitgeber, zum Beispiel?«
»Das kann ich mir wirklich nicht vorstellen. Nur meine Freundin Janice wusste es. Wir kannten niemanden von den anderen Besuchern, bevor wir hierhergekommen sind, wissen Sie? Janice wusste, dass ich vor zwei Jahren Blutvergif – also, was der Arzt als Blutvergiftung bezeichnete, hatte. Aber ich habe Hundspetersilie noch nie in meinem Leben angerührt. Ich interessiere mich zwar sehr für Botanik, aber ich bin dagegen, Wildblumen zu pflücken. Ich sage immer, dass man sie da lassen sollte, wo Gott sie hingepflanzt hat.«
»Ich verstehe. Na gut, können Sie sich vorstellen, dass entweder Captain Wise oder seine Sekretärin oder sein Bruder Ihnen aus irgendeinem Grund nicht wohlgesonnen sind? Lassen Sie sich von dem Gedanken nicht schockieren. Ich muss Ihnen diese Fragen stellen, und oft führen sie auch zu nichts. Denken Sie einfach darüber nach.«
»Oh nein, Mr Strangeways. Das ist unmöglich, da bin ich sicher. Ich hatte vorher noch nie einen von Ihnen gesehen …« Das Mädchen verstummte abrupt. »Also kennengelernt.«
»Ja?«, ermunterte Nigel sie.
»Ich habe sie einmal gesehen . Also Captain Wise und Miss Jones. Mein Onkel hat mich vor ein paar Monaten in ein Restaurant in Soho eingeladen. Sie haben dort zu Abend gegessen. Ich wusste natürlich nicht, wer sie sind, aber sie sind mir aufgefallen, weil Mr Leyman am nächsten Tisch saß und sich mit ihnen unterhalten hat. Er hat auch mit Urlaubscamps zu tun – Mr Leyman, meine ich. Das weiß ich, weil er einmal zu uns ins Büro gekommen ist – ich arbeite in einem Architekturbüro –, und dieser Mr Leyman kam, um sich irgendwelche Pläne anzusehen.«
»Das hört sich nicht allzu verdächtig an. Captain Wise wird kaum etwas gegen Sie haben, nur weil Sie im selben Restaurant gegessen haben.«
Miss Arnold errötete bestürzt. »Nein, das bestimmt nicht, außer … Ich hasse es, über Leute herzuziehen …«
»Keine Sorge. Man kann nicht wissen, was uns in diesen Ermittlungen von Nutzen sein wird. Haben Sie den beiden bei Ihrer Ankunft im Camp gegenüber erwähnt, dass Sie sie schon einmal gesehen hatten? Wann sind Sie überhaupt angekommen?«
»Letzten Samstag. Und das ist es ja, Mr Strangeways. Miss Jones stand auf der Terrasse, und ich habe nur gesagt, dass ich sie und Captain Wise in dem Restaurant in Soho gesehen habe und wie schön es dort ist, so exklusiv, die beste französische Küche, das kann auch nicht anders sein, da mein Onkel ein echter Feinschmecker ist, wie er immer sagt, und da ist sie ziemlich patzig geworden. Ich habe auf nichts angespielt, ich ziehe nicht über andere her, und ich habe mir überhaupt nichts dabei gedacht, aber Miss Jones hat mich so komisch angesehen und gesagt, dass Captain Wise ihr Arbeitgeber sei und dass es für Arbeitgeber und Sekretärinnen ganz normal wäre, zusammen zu essen, wenn noch Arbeit zu erledigen ist. Na ja, sie hat es nicht exakt so gesagt, aber das hat sie gemeint. Es klang wie eine Warnung, nicht zu weit zu gehen. Sie hat es zwar halb im Spaß gesagt, aber ich dachte mir, dass da mehr dahintersteckt, als …«
»Sie dachten, dass Miss Jones dachte, Sie machen Anspielungen auf eine Affäre zwischen ihr und Captain Wise?«
»Ja, Mr Strangeways. Aber das wollte ich ganz sicher nicht.«
»Das glaube ich Ihnen. An einem Ort wie diesem müssen sie zweifellos sehr gut aufpassen, dass die Geschäftsführung nicht mit einem Skandal in Verbindung gebracht wird, und daher hat sie Sie wahrscheinlich falsch verstanden. Ich bin froh, dass wir das klären konnten. Soll ich Ihre Freundin Janice bitten, Ihnen beim Packen zu helfen?«
Das bot ihm die Gelegenheit, Janice Mears ebenfalls sofort zu befragen, doch das Mädchen versicherte ihm, dass sie mit niemandem im Camp über Miss Arnolds Blutvergiftung von vor zwei Jahren gesprochen hatte, da ihre Freundin empfindlich auf dieses Thema reagierte. Damit verlief sich auch diese Spur im Sande. Selbst wenn man gewillt war, sich vorzustellen, dass Captain Wise und Miss Jones sich einer so umständlichen Strategie bedienen würden wie der Streiche des Verrückten Hutmachers, um Miss Arnold im Hinblick auf ihre Beziehung zum Schweigen zu bringen, war nun immerhin bewiesen, dass sie nicht von ihrer Allergie auf Hundspetersilie oder ihrer Neigung zu Blutvergiftung wissen konnten.
Nigel wünschte, er hätte den Schnappschuss von dem mysteriösen Mr Charles Black nicht verschickt. Phyllis Arnold hätte in ihm vielleicht Mr Leyman wiedererkannt, der »mit Urlaubscamps zu tun« und sich in dem Restaurant in Soho mit Captain Wise unterhalten hatte. Oder auch nicht, überlegte er missmutig. Die Chance stand eins zu tausend. Trotzdem, jeder Strohhalm rettet, wenn man ertrinkt. Nigel schrieb rasch an seinen Onkel und fragte ihn, ob das Foto eventuell einen gewissen Mr Leyman zeigte, der mit Urlaubscamps zu tun hatte. Captain Wise und Miss Jones hatten ausgesagt, dass sie den Mann auf dem Foto nicht kannten, aber dafür könnten sie auch private Gründe haben.
Da er überzeugter Anhänger von Überrumplungstaktiken war – wenn man damit nicht übertrieb –, ging Nigel zum Büro des Direktors, lächelte ihn und Miss Jones geistesabwesend an und fragte ohne Umschweife, »Dieser Mr Leyman ist einer Ihrer Konkurrenten?«
Die Frage verfehlte ihre Wirkung in der Tat nicht. Captain Wise erstarrte, öffnete seinen Mund, aber es kamen keine Worte heraus. Es musste das Paar geradezu übermenschliche Selbstkontrolle gekostet haben, um einander keinen Blick zuzuwerfen, ging es Nigel durch den Kopf. Beide Augenpaare waren fest auf ihn gerichtet. Als die Stille beinahe unerträglich wurde, sagte Miss Jones schließlich, »Wir sagen es ihm wohl besser, Mortimer.«
»Bist du verrückt geworden, Esmeralda?« Captain Wises Stimme brach, und es schien Miss Jones zu sein, die die Situation unter Kontrolle hatte.
»Sind Ihnen Gerüchte über Captain Wise zu Ohren gekommen?«, fragte sie kühl, die Mundwinkel ihrer rot geschminkten Lippen hatte sie halb belustigt, halb resigniert nach unten gezogen.
»Ja.« Nigel erzählte von seiner Unterhaltung mit dem Saxofonisten und Miss Arnold, wobei er betonte, dass Letztere nicht die Absicht hatte, jemandem zu nahezutreten.
»Um Ihre erste Frage zu beantworten: Mr Leyman hat mit Beale und anderen Urlaubscamps zu tun und ist daher ganz bestimmt ein Konkurrent«, fuhr Miss Jones fort. »Wir waren für einen Moment sprachlos, weil … na ja, er ist einer der Männer, von denen ich Ihnen erzählt habe, sie wollten nach dem Tod meines Vaters meine hilflose Lage als Waise ausnutzen. Wie Sie wahrscheinlich schon erraten haben, sind Mortimer und ich uns sehr zugetan. Unsere Freundschaft rührt von einem gewissen Ereignis, als er zur rechten Zeit in ein Zimmer kam, in dem Mr Leyman gerade meine hilflose Lage ausnutzen wollte.«
»Ich verstehe. War Mr Leyman nachtragend? Würde er sich aus Rache diese komischen Dinge ausdenken, die hier abgelaufen sind? Hätte er die Streiche hier spielen können?«
»Ich glaube wirklich nicht …«, begann Captain Wise, der sein inneres Gleichgewicht wiedergefunden hatte.
»Natürlich nicht! Nein, Mr Strangeways, das können Sie sich aus dem Kopf schlagen. Leyman war sehr freundlich, als wir ihm in dem Restaurant begegnet sind. Er kann bei Frauen die Hände nicht bei sich behalten, aber er ist kein wirklich schlechter Mensch oder böswillig. Und er ist mit seinen eigenen Geschäften so ausgelastet, dass ihm gar keine Zeit bleibt, eine Verleumdungskampagne gegen uns zu organisieren. Falls er Mortimer und mich ruinieren wollte, hätte er jedenfalls genug Einfluss, um das mithilfe ganz gewöhnlicher Geschäftsmethoden zu tun. Sie wissen schon, einem unserer Geschäftsführer nach einem guten Abendessen schnell etwas zuflüstern.«
»Dann darf ich davon ausgehen, dass es sich bei ihm nicht um den Gentleman auf dem Foto handelt?«
»Das dürfen Sie.« Miss Jones Augen funkelten. »Da würde der arme Tubby Leyman ganz schön die Ohren spitzen, wenn er wüsste, wie sehr Mr Strangeways versucht, ihn zu belasten!«
»Na, schön«, sagte Captain Wise, wieder ganz der effiziente Organisator, in einem Tonfall, der verriet, dass weitere leichtfertige Bemerkungen zu einem so heiligen Thema wie Geschäfte unter Männern nicht erwünscht waren, »ist das für den Augenblick alles, Strangeways?«